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Schiffbruch der "Medusa"
Sinnbild für das Scheitern der menschlichen Zivilisation

Der Untergang der französischen Fregatte Medusa im Juli 1816 wurde zu einem Skandal, der ganz Europa erregte und einen modernen Mythos schuf. 15 von 150 Seeleuten überlebten auf einem Floß, weil sie sich von Menschenfleisch ernährten. Dem jungen Maler Théodore Géricault gelang mit der Darstellung der Tragödie der Durchbruch.

Von Ulrike Rückert |
    Besucher stehen am Montag (26.03.2007) im Louvre in Paris vor dem Gemälde "Das Floß der Medusa" von Theodore Gericault.
    Das Gemälde "Das Floß der Medusa" von Theodore Gericault im Louvre in Paris (dpa/ Andreas Gebert)
    "Am 17. Juli 1816, vor sieben Uhr morgens, sichtete die Brigg Argus das Floß der Medusa", heißt es in Hans Werner Henzes Oratorium "Das Floß der Medusa". Das Stück erzählt von einer realen Schiffskatastrophe im Juli 1816: Mit rund 400 Menschen an Bord strandete die Fregatte La Méduse auf einer Sandbank vor der Küste Mauretaniens. Sie sollte Beamte, Soldaten und Siedler nach Afrika bringen, denn nach Napoleons Sturz und der Wiederherstellung der Bourbonen-Monarchie hatte Frankreich seine von den Briten besetzte Kolonie am Senegal-Fluss zurückerhalten. Weil die Beiboote nicht für alle reichten, bestiegen etwa 150 Männer und eine Frau ein improvisiertes Floß. "Das Floß stand wenigstens einen Meter unter Wasser; wir waren so aneinandergepreßt, daß keiner einen Schritt tun konnte." So beschreibt es der Schiffsarzt Henri Savigny.
    13 Tage ohne Lebensmittel auf dem Meer
    Die Boote sollten das Floß an die Küste schleppen, doch stattdessen kappte ein Offizier das Verbindungsseil. 13 Tage trieben die Menschen daraufhin hilflos auf dem Meer, ohne Lebensmittel, ohne Wasser, nur mit einigen Fässern Wein. "Am 17. Juli morgens schien der Himmel ganz heiter", berichtet Schiffsarzt Savigny. "Wir verteilten etwas von unserm Wein, als ein Offizier plötzlich ein Schiff am Horizont entdeckte und es uns mit lautem Freudengeschrei ankündigte. Indes mischte sich doch Furcht in unsere Hoffnung; einige glaubten, das Schiff sich allmählich nähern zu sehen; andere versicherten, es triebe auf offene See. Die Brigg verschwand. Aus dem Taumel der Freude versanken wir in die tiefste Niedergeschlagenheit."
    Doch das Schiff hatte sie entdeckt und kam zu ihrer Rettung. "Ich fand 15 Menschen auf diesem Floß. Diese Unglücklichen hatten sich von Menschenfleisch ernährt, und die Seile, die den Mast hielten, waren bedeckt mit Stücken dieses Fleisches, die sie zum Trocknen aufgehängt hatten." So berichtete es der Kapitän. 15 von 150. In wütenden Kämpfen hatten sich die Männer gegenseitig massakriert, viele waren ins Meer gerissen worden oder aus Verzweiflung hineingesprungen. Am Ende hatten die Stärksten die Sterbenden ins Wasser geworfen. In Frankreich entfachten die Nachrichten vom Untergang der Méduse und dem Horrorfloß einen Skandal, der das Land erschütterte.
    Symbol für die Übel der Restauration
    "All die eingebildeten Schrecken unserer Melodramen und Tragödien sind nichts, verglichen mit den wirklichen Schrecken dieser Katastrophe", schrieb eine Zeitschrift. Schuld daran war das Versagen des Kapitäns, der unter Ludwig XVI. gedient und seit der Revolution kein Schiff mehr geführt hatte. Der Marineminister hatte hunderte napoleonische Offiziere entlassen und durch aristokratische Veteranen des Ancien Régime ersetzt. Frankreich war tief zerrissen zwischen radikalen Royalisten auf der einen und Bonapartisten und Liberalen auf der anderen Seite. Die Berichte des Schiffsarztes Savigny und des Ingenieurs Alexandre Corréard wurden Bestseller, der Schiffbruch der Méduse zum Symbol für die Übel der Restauration. Er führte zum Sturz des Marineministers und zur Massenentlassung seiner Protegés.
    Théodore Géricaults Gemälde
    In der Pariser Kunstausstellung 1819 stand das Publikum schockiert vor einem monumentalen, düsteren Gemälde: Auf einem Floß in aufgewühlter See türmen sich ineinander verschlungen Menschenleiber, Tote, Lebende und zerstückelte Leichenteile. Wer noch die Kraft hat, winkt verzweifelt nach einem Schiff, winzig klein am Horizont. In der Bildsprache der heroischen Historienmalerei schilderte der junge Théodore Géricault die Szene auf dem Floß der Méduse am Morgen des 17. Juli 1816. Nichts Erhabenes, keine Heldengröße, sondern Zeitgenossen, die ihr Überleben einem skandalösen Zivilisationsbruch verdanken.
    "Was für ein abscheulicher Anblick, aber was für ein wundervolles Bild", schrieb ein Betrachter. Géricaults Bild ist heute einer der berühmtesten Schätze des Louvre. Das Floß der Medusa mit seiner Geschichte von Verrat, Gewalt, Verzweiflung und Überlebenswillen ist zum vielschichtigen Mythos geworden.