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Schlacht um Stalingrad
Ein aufwühlendes Zeitzeugnis

Heinrich Gerlach schrieb seinen großen Antikriegsroman "Durchbruch bei Stalingrad" in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager - kurz danach wurde er vom russischen Geheimdienst konfisziert. 2012 spürten die Literaturwissenschaftler Carsten Gansel und Norman Ächtler den Text im Moskauer Russischen Staatlichen Militärarchiv auf.

Von Eberhard Falcke |
    Deutsche Soldaten während der Schlacht in Stalingrad.
    Deutsche Soldaten während der Schlacht in Stalingrad. (AFP)
    Anfang November 1942 rumpelte ein Kübelwagen der deutschen Wehrmacht durch die Steppe zwischen Wolga und Don. Da der Frost die schlammigen Straßen schon gefestigt hatte, sprang der einsame Wagen in der weiten Landschaft geradezu "munter dahin". Mit diesem fast ein wenig burlesk anmutenden Bild beginnt der Roman über eine der berühmtesten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Sie wurde zum Exempel für die Hybris des Nazi-Regimes und zugleich zum grausamen Vorspiel für die Niederlage von Hitler-Deutschland. Die Stimmung der Insassen des Wagens war alles andere als unbeschwert. Sie schwankte zwischen schwachen Hoffnungen und alarmierenden Ahnungen.
    "Sie haben es wohl mächtig eilig, hier wegzukommen, was?" meinte Breuer gemütlich.
    "Ach, Herr Oberleutnant, dieses verfluchte Stalingrad!"
    "Nun, nun, Lakosch! Wir wollen froh sein, daß wir in der Stadt sitzen. Und hoffentlich bleiben wir drin! Ihr Besitz kann den Krieg entscheiden. Da darf man nach den Opfern nicht fragen, und vor allem nicht nach den persönlichen."
    Ein besonderes Bücherschicksal
    Dem Roman "Durchbruch bei Stalingrad" von Heinrich Gerlach war ein Bücherschicksal beschieden, wie es in dieser Art kaum ein zweites geben dürfte. Ganz abgesehen davon, daß sich darin einige ganz außergewöhnliche Umstände und Begebenheiten der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte widerspiegeln. Ein entscheidendes Datum in der Geschichte dieses Buches fiel auf den 14. Februar 2012. Damals hatten sich der Gießener Literaturwissenschaftler Carsten Gansel und sein Kollege Norman Ächtler zur archivalischen Detektivarbeit im Moskauer Russischen Staatlichen Militärarchiv eingefunden. Schon seit Jahren hatten sie nach einem ganz bestimmten Manuskript gefahndet.
    "Da stießen wir dann wirklich auf jenen Text, den wir gesucht hatten. In russischer Sprache nicht sofort erkennbar, war dort zu lessen: Gerlach, Heinrich: Roman "Durchbruch bei Stalingrad"! Beim Anblick des Manuskripts mussten wir daran denken, wie Heinrich Gerlach diesen dicken Wälzer im Rucksack durch verschiedene Lager geschleppt und wie einen Schatz gehütet hatte. Immerhin mehr als 600 Seiten stark. Gerlach selbst hatte es vermutlich mit Schusterzwirn zussammengeheftet."
    "Ein Buch zurück aus 70 Jahren Kriegsgefangenschaft" hat der Verlag auf den Umschlag der nun veröffentlichten Ausgabe dieser Archiventdeckung gedruckt. Obwohl das sehr nach einem knalligen Werbespruch klingt, trifft diese Etikettierung auf bestechende Weise ins Schwarze: ins Schwarze der Entstehungsgeschichte dieses Romans ebensogut wie ins Schwarze der ideologisch motivierten Machenschaften, die zur archivalischen Lagerhaft des Romans in sowjetischen Archiven geführt haben. Dieses Bücherschicksal ist von dem Geschehen, das der Roman erzählerisch verarbeitet, nicht zu trennen.
    Begebenheiten sind nah an der Wirklichkeit
    Womit wir zurück bei Oberleutnant Breuer und seinem Fahrer Lakosch wären - und damit auch bei Heinrich Gerlach, dem Autor des Romans. Breuer und Lakosch gehören zu den Protagonisten der Romanhandlung, der erste ist ein Mitglied des Offizierskorps, der andere vertritt die Perspektive des einfachen Soldaten. Und wenn es eine Figur gibt, die mit dem Autor entscheidende Gemeinsamkeiten teilt, dann ist es Breuer. Auch Heinrich Gerlach, der im Zivilleben Gymnasiallehrer war, bekleidete seit dem Sommer 1942 den Rang des Oberleutnants mit der besonderen Funktion eines Aufklärungsoffiziers im Stab der 14. Panzerdivision. Gewiß hat er in der Figur von Breuer manche seiner eigenen Erfahrungen verarbeitet. Zu dem Verhältnis von Fiktion und Fakten erklärte er in einem kurzen Nachwort:
    "Dieses Buch ist ein Roman. Dennoch ist nichts "erfunden". Alles, was die Romanhandlung an Begebenheiten schildert, war einmal Wirklichkeit. Nur mit Ort, Zeit und den beteiligten Personen ist der Verfasser nach eigenem Ermessen verfahren. Den Stoff bot ihm, was er selbst vor und in Stalingrad erlebte und was er in den drei Jahren seiner Gefangenschaft von überlebenden Stalingradern - Soldaten, Offizieren und Generalen - erfuhr."
    Gerlach fühlte sich also den faktischen Gegebenheiten entscheidend verpflichtet. Das zeigt die Tatsache, daß er Mitgefangene der Stalingradarmee in sowjetischen Gefangenenlagern befragte und sie zur kritischen Kommentierung seiner Schreibfortschritte hinzuzog. Wobei er übrigens nicht der Einzige war, der die große Niederlage unverzüglich in eine erzählerische Form brachte. Im gleichen Lager Lunjowo, wo Gerlach interniert war, befragte auch der deutsche Exilautor Theodor Plievier Offiziere der geschlagenen Hitler-Armee für seinen berühmten Roman "Stalingrad". Nur daß Plievier als emigrierter Nazi-Gegner, anders als Gerlach, keine eigene Kampferfahrung besaß, weder auf deutscher noch auf sowjetischer Seite.
    Authentischer Einblick in Erfahrungen der Stalingradkämpfer
    Gerlach dagegen hatte das, was er beschrieb, weitgehend selbst erlebt oder beobachtet, er gehörte der Erfahrungsgemeinschaft der Stalingradkämpfer an, er kannte die Stimmungsschwankungen, denen sie unterworfen und alle Nöte, denen sie ausgesetzt waren. So war er bestens mit all dem vertraut, worauf es ihm als erzählerischem Chronisten ankam: mit der Sprache von Soldaten und ihren Vorgesetzten, mit den Tonlagen und Verhaltensweisen unter dem Druck von Gefahr und Not, mit den Haltungen von Hochmut oder Gutgläubigkeit bis hin zu Verzweiflung, Verbitterung und schierer Panik.
    Im September 1942 hatte die 6. Armee unter General Friedrich Paulus Stalingrad eingenommen. Bald darauf setzte die Rote Armee zum Gegenangriff an, am 31. Januar 1943 mußten die Deutschen kapitulieren. Der kurze aber durch den Winter unendlich erschwerte Kampf um Stalingrad war also für die Wehrmachtssoldaten vor allem eine Folge von sowohl militärischen als auch menschlichen Endspielen. Und das ist auch eines der zentralen Motive von Gerlachs Roman. Zahllos sind die Szenen, in denen der Kampf mit der Aussichtslosigkeit auf allen Ebenen beleuchtet wird.
    "General Wagner, der Generalquartiermeister des Heeres, lächelte plötzlich nicht mehr. Die Armee bleibt in Stalingrad? - Jetzt noch, immer noch? Im September schon, als alle Verbindungswege noch offen waren, stand es fest, daß man dort im Winter verhungern mußte. 600 Tonnen täglich brauchte die Armee, wenn sie leben und kämpfen wollte, nicht 300, womit man sich leichtfertig begnügen wollte. Doch selbst das war niemals zu schaffen"
    Gesamtes Spektrum der Folgewirkungen
    Tatsächlich gab es für die Wehrmachtssoldaten im Kessel von Stalingrad außer den sowjetischen Streitkräften, dem russischen Winter und dem Hunger noch einen weiteren Gegner: und der saß in Berlin. Dort hatte die politische Führung, also Hitler, gegen alle militärische und logistische Vernunft entschieden, daß Stalingrad um jeden Preis gehalten werden sollte, auch um den Preis des Untergangs der 6. Armee. Später nahm man das im allgemeinen Bewußtsein oft einfach als ein Zeichen für Hitlers Wahn. Gerlachs Roman jedoch bot in dieser Hinsicht schon früh ein viel umfassenderes und differenzierteres Bild. Zwar wird auch hier Hitlers Verantwortung am oberen Ende der Befehlskette immer wieder angesprochen, von den einfachen Soldaten mal verflucht, mal mit Führergläubigkeit verklärt und von den höheren Dienstgraden teils mit sachkundigem Kopfschütteln oder hysterischem Untertanennicken quittiert. Aber darüberhinaus entfaltet Gerlach erzählerisch das gesamte Spektrum an Folgewirkungen, die sich aus dem totalitären Machtgebaren in der Berliner Reichskanzlei ergaben. Denn wenn die NS-Propaganda aus der Niederlage von Stalingrad die von Schicksalskitsch triefende Durchhalteparole "Sie starben, damit Deutschland leben kann" ableitete, dann war das nur der rhetorische Schleier über einem Versagen, das sich über den Weg von Befehl und Erfüllung von oben nach unten durch alle Ebenen forsetzte.
    "Hören Sie Dannemeister", sagte er, "die Westfront des Kessels ist zusammengebrochen. Es ist aus! Hube hat vom Führerhauptquartier als letzte Lösung den Vorschlag mitgebracht, in den Trümmern von Stalingrad eine Art von Alkazar zu bilden."
    Der Oberstleutnant warf seinen Bleistift auf den Tisch.
    "Das ist ja Wahnsinn!", schrie er. "Und die Armee macht so etwas mit? ... Wie lange will man denn noch nach der Pfeife dieses wildgewordenen Gefreiten tanzen! Das Offizierkorps, Generäle und Feldmarschälle, der ganze deutsche Generalstab läßt sich mißbrauchen von so einem hergelaufenen, unfähigen, großmäuligen Lumpen?"
    Er stierte auf die Wand und ballte die Fäuste.
    "Reißen Sie sich zusammen, Dannemeister!" fuhr ihn der Oberst an. "Ich verbitte mir in meiner Gegenwart jede Kritik an der Person des Führers, verstehen Sie?"
    Militärstrategische Fehler und ideologisch-politsche Verblendung
    Auch wenn Gerlach als Offizier so wenig wie Breuer, sein fiktives Alter Ego, zu Opposition oder Widerstand neigte, beurteilte er wie viele andere auch, die Durchhaltebefehle an die eingekesselte 6. Armee als einen militärstrategischen Fehler, der vor allem auf ideologisch-politscher Verblendung beruhte. Aus dieser Inkompetenz ergaben sich weitere Fehlentscheidungen und Selbsttäuschungen im gesamten militärischen Organisationsapparat. Es wurden Panzergeschwader zugesagt, die nie eintrafen, Nachschub an Ausrüstung und Verpflegung existierte oft nur auf dem Papier, taktische Vorstöße oder Durchbrüche wurden auf Kartentischen geplant und erwiesen sich oft nur als weitere Himmelfahrtskommandos. Das alles schildert Gerlach in seinem Roman. In treffsicheren Genreszenen aus dem Soldatenleben zeigt er, welche Folgen daraus für Geist und Körper der kämpfenden Truppe entstanden.
    "50.000 Mann", jonglierte General Schmidt weiter mit seinen imaginären Zahlen. "50.000 Mann, das gibt 80 Bataillone. 80 neue Bataillone! Die Sache muß nur richtig angepackt werden."
    Oberst v. Hermann fuhr hoch. War da nicht eben sein Name gefallen?
    "Also das werden Sie machen, Oberst v. Hermann, Sie mit ihrem Stab!"
    Der Oberst erschrak zutiefst. Er sollte dieses alberne Zahlenspiel, mit dem man sich selbst betrog, in die Wirklichkeit umsetzen?
    Natürlich liegt es nahe, Heinrich Gerlachs "Durchbruch bei Stalingrad" als Antikriegsroman anzusehen. Zweifellos wirkt ja jeder Roman, der unter Hervorhebung menschlicher Qualen und Opfer von verlorenen Schlachten und Kriegen handelt, unvermeidlich als abschreckender Appell gegen die Absurdität und Inhumanität kriegerischen Handelns nach dem Muster: die ganze Wahrheit über den Krieg kann nur als stärkstes Argument gegen den Krieg wirken. Gerlach selbst hat in den fünfziger Jahren, nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft, seinen Stalingrad-Roman in dieses Rezeptionsschema eingeordnet. Dennoch dürften zur Zeit der Niederschrift des Manuskriptes in sowjetischer Gefangenschaft andere Motive im Vordergrund gestanden haben. Denn zu diesem Zeitpunkt war es keineswegs der Krieg als solcher, der Gerlachs Empörung anfachte, sondern der falsch geführte Krieg. Am 11.1.1943, also kurz vor der Kapitulation, schreibt die Romanfigur Oberleutnant Breuer an die Ehefrau:
    "Was Du vielleicht schon geahnt hast, ist Wahrheit. Wir sind eingeschlossen. Eine Aussicht auf Rettung besteht nicht mehr. Was hier geschieht, kann ich Dir nicht in wenigen Worten schildern. Es ist ein Verbrechen. Von den Schuldigen wird unser Volk eines Tages Rechenschaft fordern."
    Verantwortlichen auf literarischem Wege den Prozess machen
    Das Verbrechen bestand im, pragmatisch ausgedrückt, katastrophalen Mismanagement der Schlacht um Stalingrad durch die politische und militärische Führung. Die Schuldigen waren Hitler und seine Gefolgsleute, die ihren politisch-ideologischen Willen unter Geringschätzung der Opfer über alles setzten und bei den Soldaten die Überzeugung weckten, daß sie von der eigenen Seite geopfert wurden. So jedenfalls sahen es viele Stalingrad-Kämpfer und das war das "Totenopfer eines Wahnsinnigen" wie es Gerlach an anderer Stelle bezeichnete. Den dafür Verantwortlichen wollte Gerlach mit seinem Stalingrad-Roman auf literarischem Wege den Prozeß machen. Ganz abgesehen davon, daß er gegen die Propaganda des Naziregimes auch der historischen Wahrheitsfindung eine Bresche schlagen wollte. Dafür sprechen jedenfalls die genauen Recherchen, Befragungen und Diskussionen, die er während der Niederschrift des Romans unter seinen Mitgefangenen im Lager Lunjowo unternahm.
    Damit begann außerdem das, was Thomas Mann in Bezug auf die Entstehungsgeschichte seines Faustus-Romans den "Roman des Romans" nannte. Geschrieben hat ihn in diesem Fall der Herausgeber Carsten Gansel - in akribischer doch gut lesbarer germanistischer Prosa. Abgedruckt ist er im Anhang des Romans in Form eines umfassend informierenden Nachworts.
    Dieser Roman des Romans behandelt weit mehr als nur die Geschichte von der Auffindung des Manuskriptes in russischen Archiven. Er führt darüberhinaus mitten hinein in eine fesselnde Episode am Schnittpunkt zwischen Kriegsende und Kaltem Krieg. Schauplatz ist zunächst das erwähnte sowjetische Kriegsgefangenenlager Lunjowo. Dort gab es erstaunlich anmutende Begegnungen zwischen den gefangen genommenen Generälen und Offizieren der 6. Armee und zahlreichen später prominenten Vertretern der kommunistischen Emigration wie Wilhelm Pieck, dem ersten Präsidenten der DDR, dem späteren Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, sowie Schriftstellern, Intellektuellen oder Journalisten wie Johannes R. Becher, Rudolf Herrnstadt, Georg Lukács und etlichen anderen. Vor allem aber traf sich eine nicht geringe Zahl der deutschen Offiziere mit der sowjetischen Führung in einer gemeinsamen Absicht, nämlich gegen Hitler vorzugehen. Die Motive allerdings waren verschieden: Die gefangenen Deutschen handelten in der Hoffnung, eine durch Hitlers Inkompetenz verursachte totale Niederlage des Deutschen Reiches und eine völlige Zerstörung der Wehrmacht zu verhindern. Den Sowjets dagegen ging es darum, den militärischen Druck auf ihr Land zu mindern, da sie vor der Eröffnung der zweiten Front im Westen durch die Amerikaner die militärische Last des Kampfes gegen Hitler allein zu tragen hatten.
    Rekonstruktion des Manuskripts durch Hypnose
    Vor diesem Hintergrund erfuhr auch Heinrich Gerlach zunächst Unterstützung von sowjetischer Seite für sein Romanprojekt. Das änderte sich, als er unter anderem auf Grund negativer Beurteilungen durch Ulbricht ein ungünstiges politische Zeugnis erhielt. Eines Tages wurde sein Roman im doppelten Boden eines Koffers gefunden und beschlagnahmt. Während zuvor Gerlachs harte Schreibweise bei der Kriegsdarstellung auf Zustimmung gestoßen war, wurde ihm nun "bürgerlicher Objektivismus" vorgeworfen.
    Als Gerlach 1950 aus der Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückkehrte, mußte er also jede Hoffnung aufgeben, sein Manuskript je zurückzuerhalten. Dennoch wollte er den Roman nicht verloren geben. Daher versuchte er, ihn sich auf andere Art zurückzuholen. Durch Hypnose konnte er die Erinnerung für eine erneute Niederschrift anstoßen und eine zweite Fassung erstellen, die unter dem veränderten Titel "Die verratene Armee" 1957 erschien und große Aufmerksamkeit erntete. Auch über diese abenteuerliche Geschichte einer Romanrekonstruktion berichtet Carsten Gansel detailliert in seinem Nachwort.
    Dort greift Gansel außerdem eine weitere Frage auf, die im Kontext einer so ausführlichen erzählerischen Darstellung deutscher Kriegführung ganz besondere Aufmerksamkeit verdient:
    "Ob und inwieweit die deutsche Wehrmacht an Verbrechen beteiligt war."
    Tatsächlich hat Gerlach auf diese Verbrechen in einer eindringlichen Szene immerhin ein Schlaglicht geworfen. Da erinnert sich der Soldat Lakosch, der im Roman geradezu als Schlüsselfigur für inneren Zwiespalt fungiert, an eine Situation, in der ein Trupp Soldaten sich anschickte, eine Gruppe Juden wegen angeblicher Partisanentätigkeit zu erschießen.
    "Lakosch schloß sich dem Zuge an. Ein ekles Gefühl stieg in seinem Halse hoch, doch zugleich packte ihn eine wilde Gier, Augenzeuge der bevorstehenden Metzelei zu sein. Unter Geschrei und Schlägen trieb man die Juden - etwa 50 mochten es sein, alles Männer mittleren Alters, schwarzbärtig, zerlumpt, armselig anzusehen - auf einen Hof, wo man sie gegen die Mauer drängte. Arbeitsmänner, Flaksoldaten, Leute von allen möglichen Einheiten, alles schob und stieß und schrie durcheinander, mit Gewehren und Pistolen fuchtelnd."
    Ein aufwühlendes literarisches Zeitzeugnis
    Als Bild von den deutschen Verbrechen in der Nußschale hat diese Szene einige Aussagekraft. Doch dann taucht ein deutscher Offizier auf, der die Schlächterei seiner Untergebenen verhindert. Diese Wendung taugt dann allerdings nicht mehr zur Verallgemeinerung und Hochrechnung auf ein Gesamtbild. Das heißt, auch Heinrich Gerlachs Roman ist weit davon entfernt, von den Verbrechen der Wehrmacht eine auch nur annähernd angemessene Vorstellung zu geben. Trotzdem ist "Durchbruch bei Stalingrad" ein aufwühlendes literarisches Zeitzeugnis. Das Buch ist fesselnd geschrieben, es lebt aus der lebendigen Anschauung und es ist durch die Bewertungen, die darin getroffen werden in Hinblick auf die Sichtweise des Autors und die Zeitsituation seiner Entstehung von größtem Interesse. Zumal der Roman des Romans aus der Feder des Herausgebers Carsten Gansel eine so erhellende und fesselnde Bereicherung darstellt, wie sie Nachworte nicht häufig zu bieten haben.
    Heinrich Gerlach: "Durchbruch bei Stalingrad".
    Herausgegeben mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel.
    Verlag Galiani Berlin 2016. 693 Seiten, 34 Euro.