Jörg Münchenberg: In der SPD rumort es gewaltig. Andrea Nahles soll jetzt auch kommissarisch den Parteivorsitz übernehmen, der frühere EU-Parlamentspräsident Martin Schulz ist deshalb politisch gesehen, muss man sagen, schon wieder Geschichte. Seine ebenfalls in der SPD aktive Schwester Doris Harst hat deshalb der Partei harsche Vorwürfe gemacht, ihr Bruder, so hat sie es in einem Interview gesagt, sei betrogen und belogen worden, er habe die "Schlangengrube Berlin völlig unterschätzt".
Einer, der das vielleicht auch beurteilen kann, ist der Abgeordnete der Linkspartei Fabio de Masi, ebenfalls aus Brüssel, aus dem EU-Parlament nach Berlin in den Bundestag gewechselt. Er kennt also die Unterschiede im politischen Betrieb zwischen der deutschen und der belgischen Hauptstadt. Herr de Masi, einen schönen guten Morgen!
Fabio de Masi: Guten Morgen, Herr Münchenberg!
Münchenberg: Ist das denn auch Ihre Beobachtung? Geht es in Berlin politisch gesehen ein bisschen härter zu als in Brüssel, als in der belgischen Hauptstadt?
de Masi: Nun, es geht durchaus etwas härter zu, weil man im Europäischen Parlament etwa als Linker mit einem schwedischen Konservativen zusammenarbeiten muss, mit dem man sich aber nie im Wahlkampf begegnen wird. Es hat schon eine andere Qualität. Ich finde aber auch, dass es jetzt falsch wäre, sozusagen den Psychologen der SPD zu spielen, sondern viele, viele Menschen – das ist das eigentliche Problem –, die fühlen sich nicht mehr wertgeschätzt von der SPD seit vielen Jahren, die Beschäftigten, die Arbeitslosen, die Rentner, und da mutet es schon etwas lustig an, wenn wir uns jetzt den ganzen Tag damit beschäftigen, ob sich Herr Gabriel oder Herr Schulz hinreichend wertgeschätzt fühlen von ihrer Partei.
"Alle Akteure haben auf eigene Rechnung gespielt"
Münchenberg: Sie wollen verständlicherweise nicht der Psychologe der SPD sein, trotzdem würde ich ganz gerne mal bei dem Unterschied bleiben zwischen Brüssel und Berlin. Es wird ja auch gesagt, Martin Schulz habe das vollkommen unterschätzt, was ihn da in Berlin erwartet. Können Sie sich das vorstellen? Schulz ist ja trotzdem auch ein Politprofi durch und durch, war lange Jahre EU-Parlamentspräsident, also er kennt ja eigentlich das Geschäft.
de Masi: Ich kann das schlecht bewerten. Ich kenne sein Netzwerk in der SPD nicht, aber was ich sagen kann, ist, dass alle Akteure in der SPD auf eigene Rechnung gespielt haben. Gabriel hat Schulz vorgeschickt, weil er dachte, der verbrennt sich und dann ist er weg, da hat er ja recht gehabt. Frau Nahles hat Schulz und Gabriel vorgeschickt und hat nun beide erledigt, und so kann man natürlich keine Politik machen.
Es muss ja darum gehen, eine soziale Wende in Deutschland zu erreichen, für Menschen, die mit steigenden Mieten konfrontiert sind, für Millionen Menschen, die von Leiharbeit, von Befristungen betroffen sind, in einem Land, wo eine nie dagewesene Vermögenskonzentration da ist, die nichts mehr mit Leistungsgerechtigkeit zu tun hat, wo die 45 reichsten Deutschen so viel besitzen wie 40 Millionen Menschen, und wenn es dann am Ende nur noch ums [unverständlich] geht, aber eben um die eigenen und nicht die einer Mehrheit der Menschen, dann wenden sich natürlich Wähler und Wählerinnen zu Recht angewidert ab.
Personal-Streit kein überzeugendes inhaltliches Angebot
Münchenberg: So, in der Tat, reiben sich viele die Augen, was da gerade in der SPD passiert. Auf der anderen Seite, Herr de Masi, tobt ja auch in der Linkspartei ein ziemlich heftiger Richtungsstreit zwischen der Parteispitze, zum Beispiel Bernd Riexinger und Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. Da gab es ja auch auf der Fraktionsklausur jetzt im letzten Oktober einen Eklat sozusagen vor laufender Kamera. Muss man nicht sagen, gibt es da nicht gewisse Parallelen auch zwischen SPD und Linkspartei?
de Masi: Nun, es wird auch in unserer Partei gestritten über den inhaltlichen Kurs. Nur bei uns standen ja auch inhaltliche Kontroversen dahinter. Bei der SPD kann ich die nicht erkennen. Ich kann bei der SPD nicht erkennen, dass grundsätzlich etwa über eine Abkehr von den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010, von den Rentenkürzungen der letzten Jahre gestritten wird, sondern es wird im Kern über Martin Schulz oder Sigmar Gabriel gestritten, und das ist natürlich kein hinreichend überzeugendes Angebot an die Wählerinnen und Wähler. Wir haben uns nun auch nicht mit Ruhm bekleckert, das ist vollkommen richtig, aber dahinter stehen natürlich auch Konflikte über die Ausrichtung unserer Partei.
Das eigentliche Drama ist, die SPD hat seit 1998 über zehn Millionen Wähler verloren, wir haben zwei Millionen dazugewonnen, aber acht Millionen – wo sind die hin. Darüber streiten wir eben auch in der Linken: Wie richten wir unsere Partei so aus, dass wir auch ein attraktives Angebot für jene sind, die eben nicht den Weg mit in eine erneute GroKo, die ja im Kern nur noch Rudis Resterampe ist, mitgehen wollen, und deswegen wollen wir auch ein attraktives politisches Angebot an all jene formulieren, die sozialdemokratische Politik in Deutschland wollen, sich aber nicht mehr von der SPD vertreten fühlen.
"Niemand sollte dem anderen in den Vorgarten pinkeln"
Münchenberg: Trotzdem, Herr de Masi, Sie sind ja sozusagen auch als Politneuling jetzt aus bundesdeutscher Sicht sozusagen in diesen Grundsatzstreit in der Linksfraktion reingeworfen worden. Wie geht man damit um? Ist man da erst mal neutral oder sucht sich dann eine Gruppe, der man sich anschließt? Also wie gehen Sie persönlich mit diesen doch ja ziemlich heftigen Spannungen innerhalb der Fraktion bei den Linken um?
de Masi: Also gegen Spannung hilft meistens etwas Entspannung. Ich versuche, meine Arbeit zu machen, meinen Job zu erledigen, die Themen, für die ich stehe, etwa Steuergerechtigkeit, der Kampf gegen die Steuertricks von großen Konzernen wie Apple, Google und Co, gegen Geldwäsche, bis hin zu Terrorfinanzierung, zur Reform der Eurozone – das sind die Themen, an denen ich arbeite, und dann bewerte ich Konflikte inhaltlich, aber ganz klar: Ich stehe loyal zu unserer Fraktionsführung, weil ich glaube, dass Parteivorsitzende und Fraktionsvorsitzende unterschiedliche Aufgaben haben.
Sahra Wagenknecht etwa ist unsere populärste Politikerin, und ich finde, man muss sie ihren Job in der Fraktion machen lassen, und die Parteivorsitzenden haben eine große Aufgabe, die Linke, die Partei weiter aufzubauen als eine Mitgliederpartei, in der sich sehr viele, auch jüngere Menschen mittlerweile einbringen, und das ist auch gut so, und ich denke, niemand sollte da dem anderen, wenn Sie mir das nachsehen, in den Vorgarten pinkeln.
Inhaltliche Neuaufstellung und "Weiter so" geht nicht
Münchenberg: Herr de Masi, Sie haben ja eben gerade auch die SPD jetzt doch ziemlich harsch kritisiert wegen der Vorgänge, die wir jetzt seit ein paar Tagen, oder seit ein paar Wochen, muss man sagen, in Berlin beobachten. Gleichzeitig hat ja die Partei angekündigt, sie will sozusagen jetzt beides hinkriegen: eine GroKo bilden, aber gleichzeitig sich auch politisch erneuern. Sie haben ja auch die schweren Wahlverluste der SPD angesprochen. Aus Ihrer Beurteilung: Kann das unter diesen Vorzeichen der SPD gelingen?
de Masi: Nein, ich glaube, absolut nicht. Wir haben das ja schon im Wahlkampf gesehen. Martin Schulz hat versucht, einen Oppositionswahlkampf zu führen, während Herr Gabriel weiter Außenminister der Regierung spielte, und man kann eben nicht halb schwanger sein. Wenn die SPD sich glaubhaft erneuern möchte, dann muss sie sich ja vor allem inhaltlich neu aufstellen, und das kann sie nicht, wenn sie gleichzeitig ein Regierungsprogramm verteidigt, das ja im Kern auf ein "Weiter so" setzt. Wir hatten in der letzten Großen Koalition ja durchaus einige Sozialreformen, die die SPD sich selber zugeschrieben hat, die Einführung des Mindestlohns et cetera. Ein solches Projekt ist jetzt noch nicht mal zu erkennen.
Münchenberg: Sagt … Herr de Masi, ich muss leider jetzt reingrätschen, weil uns läuft ein bisschen die Zeit davon. Das war der frühere Europapolitiker und jetzige Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi mit seiner Sicht auf die SPD und den politischen Alltag in Berlin. Herr de Masi, besten Dank für das Gespräch!
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