Kuss und Umarmung gelten als universelles Zeichen innigster Verbundenheit zweier Menschen. Wo Gefühle übermächtig sind und Worte versagen, senden Umarmungen stumme Signale. Wir haben, so scheint es, keine Begriffe für die überwältigendsten Augenblicke größter Freude oder Trauer, zärtlichster Zuneigung und Liebe oder höchster sinnlicher Lust. Vom Dilemma, diese dennoch ausdrücken zu müssen, handelt Mayröckers neuer Lyrikband "Von den Umarmungen".
Ihre Gedichte sind selbst poetische Umarmungen, die auf doppelte Weise ins Leere greifen. Zum einen, weil die Worte dafür fehlen, zum anderen, weil das Objekt der Umarmungen nicht anwesend ist. Wie ein von den Eltern alleingelassenes Kind aus Sehnsucht sein Stofftier umschlingt, sucht auch das vereinsamte Ich in den Gedichten nach Ersatz. In seiner Liebesnot umarmt und küsst es Körperteile oder Naturerscheinungen, manchmal Tiere, häufig Pflanzen, wie beispielsweise einen Baum in diesen Liebesversen "vom Küssen der Drossel im Mai":
(...), wir tanzen auf kleinstem
Parkett nach Charles Aznavours La Bohème, ich meine die
Pantomime des Lebens weil ich spreche nicht mehr da ist kein
Wort das ich sagen kann, die Weiden des Stadtparks haben sich
gewölbt über meine Tränen und ich umarme die Birke am zu-
gefrorenen Teich des Stadtparks, (...)
Den abwesenden Geliebten zu umarmen, heißt, die Leere zu umarmen; was letzten Endes bedeutet, den Tod zu umarmen. Doch was das lyrische Subjekt nach all seinen vergeblichen Bemühungen in den Armen hält, ist immer wieder das Leben – und der darin noch schmerzlicher fehlende Geliebte. Von "IHM" wird – wie zum Schutz vor emotional überwältigender Vergegenwärtigung – nur über den Umweg der dritten Person als "ER" oder "EJ" gesprochen. Das anonymisierte Kürzel steht für Mayröckers verstorbenen Lebensgefährten Ernst Jandl. Es wird zur rituell wiederholten poetischen Leer-Formel für die Unaussprechlichkeit und Ohnmacht gegenüber dem übermächtigen Schmerz über dessen unumkehrbaren Verlust. Paradoxerweise hat diese nur indirekt geführte Anrede, genauso wie die Umarmung der Leere, die enorme Steigerung seiner Präsenz zur Folge. Gerade die Aussparung macht den gottgleich überhöhten Unnennbaren zur zentralen, alles dominierenden Figur. Von dem die ewig Liebende trotz allem in ihren unablässigen, genauso leidenschaftlichen wie aussichtslosen poetischen Liebeserklärungen an das Leben und den Toten nicht aufhören kann zu sprechen. Obwohl sie weiß, dass all ihre Versuche "vom Umschlingen der Sperlingswand mitten im Epheu", "vom Umarmen eines Aloe-, Lorbeerbäumchens im Therapiezimmer meiner Physiotherapeutin" oder "vom Küssen der Buschwindröschen mitten im Winter" zwangsläufig zum Scheitern verurteilt sind. Weil sie den Toten weder mit Worten, noch mit theatralisch inszenierten Liebesbezeugungen je wird wiederbeleben können. Am Ende aller "Umarmungen der Leere" fällt das Subjekt unweigerlich auf sich selbst zurück. Alle verzweifelten poetischen Wiederbelebungsversuche gerinnen schließlich – wie hier beim Versuch "vom Küssen der Achselhöhle" – zu traurig-komischen Spiegelbildern der eigenen Verlassenheit:
wie sie schläft in ihren Haaren ("geborgen?" von Gerhard Rühm)
mein Körperding auf 1 Tisch 1 Schüssel mit rohem Fleisch 1
Fetzchen Leu Pfauenauge in linker oberer Ecke, der untröstliche
Tag mit Ribisel Schwarzbeeren welken Blättern und Brüdern (Schnees oder Flieders)
Die Ausdauer, mit der sich die Liebende in ihren Versen vom Umarmen, Wachküssen und Behauchen der zart aufkeimenden Natur mitten im Winter ein ums andere Gedicht dennoch vergeblich weiter abmüht, ist von herzzerreißender verzweifelter Komik. Als Szenenbilder eines poetischen Stummfilms "von den Umarmungen" demonstrieren die Gedichte unermüdlich ihre eigene Vergeblichkeit.
Mayröckers Gedichte sind absurdes tragikomisches Lyrik-Theater. Denn ihre fantastischen Inszenierungen "Von den Umarmungen" zeigen wortreich gestikulierend, wovon sie angeblich nicht sprechen können. Wieder einmal arbeitet die Autorin mit paradoxer Umkehrung: Ausgerechnet durch die Zurschaustellung ihrer Sprachnot beschwört sie um so eindrucksvoller die Macht der Sprache. Doch Mayröckers magische Lyrik-Dioramen sind noch mehr: nämlich praktische Demonstration ihrer eigenen poetischen Methode – die Umarmung als modifizierte Form der Montage.
Die Autorin bezieht sich dabei ausdrücklich auf künstlerische Ansätze wie Man Rays Fotomontagen oder Picassos kubistisch multiperspektivische Bildkompositionen. Doch die Lyrikerin entwickelt daraus ihr ganz eigenes poetisches Verfahren: eine im Gegensatz zur technophilen Montage originär naturorientierte lyrische Methode pflanzlicher Umschlingung. In Mayröckers vegetativer Poesie wachsen Subjekt und Objekt, Kunst und Natur, Sprache und Gefühl, Vernunft und Fantasie, Erinnerung und Vision, Realität und Traum, Erlebtes und Gelesenes, Leben und Schreiben buchstäblich ineinander. Ihr poetisches Projekt ist die quasi natürliche organische Auflösung scheinbar unüberbrückbarer Grenzen; zuletzt sogar der absolutesten zwischen Leben und Tod. Ziel von Mayröckers Schlingpflanzen-Poesie ist die Umarmung des Todes als Beschwörung zyklischen Neubeginns. Ihre Poetik der Umarmungen und ihre einzigartigen naturmagischen, genuin femininen lyrischen Bildwelten sind Mayröckers buchstäblich fruchtbare literarische Antwort auf das eher destruktiv-technische Moment der traditionell männlich dominierten künstlerischen Montage. Mit ihren organisch ineinanderwachsenden, poetisch nachhaltigen, sozusagen öko-lyrischen Gedichten "Von den Umarmungen" setzt Friederike Mayröcker wieder einmal Maßstäbe. Und bestätigt damit einmal mehr, was die bescheidene Dichterin schon lange war, bevor sie es sich zu sein wünschte: eine unverwechselbare, unüberhörbare poetische Stimme.
Literaturhinweis:
Friederike Mayröcker: Von den Umarmungen. Gedichte. Insel Verlag 2012. 47 Seiten, 10,95 EUR.
Ihre Gedichte sind selbst poetische Umarmungen, die auf doppelte Weise ins Leere greifen. Zum einen, weil die Worte dafür fehlen, zum anderen, weil das Objekt der Umarmungen nicht anwesend ist. Wie ein von den Eltern alleingelassenes Kind aus Sehnsucht sein Stofftier umschlingt, sucht auch das vereinsamte Ich in den Gedichten nach Ersatz. In seiner Liebesnot umarmt und küsst es Körperteile oder Naturerscheinungen, manchmal Tiere, häufig Pflanzen, wie beispielsweise einen Baum in diesen Liebesversen "vom Küssen der Drossel im Mai":
(...), wir tanzen auf kleinstem
Parkett nach Charles Aznavours La Bohème, ich meine die
Pantomime des Lebens weil ich spreche nicht mehr da ist kein
Wort das ich sagen kann, die Weiden des Stadtparks haben sich
gewölbt über meine Tränen und ich umarme die Birke am zu-
gefrorenen Teich des Stadtparks, (...)
Den abwesenden Geliebten zu umarmen, heißt, die Leere zu umarmen; was letzten Endes bedeutet, den Tod zu umarmen. Doch was das lyrische Subjekt nach all seinen vergeblichen Bemühungen in den Armen hält, ist immer wieder das Leben – und der darin noch schmerzlicher fehlende Geliebte. Von "IHM" wird – wie zum Schutz vor emotional überwältigender Vergegenwärtigung – nur über den Umweg der dritten Person als "ER" oder "EJ" gesprochen. Das anonymisierte Kürzel steht für Mayröckers verstorbenen Lebensgefährten Ernst Jandl. Es wird zur rituell wiederholten poetischen Leer-Formel für die Unaussprechlichkeit und Ohnmacht gegenüber dem übermächtigen Schmerz über dessen unumkehrbaren Verlust. Paradoxerweise hat diese nur indirekt geführte Anrede, genauso wie die Umarmung der Leere, die enorme Steigerung seiner Präsenz zur Folge. Gerade die Aussparung macht den gottgleich überhöhten Unnennbaren zur zentralen, alles dominierenden Figur. Von dem die ewig Liebende trotz allem in ihren unablässigen, genauso leidenschaftlichen wie aussichtslosen poetischen Liebeserklärungen an das Leben und den Toten nicht aufhören kann zu sprechen. Obwohl sie weiß, dass all ihre Versuche "vom Umschlingen der Sperlingswand mitten im Epheu", "vom Umarmen eines Aloe-, Lorbeerbäumchens im Therapiezimmer meiner Physiotherapeutin" oder "vom Küssen der Buschwindröschen mitten im Winter" zwangsläufig zum Scheitern verurteilt sind. Weil sie den Toten weder mit Worten, noch mit theatralisch inszenierten Liebesbezeugungen je wird wiederbeleben können. Am Ende aller "Umarmungen der Leere" fällt das Subjekt unweigerlich auf sich selbst zurück. Alle verzweifelten poetischen Wiederbelebungsversuche gerinnen schließlich – wie hier beim Versuch "vom Küssen der Achselhöhle" – zu traurig-komischen Spiegelbildern der eigenen Verlassenheit:
wie sie schläft in ihren Haaren ("geborgen?" von Gerhard Rühm)
mein Körperding auf 1 Tisch 1 Schüssel mit rohem Fleisch 1
Fetzchen Leu Pfauenauge in linker oberer Ecke, der untröstliche
Tag mit Ribisel Schwarzbeeren welken Blättern und Brüdern (Schnees oder Flieders)
Die Ausdauer, mit der sich die Liebende in ihren Versen vom Umarmen, Wachküssen und Behauchen der zart aufkeimenden Natur mitten im Winter ein ums andere Gedicht dennoch vergeblich weiter abmüht, ist von herzzerreißender verzweifelter Komik. Als Szenenbilder eines poetischen Stummfilms "von den Umarmungen" demonstrieren die Gedichte unermüdlich ihre eigene Vergeblichkeit.
Mayröckers Gedichte sind absurdes tragikomisches Lyrik-Theater. Denn ihre fantastischen Inszenierungen "Von den Umarmungen" zeigen wortreich gestikulierend, wovon sie angeblich nicht sprechen können. Wieder einmal arbeitet die Autorin mit paradoxer Umkehrung: Ausgerechnet durch die Zurschaustellung ihrer Sprachnot beschwört sie um so eindrucksvoller die Macht der Sprache. Doch Mayröckers magische Lyrik-Dioramen sind noch mehr: nämlich praktische Demonstration ihrer eigenen poetischen Methode – die Umarmung als modifizierte Form der Montage.
Die Autorin bezieht sich dabei ausdrücklich auf künstlerische Ansätze wie Man Rays Fotomontagen oder Picassos kubistisch multiperspektivische Bildkompositionen. Doch die Lyrikerin entwickelt daraus ihr ganz eigenes poetisches Verfahren: eine im Gegensatz zur technophilen Montage originär naturorientierte lyrische Methode pflanzlicher Umschlingung. In Mayröckers vegetativer Poesie wachsen Subjekt und Objekt, Kunst und Natur, Sprache und Gefühl, Vernunft und Fantasie, Erinnerung und Vision, Realität und Traum, Erlebtes und Gelesenes, Leben und Schreiben buchstäblich ineinander. Ihr poetisches Projekt ist die quasi natürliche organische Auflösung scheinbar unüberbrückbarer Grenzen; zuletzt sogar der absolutesten zwischen Leben und Tod. Ziel von Mayröckers Schlingpflanzen-Poesie ist die Umarmung des Todes als Beschwörung zyklischen Neubeginns. Ihre Poetik der Umarmungen und ihre einzigartigen naturmagischen, genuin femininen lyrischen Bildwelten sind Mayröckers buchstäblich fruchtbare literarische Antwort auf das eher destruktiv-technische Moment der traditionell männlich dominierten künstlerischen Montage. Mit ihren organisch ineinanderwachsenden, poetisch nachhaltigen, sozusagen öko-lyrischen Gedichten "Von den Umarmungen" setzt Friederike Mayröcker wieder einmal Maßstäbe. Und bestätigt damit einmal mehr, was die bescheidene Dichterin schon lange war, bevor sie es sich zu sein wünschte: eine unverwechselbare, unüberhörbare poetische Stimme.
Literaturhinweis:
Friederike Mayröcker: Von den Umarmungen. Gedichte. Insel Verlag 2012. 47 Seiten, 10,95 EUR.