Archiv


Schlüpfrige Effekthascherei und geistvolle Geschwätzigkeit

Martin Amis gilt als einer der originellsten Stilisten der britischen Gegenwartsliteratur. In "Die schwangere Witwe" hat er nun die sexuelle Revolution des vergangenen Jahrhunderts fiktional bearbeitet. Doch im Roman bleibt die sexuelle Befreiung gefesselt und häufig stagniert der Erzählfluss.

Von Eberhard Falcke | 07.01.2013
    Inzwischen ist sie in sagenumwobene historische Fernen entrückt: die berühmte sexuelle Revolution, die damals im vergangenen Jahrhundert die Betten und Moralvorstellungen zum Wackeln brachte. Martin Amis, Jahrgang 1949, hat sie miterlebt, und wie er in seiner Autobiografie "Die Hauptsachen" durchblicken ließ, war das für ihn kein reines Vergnügen.

    In seinem Roman "Die schwangere Witwe" hat er das Thema nun noch einmal fiktional durchgearbeitet, was als durchaus vielversprechendes Unternehmen erscheint. Schließlich gilt Martin Amis als einer der besonders kühnen und originellen Stilisten der britischen Gegenwartsliteratur, der das Schreiben stets auch als Wettlauf um Einfallsreichtum und Brillanz praktiziert. Und gleich mit den ersten Sätzen macht er klar, dass es hier nicht um possierliche Jugenderinnerungen gehen soll, sondern um lebensprägende Irrungen und Wirrungen.

    Das ist die Geschichte eines sexuellen Traumas. Er war in keinem zarten Alter, als ihm das alles widerfuhr. Er war in jeder Hinsicht erwachsen; und es geschah mit seinem Einverständnis - mit seinem völligen Einverständnis. Es war das Gegenteil einer Tortur, und doch verdrehte es ihn. Es verdarb ihn für fünfundzwanzig Jahre.

    Er - das ist Keith, der in doppelter Gestalt durch den Roman wandelt: einmal als der junge Mann von damals, zum anderen als der gereifte Held, der Jahrzehnte später auf seine verkorkste erotische Biografie zurückblickt und als Erzählerstimme fungiert.

    Dabei hatte alles begonnen mit einem Bilderbuchsommer wie aus den Filmen von Eric Rohmer. Ein Haufen junger Leute machte Ferien auf einem italienischen Schloss, jede und jeder dampfte vor erotischer Neugierde, ein paar reiche Lüstlinge waren ebenfalls dabei.

    Jetzt war der Sommer 1970, und der Geschlechtsverkehr hatte große Fortschritte gemacht.

    Eine vielversprechende Konstellation also für die Experimente und Vorstöße der sexuellen Befreiung. Und natürlich war dabei nicht einmal der Sex das Allerwichtigste - denn den gab es ja vorher auch schon -, sondern das Reden darüber, das wahrhaft neu war. Wie bei jeder Revolution spielte das Reden auch bei der sexuellen eine Hauptrolle, das unverblümte, ausschweifende Palavern, Behaupten und Räsonnieren genauso wie die Präsentation sexueller Taten und Attribute in der Öffentlichkeit.

    In der Welt von Männern und Frauen bebte es, eine Revolution war im Gange, Geschlechtsakt und Gefühle wurden einer Umwertung unterzogen. … Neue Regeln - und neue und unheimliche Möglichkeiten, alles falsch zu verstehen.

    Da wollte keiner zu den "Verklemmten" gehören und Keith zuallerletzt. Allmählich jedoch wird deutlich, dass hinter dem schönen Versprechen sexueller Befreiung neue Zwänge von Konkurrenz und körperlicher Leistungskraft lauern. Dass Keith die perfekt gebaute Schönheitsgöttin Scheherezade nicht bekommt, sondern stattdessen Gloria, die tatkräftige Aktivistin der sexuellen Praxis, macht ihm noch lange zu schaffen, ebenso wie andere Fehlschläge.

    Die Wunde, die er sich in dem italienischen Schloss zuzog, war das sinnliche Gegenstück zur Tortur: ihre Zangen der Lust. Und was blieb danach übrig? Ihre Handfesseln, ihre Brandeisen.

    Zweifellos, dieser Roman bietet wieder ein ideales Spielfeld für den Amis-Stil: für scharfe, obszöne, superschlaue, gnadenlos zugespitzte und gerne auch selbstgefällige Sätze, Feststellungen, Prägungen. Wo immer man das Buch aufschlägt, finden sich dafür Beispiele. Trotzdem will es Amis nicht gelingen, den großen dramatischen Konflikt einer jahrzehntelangen Traumatisierung tatsächlich greifbar und anschaulich zu machen.

    Mit mal aparten, mal sonderbaren, mal galligen Einfällen, hat er seinen Roman bis zum Rand gefüllt. Doch mit dieser oft sprunghaften und nicht selten schlüpfrigen Effekthascherei geht der Blick auf die entscheidenden Fragen weitgehend verloren. Als Ersatz dafür müssen zwei vom Romangeschehen ziemlich abgehobene Generalthesen herhalten. Die eine - plausiblere - vergleicht die aktuelle Trennung von Sex und Liebe mit der von Verstand und Gefühl im 18. Jahrhundert. Die andere führt die lieblose Lust auf die Todesbedrohung durch die atomare Konfrontation im Kalten Krieg zurück.

    Todesangst konnte wohl bewirken, dass man sich nach Geschlechtsverkehr, nicht aber, dass man sich nach Liebe sehnt. Wozu jemanden lieben, wenn jeder jederzeit verschwinden konnte?

    "Die schwangere Witwe" ist von einer blendenden, gewiss oftmals geistvollen Geschwätzigkeit, die durchaus Funktion und Sinn haben könnte, wenn sie sich nur einigermaßen proportional zu den erzählerischen Qualitäten verhalten würde. Doch den Schauplätzen fehlt die Atmosphäre und den Figuren mangelt es an Spielraum und Profil. Sie werden reduziert auf ein paar Attribute, mit besonderer Berücksichtigung der geschlechtlichen Merkmale.

    Die Befreiung, wie sie hier dargestellt wird, bleibt völlig gefesselt vom stieläugigen Fetischismus der Höschen, Körperteile und Praktiken. Kurz: Der schillernde rhetorische Schaum, den Martin Amis hier schlägt, schwimmt auf einem seichten, zäh dahinschwappenden, häufig stagnierenden Erzählfluss. Eine Botschaft allerdings kann der Roman dann doch ziemlich unmissverständlich vermitteln: dass die Befreiung der sexuellen Triebe zur Verbesserung der Welt nur sehr bedingt beigetragen habe.

    Martin Amis: "Die schwangere Witwe." Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz.
    Carl Hanser Verlag, München 2012, 414 Seiten, 24,90 Euro.