Er sei ein Denker, der nicht den Normen der akademischen Philosophie entspricht. In ihrer "intellektuellen Biografie" Hugo Balls befragt Wiebke Marie Stock seine Schriften jedoch nach inneren Zusammenhängen, und kann so zeitkritische, religions- und sprachphilosophische Motive im Denken Balls aufdecken. Bereits in Entwürfen seiner Dissertation über Nietzsche, die er 1910 abbricht, erkennt die Biografin ein verstärktes Interesse Balls an Nietzsches "Idee des Kulturreformators", an seinem Verständnis von Philosophie als Kultur- und Zeitkritik.
Ball selbst sucht den Kontakt zu Malern wie Kandinsky und Franz Marc. Das Zusammenspiel der Künste soll in einem gemeinsamen Buch erprobt werden, doch der Erste Weltkrieg bricht aus. Ball geht nach Zürich ins Exil und gründet dort am 5. Februar 1916 das inzwischen legendäre "Cabaret Voltaire", in dem die ersten Dada-Abende mit Gesang, bizarren Tänzen, Musik und Kostümen aufgeführt werden. Die lautpoetischen Vorträge sind für Ball jedoch keine Spielerei, sondern fundamentale Sprach- und Gesellschaftskritik. Dada ist, so sein Mitstreiter Richard Huelsenbeck:
" die Ironisierung und Verhöhnung einer Kultur, die sich den Flammenwerfern und Maschinengewehren würdig zeigte. "
Es ist, so Ball, der Aufstand gegen "diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt". Gegen eine Sprache, die als Verführungs- und Propagandamittel missbraucht worden ist. Aber bereits im Juni 1916, in der Hochphase der Dada-Zeit, entdeckt Wiebke-Marie Stock eine Dimension der Klanggedichte, die Ball fortan beschäftigen wird. Während er in einem Bischofskostüm aus Glanzpapier ein Krippenspiel aufführt, fällt ihm plötzlich etwas auf. Seine Stimme
"verfällt bei der Aufführung in die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation, in 'jenen Stil des Messgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt. Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab."
Ball erblickt inmitten seiner Wort- und Vokalalchemie eine plötzlich aufscheinende religiöse Dimension. In Tagebuchnotizen und Briefen kann Wiebke-Marie Stock zeigen, wie sehr ihn fortan die ästhetischen Formen der Religion, etwa die lateinischen Messgesänge faszinieren, die ihn an seine "Kinderwelt" erinnern, und in deren Vokalfolgen er die Möglichkeit einer grundlegenden, religiösen Erfahrung sieht. Im Cabaretbetrieb hingegen sieht er sich zunehmend zwischen ästhetischen und moralischen Fragen zerrissen.
Zwischen Sozialismus und Kunst kann ich keinen Ausgleich finden. Wo ist der Weg, der den Traum mit der Wirklichkeit verbindet, und zwar den entlegensten Traum mit der banalsten Wirklichkeit? Meine artistischen und meine politischen Studien, sie scheinen einander zu widersprechen, und doch bin ich nur bemüht, die Brücke zu finden.
Im Sommer 1917 zieht er nach Bern und arbeitet, zusammen mit Ernst Bloch, den er seinen "utopischen Freund" nennt, für die "Freie Zeitung". Aus verschiedenen Aufsätzen dieser Zeit entwickelt er den geschichtsphilosophischen Essay "Zur Kritik der deutschen Intelligenz", der im Januar 1919 erscheint. Darin sucht Ball unter anderem nach Gründen für den Ersten Weltkrieg.
Obwohl Wiebke-Marie Stock die teils polemischen und einseitigen Betrachtungen Balls klar herausstellt, gelingt es ihr zugleich, den Gedankengang Balls, den sein Freund Hesse als "ehrlichsten und gründlichsten Versuch deutscher Selbstkritik" beschreibt, sehr klar herauszuarbeiten. Für die Veränderung der Politik eines Landes sei ein grundlegender Denkumsturz im Volk notwendig, so Ball, um die "Vorurteile und Selbstüberheblichkeiten", auf die sich die politischen Systeme stützen, zu unterlaufen.
In der Reformation sieht Ball "eine der schlimmsten Ursachen des Weltkriegs". Luther und der Protestantismus rücken ins Zentrum seiner Kritik. Vor allem den Augsburgischen Religionsfrieden von 1555 beschimpft er als "Schanddokument deutscher Gewissensversklavung":
Die Confessio Augustana [...] sanktionierte im Namen Gottes den Absolutismus und setzte durch Verleihung der höchsten geistlichen Würde an den Landesvater so viele protestantische Päpste ein, als es protestantische Fürsten gab. […] Luther unterwarf die Kirche der Gewalt der Landesfürsten, die jeweils der höchste Bischof "ihrer" Kirche waren.
Ball bezieht sich in seiner Kritik vor allem auf das Versprechen der Glaubensfreiheit: Diese galt zwar für die Fürsten, deren Untertanen hatten ihnen jedoch, wenn sie nicht unter Verlust ihres Eigentums auswandern wollten, Folge zu leisten. Als Gegenfigur zu Luther sieht Ball Thomas Münzer. Und gerade, indem Wiebke Marie Stock die historischen Bezüge, etwa von Münzer zu dem mittelalterlichen Abt Joachim von Fiore und dessen "Zeitalter des Geistes" verdeutlicht, liefert sie dem Leser Informationen, die der ungestüme Ball selbst nur andeutet. Aber aus diesen Quellen, so Stock, schöpft Ball für seine "Kritik der deutschen Intelligenz":
Wir glauben nicht an die sichtbare Kirche, aber an eine unsichtbare und wer in ihr kämpfen will, ist ihr Glied. Wir glauben an eine heilige christliche Revolution, an die unio mystica der befreiten Welt.
Die sichtbare Kirche sei ein Sakrileg, schreibt er, und trennt klar zwischen der institutionalisierten Religion und den christlichen Idealen. Nietzsche und dem Denker der anarchistischen Revolution Michail Bakunin wirft er vor, dass sie, indem sie versuchten "die lügnerische Autorität auszurotten", auch den spirituellen Rückhalt der Menschen hinfortrissen. Der Denkumsturz, der Ball vorschwebt, so macht Wiebke Marie Stock deutlich, ist hingegen eng verbunden mit einer religiösen Erfahrung, die er "außerhalb des Staates und der historischen Kirche" in einer "Internationale der religiösen Intelligenz" anstrebt. Er entwirft, so Stock, die "utopische Idee einer asketischen, demütigen, selbstlosen, uneigennützigen Elite".
Nach Ende des Krieges 1920 reist Ball mehrmals nach Deutschland. Er beendet sein politisches und journalistisches Engagement und wendet sich der Religion zu; er beginnt, sich mit Heiligenviten und zahlreichen theologischen Werken zu beschäftigen. Im Spätsommer 1920 zieht Ball mit seiner Frau Emmy Hennings nach Agnuzzo und beginnt die Arbeit am "Byzantinischen Christentum", einem Werk, in dem er, auf der Suche nach einem "neuen Ideal" drei Heiligenleben darstellt. In einem Entwurf für das Vorwort schreibt er:
So lege ich der jungen deutschen Republik in drei Heiligengestalten eine Analyse religiöser, geistiger, moralischer Fragen vor, die keineswegs aus kirchlichen Vorurteilen, sondern aus freier Erkenntnis der Notwendigkeit, aus einer mit persönlichen Opfern entstandenen Überzeugung stammen. In den typischen Gestalten eines Mönchs, eines Priesters und eines Engels stelle ich drei Stufen der moralischen und geistigen Erhebung dar […].
Die drei Heiligen, die Hugo Ball vorstellt, Johannes Klimakos (spätes sechstes/ Mitte siebtes Jahrhundert), Dionysius Areopagita (um 500) und der Säulenheilige Symeon Stylites (390-459) stehen für die Religion der Spätantike und das orthodoxe Christentum. Die Papstkirche als monolithische Größe spielt im Byzantinischen Christentum kaum eine Rolle.
Die Leistung von Wiebke-Marie Stock besteht darin, die Motive, die Ball im Denken der Heiligenfiguren faszinieren, herauszuarbeiten und einzuordnen. Diese historische Distanz ist vor allem hilfreich, da Ball selbst nur bestimmte Motive in seinen "reflektierenden Mythos" aufnimmt, der zugleich "Utopie" und "Reservoir von Ideen" sein soll. Er zieht den "Gesamtklang" seines Werkes dem "bornierten Historismus der modernen Forschung" vor.
Wiebke-Marie Stock eröffnet das Denken Hugo Balls mit seinen teils widersprüchlichen Motiven für die heutige Forschung und zeigt im Byzantinischen Christentum die komplexe und auch widersprüchliche Struktur eines Dreischritts von Mönch, Priester und Engel. Mit ihrer "intellektuellen Biografie" ist ein wichtiger Schritt getan, um Hugo Ball als kritischen Denker seiner Zeit, als Suchenden einer "geistigen Wirklichkeit", die nicht zuletzt eng mit einer magischen Sprache verbunden bleiben sollte, zu begreifen.
Wiebke-Marie Stock: "Denkumsturz Hugo Ball. Eine intellektuelle Biografie"
Wallstein Verlag, Oktober 2012, 242 Seiten, gebunden, 24,90 Euro
Ball selbst sucht den Kontakt zu Malern wie Kandinsky und Franz Marc. Das Zusammenspiel der Künste soll in einem gemeinsamen Buch erprobt werden, doch der Erste Weltkrieg bricht aus. Ball geht nach Zürich ins Exil und gründet dort am 5. Februar 1916 das inzwischen legendäre "Cabaret Voltaire", in dem die ersten Dada-Abende mit Gesang, bizarren Tänzen, Musik und Kostümen aufgeführt werden. Die lautpoetischen Vorträge sind für Ball jedoch keine Spielerei, sondern fundamentale Sprach- und Gesellschaftskritik. Dada ist, so sein Mitstreiter Richard Huelsenbeck:
" die Ironisierung und Verhöhnung einer Kultur, die sich den Flammenwerfern und Maschinengewehren würdig zeigte. "
Es ist, so Ball, der Aufstand gegen "diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt". Gegen eine Sprache, die als Verführungs- und Propagandamittel missbraucht worden ist. Aber bereits im Juni 1916, in der Hochphase der Dada-Zeit, entdeckt Wiebke-Marie Stock eine Dimension der Klanggedichte, die Ball fortan beschäftigen wird. Während er in einem Bischofskostüm aus Glanzpapier ein Krippenspiel aufführt, fällt ihm plötzlich etwas auf. Seine Stimme
"verfällt bei der Aufführung in die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation, in 'jenen Stil des Messgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt. Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab."
Ball erblickt inmitten seiner Wort- und Vokalalchemie eine plötzlich aufscheinende religiöse Dimension. In Tagebuchnotizen und Briefen kann Wiebke-Marie Stock zeigen, wie sehr ihn fortan die ästhetischen Formen der Religion, etwa die lateinischen Messgesänge faszinieren, die ihn an seine "Kinderwelt" erinnern, und in deren Vokalfolgen er die Möglichkeit einer grundlegenden, religiösen Erfahrung sieht. Im Cabaretbetrieb hingegen sieht er sich zunehmend zwischen ästhetischen und moralischen Fragen zerrissen.
Zwischen Sozialismus und Kunst kann ich keinen Ausgleich finden. Wo ist der Weg, der den Traum mit der Wirklichkeit verbindet, und zwar den entlegensten Traum mit der banalsten Wirklichkeit? Meine artistischen und meine politischen Studien, sie scheinen einander zu widersprechen, und doch bin ich nur bemüht, die Brücke zu finden.
Im Sommer 1917 zieht er nach Bern und arbeitet, zusammen mit Ernst Bloch, den er seinen "utopischen Freund" nennt, für die "Freie Zeitung". Aus verschiedenen Aufsätzen dieser Zeit entwickelt er den geschichtsphilosophischen Essay "Zur Kritik der deutschen Intelligenz", der im Januar 1919 erscheint. Darin sucht Ball unter anderem nach Gründen für den Ersten Weltkrieg.
Obwohl Wiebke-Marie Stock die teils polemischen und einseitigen Betrachtungen Balls klar herausstellt, gelingt es ihr zugleich, den Gedankengang Balls, den sein Freund Hesse als "ehrlichsten und gründlichsten Versuch deutscher Selbstkritik" beschreibt, sehr klar herauszuarbeiten. Für die Veränderung der Politik eines Landes sei ein grundlegender Denkumsturz im Volk notwendig, so Ball, um die "Vorurteile und Selbstüberheblichkeiten", auf die sich die politischen Systeme stützen, zu unterlaufen.
In der Reformation sieht Ball "eine der schlimmsten Ursachen des Weltkriegs". Luther und der Protestantismus rücken ins Zentrum seiner Kritik. Vor allem den Augsburgischen Religionsfrieden von 1555 beschimpft er als "Schanddokument deutscher Gewissensversklavung":
Die Confessio Augustana [...] sanktionierte im Namen Gottes den Absolutismus und setzte durch Verleihung der höchsten geistlichen Würde an den Landesvater so viele protestantische Päpste ein, als es protestantische Fürsten gab. […] Luther unterwarf die Kirche der Gewalt der Landesfürsten, die jeweils der höchste Bischof "ihrer" Kirche waren.
Ball bezieht sich in seiner Kritik vor allem auf das Versprechen der Glaubensfreiheit: Diese galt zwar für die Fürsten, deren Untertanen hatten ihnen jedoch, wenn sie nicht unter Verlust ihres Eigentums auswandern wollten, Folge zu leisten. Als Gegenfigur zu Luther sieht Ball Thomas Münzer. Und gerade, indem Wiebke Marie Stock die historischen Bezüge, etwa von Münzer zu dem mittelalterlichen Abt Joachim von Fiore und dessen "Zeitalter des Geistes" verdeutlicht, liefert sie dem Leser Informationen, die der ungestüme Ball selbst nur andeutet. Aber aus diesen Quellen, so Stock, schöpft Ball für seine "Kritik der deutschen Intelligenz":
Wir glauben nicht an die sichtbare Kirche, aber an eine unsichtbare und wer in ihr kämpfen will, ist ihr Glied. Wir glauben an eine heilige christliche Revolution, an die unio mystica der befreiten Welt.
Die sichtbare Kirche sei ein Sakrileg, schreibt er, und trennt klar zwischen der institutionalisierten Religion und den christlichen Idealen. Nietzsche und dem Denker der anarchistischen Revolution Michail Bakunin wirft er vor, dass sie, indem sie versuchten "die lügnerische Autorität auszurotten", auch den spirituellen Rückhalt der Menschen hinfortrissen. Der Denkumsturz, der Ball vorschwebt, so macht Wiebke Marie Stock deutlich, ist hingegen eng verbunden mit einer religiösen Erfahrung, die er "außerhalb des Staates und der historischen Kirche" in einer "Internationale der religiösen Intelligenz" anstrebt. Er entwirft, so Stock, die "utopische Idee einer asketischen, demütigen, selbstlosen, uneigennützigen Elite".
Nach Ende des Krieges 1920 reist Ball mehrmals nach Deutschland. Er beendet sein politisches und journalistisches Engagement und wendet sich der Religion zu; er beginnt, sich mit Heiligenviten und zahlreichen theologischen Werken zu beschäftigen. Im Spätsommer 1920 zieht Ball mit seiner Frau Emmy Hennings nach Agnuzzo und beginnt die Arbeit am "Byzantinischen Christentum", einem Werk, in dem er, auf der Suche nach einem "neuen Ideal" drei Heiligenleben darstellt. In einem Entwurf für das Vorwort schreibt er:
So lege ich der jungen deutschen Republik in drei Heiligengestalten eine Analyse religiöser, geistiger, moralischer Fragen vor, die keineswegs aus kirchlichen Vorurteilen, sondern aus freier Erkenntnis der Notwendigkeit, aus einer mit persönlichen Opfern entstandenen Überzeugung stammen. In den typischen Gestalten eines Mönchs, eines Priesters und eines Engels stelle ich drei Stufen der moralischen und geistigen Erhebung dar […].
Die drei Heiligen, die Hugo Ball vorstellt, Johannes Klimakos (spätes sechstes/ Mitte siebtes Jahrhundert), Dionysius Areopagita (um 500) und der Säulenheilige Symeon Stylites (390-459) stehen für die Religion der Spätantike und das orthodoxe Christentum. Die Papstkirche als monolithische Größe spielt im Byzantinischen Christentum kaum eine Rolle.
Die Leistung von Wiebke-Marie Stock besteht darin, die Motive, die Ball im Denken der Heiligenfiguren faszinieren, herauszuarbeiten und einzuordnen. Diese historische Distanz ist vor allem hilfreich, da Ball selbst nur bestimmte Motive in seinen "reflektierenden Mythos" aufnimmt, der zugleich "Utopie" und "Reservoir von Ideen" sein soll. Er zieht den "Gesamtklang" seines Werkes dem "bornierten Historismus der modernen Forschung" vor.
Wiebke-Marie Stock eröffnet das Denken Hugo Balls mit seinen teils widersprüchlichen Motiven für die heutige Forschung und zeigt im Byzantinischen Christentum die komplexe und auch widersprüchliche Struktur eines Dreischritts von Mönch, Priester und Engel. Mit ihrer "intellektuellen Biografie" ist ein wichtiger Schritt getan, um Hugo Ball als kritischen Denker seiner Zeit, als Suchenden einer "geistigen Wirklichkeit", die nicht zuletzt eng mit einer magischen Sprache verbunden bleiben sollte, zu begreifen.
Wiebke-Marie Stock: "Denkumsturz Hugo Ball. Eine intellektuelle Biografie"
Wallstein Verlag, Oktober 2012, 242 Seiten, gebunden, 24,90 Euro