Archiv

Schlüsseljahr 1979
"Religion wurde unterschätzt"

Im Sommer 1979 bereiste Papst Johannes Paul II. seine Heimat Polen, zehn Jahre später fiel der Eiserne Vorhang. Im selben Jahr kehrte auch Ayatolla Khomeini in den Iran zurück, bis heute hält sein Gottesstaat. Der Historiker Frank Bösch sieht wichtige Gemeinsamkeiten zwischen den Religionsführern.

Frank Bösch im Gespräch mit Christiane Florin |
Historiker Frank Bösch ist auch Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor an der dortigen Universität
Der Historiker Frank Bösch ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor an der dortigen Universität (imago / Mike Schmidt)
Christiane Florin: Im Sommer 1979 reiste Papst Johannes Paul II. in seine Heimat, aus dem kommunistischen Polen wurde das katholische Polen. Zehn Jahre später riss der eiserne Vorhang. Das war jetzt zugegebenermaßen sehr verkürzt dargestellt, so einfach sind Ursache und Wirkung nicht auszumachen. Aber dieses Jahr 1979 ist wichtig, um einen Zusammenhang zwischen Revolution und Religion zu erkennen. Das betrifft nicht nur das Christentum, sondern auch den Islam. Denn 1979 war auch das Jahr, in dem ein Ayatolla in seine Heimat zurückkehrte, in den Iran. Frank Bösch vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam hat sich dieses eine Jahr genauer angeschaut, sein neues Buch heißt 1979.
Mit ihm habe ich gestern über die Rückkehr der Religion in die Weltpolitik gesprochen. Ich habe ihn aber zunächst gefragt, warum Jahresbücher so in Mode sind?
Frank Bösch: Es gibt ein neues Interesse an Ereignissen. Historiker haben ja lange Zeit nur in längeren Strukturen gedacht, und vielleicht durch die Wucht von Nine-Eleven, vielleicht auch durch den Mauerfall schon, ist wieder deutlich geworden, dass es punktuelle Ereignisse gibt, die den Lauf der Geschichte ändern. Und das hat dazu geführt, dass sich Historiker auch wieder verstärkt mit Ereignissen beschäftigen.
"Khomeini und der Papst - Anführer im Kalten Krieg"
Florin: Sie vergleichen in "1979" mit einer gewissen Unerschrockenheit Johannes Paul II., den Mann in Weiß, mit Ajatollah Khomeini, dem Mann in Schwarz. Was verbindet die beiden?
Bösch: Generell ist erst einmal auffällig, dass Ende der 70er Jahre die Religion eine ganz neue öffentliche und politische Bedeutung gewinnt. Und das ist mit einzelnen neuen Akteuren verbunden, wie insbesondere Johannes Paul II. und Khomeini. Auffällig bei beiden ist, dass sie Religionsführer waren, inhaltlich natürlich für ganz unterschiedliche Dinge standen, aber plötzlich einen rasanten Aufstieg erlebten. Sie wurden beide zu Anführern in der Auseinandersetzung im Kalten Krieg: Khomeini gegen die USA, Johannes Paul II. vor allem gegen die Sowjetunion und gegen den Sozialismus. Beide nutzten bei ihrem Aufstieg die Medien; Johannes Paul II. ging als Medienpapst in die Geschichte ein, aber auch Khomeini interagierte stark mit den Medien, um seine Botschaften zu verbreiten.
Florin: Johannes Paul II. hatte – anders als Khomeini – kein politisches Amt. Hatte er ein politisches Programm?
Bösch: Johannes Paul II. hatte kein politisches Programm, mit dem er antrat, und er fand seine politische Rolle auch erst langsam. Sie war auch nicht so eindeutig. Zunächst – seine erste Reise geht ja nach Lateinamerika, insbesondere nach Mexiko –, und hier ist er eher der konservative Religionsführer, der sich gegen die Theologie der Befreiung richtet, gegen jene Verbindung von Sozialismus und Katholizismus, die in Lateinamerika Aufwind erhielt. Dann in Polen, bei seiner zweiten großen Reise, der bis heute berühmtesten, wird er zum Gegner des Sozialismus stilisiert. Wenn man allerdings genauer seine Reden anguckt, dann sind es keine politischen Texte im engeren Sinne. Es sind kleine Begriffe wie sein Verweis auf Polen, auf Europa, die entsprechend interpretiert werden. Aber er ist kein politischer Papst in dem Sinne, als dass er sich ganz klar etwa gegen die Sowjetunion positioniert. Politisch ist er drittens natürlich auch im Hinblick auf seine Moralpolitik. Hier haben wir eher wiederum den konservativen Johannes Paul II., der keine Liberalisierung bescherte, etwa in Fragen von Frauenrechten.
"Das katholische Polen trat in den Vordergrund"
Florin: Die Solidarność, die Gewerkschaft, wählte als Zeichen des Protests christliche Symbole; Kreuze, Marienbilder. Wie bedeutsam war dieser Papst für das Ende des kommunistischen Regimes zehn Jahre später?
Bösch: Johannes Paul II. war wirklich sehr bedeutend für diese Proteste. Sein Besuch damals im Juni 1979 führte dazu, dass Millionen Menschen auf die Straßen gingen, sich selbst organisierten und die Huldigung des Papstes in gewisser Weise zu einem großen Protest wurde. Das katholische Polen, das nie verschwunden war, aber trat nun öffentlich in den Vordergrund. Darauf formierte sich nicht direkt Solidarność, aber der Rückhalt des Papstes, dieses Ereignis, das gab Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, um dann ab 1980 – und dann auch während des Kriegsrechtes in den folgenden Jahren – hier durchzuhalten. Und viele bei Solidarność, nicht nur Lech Wałęsa, waren sehr religiös, und der auch direkte Kontakt zum Papst gab ihm Kraft.
Florin: Was auffällt, ist die Überraschung angesichts eines politischen Papstes, aber dann auch angesichts der Islamischen Revolution im Iran. Wenn man die Quellen der damaligen Zeit liest, auch die Einschätzungen durch Journalisten, dann fallen vor allem die Fehleinschätzungen auf – oder die Unterschätzung religiöser Kraft, religiöser Führer. Woher kommt das?
Bösch: Gerade in Westeuropa, aber auch in Osteuropa, hatte die Religion ja Anfang der 70er Jahre an Bedeutung verloren, die Kirchen wurden leerer, die Leute traten aus den Kirchen aus, und insofern erwartete niemand, dass die Religion diese Wucht erhalten würde. Dass sie diese erhielt, hatte unterschiedliche Gründe. Zum einen bot die Religion in Diktaturen gerade ein Kommunikationssystem, um oppositionelle Ideen zu verbreiten. Wir haben generell eine Zeit der Angst, wo neue Religionsführer ein ganz neues Charisma erhalten konnten. Die großen Weltanschauungen, Kommunismus, Kapitalismus verloren an Attraktivität, die Religionsführer versprachen dritte Wege mit einem sozialen Ausgleich. Und nicht zuletzt die Unterdrückung der Religion in vielen Diktaturen – sei es im Sozialismus, sei es unter dem Shah im Iran –, die führte dazu, dass die religiösen Kräfte sich wehrten, protestierten, sich neu formierten.
Die iranische Theokratie
Florin: Es gibt noch einen weiteren Konflikt in diesem Jahr 1979, nämlich die Auseinandersetzung um Afghanistan – (Vorläufer der) Taliban versus Sowjetunion, wenn man es so ganz einfach sagen will. Wie kamen Christdemokraten dazu, Islamisten, Taliban zu unterstützen? Nur weil es gegen die Sowjetunion ging?
Bösch: Man muss hier noch nicht unbedingt von Islamisten oder Taliban sprechen, aber von bewaffneten Kämpfern, die mit islamischem Glauben gegen die Sowjetunion kämpften. Und dieser islamische Glaube unterstützte eben auch aus vielen islamischen – vor allem arabischen – Ländern diese Kämpfer und führte dazu, dass tatsächlich ein Freiheitskampf, wie er auch schnell im Westen genannt wurde, verbunden wurde mit Religion im Kampf gegen den Kommunismus. Und da diese Kämpfer sich eben gegen den Kommunismus richteten, erfuhren sie Unterstützung von Konservativen im Westen, sei es von den USA, sei es aber auch von Christdemokraten, die tatsächlich auch wichtige Mudschaheddin-Vertreter wie Hekmatyar empfingen in der Bundesrepublik und versuchten, über die Flüchtlingslager in Pakistan auch direkt und indirekt zu unterstützen.
Florin: Wovon hängt es ab – wenn Sie dieses ganze weltpolitisch so bedeutende Jahr 1979 überblicken–, ob Religionen demokratisch wirken oder ob sie autoritäre Regime stützen oder errichten?
Bösch: Religion selbst ist ja nicht automatisch mit einer bestimmten politischen Richtung verbunden, und wenn man zurückblickt, haben Religionen auch alle möglichen Formen von Staatsformen jeweils gefördert. Im Iran entsteht etwas ganz besonderes, ein sogenannter Doppelstaat – ein Gottesstaat, der ein Doppelstaat ist –, eine Theokratie, und das ist, glaube ich, das Spezifische in dieser Zeit. Dass hier eine Mischform steht, eine islamische Republik, die sowohl parlamentarische Elemente hat – Wahlen, bei denen selbst Frauen wählen dürfen –, aber gleichzeitig unter einer religiösen Aufsicht funktionieren, in dem Fall unter einem Wächterrat und einem Religionsführer im Obersten, der kontrolliert, ob alle Gesetze jeweils mit dem Koran im Einklang stehen und auch die Abgeordneten, die gewählt werden, auch für islamisch zuverlässig gelten. Also, zusammengefasst kann man sagen: Es entstehen gerade in dieser Zeit ganz, ganz unterschiedliche politische Modelle in Verbindung mit Religion, von der sozialistisch angehauchten sandinistischen Republik in Nicaragua bis hin zum islamischen Gottesstaat im Iran.
Mehr Wohlstand, weniger Religion?
Florin: Ist an der "Islamischen Revolution" etwas spezifisch Islamisches?
Bösch: Die iranische Revolution ist islamisch, wobei man eben auch bedenken muss, dass der Islam in sich natürlich stark gespalten ist – vor allem in Sunniten und Schiiten. Und schiitischer Islam prägt relativ stark auch diesen Gottesstaat, der im Iran entsteht. Der oberste Religionsführer wird ja als Vertreter des verschwundenen zwölften Imam gesehen, und insofern entsteht hier ein Staat, der auch eng verbunden ist mit dem Glauben. Das führte auch dazu, dass dieses Modell, was ja tatsächlich als Ausgangspunkt für eine Revolution, eine Richtung von Gottesstaat nach iranischem Modell in der gesamten islamischen Welt gesehen wurde, dass dieses nicht diese Ausstrahlungskraft erhielt wie Ajatollah Khomeini erhofft hatte, weil die sunnitischen Staaten sich hiergegen wehrten.
Florin: Wenn 1979 das Jahr der Rückkehr der Religionen auf die politische Weltbühne ist, wann, glauben Sie, kommt es zu einem Rückzug der Religionen?
Bösch: Es ist ja so, dass wir eine gegenläufige Entwicklung haben. Einerseits werden die Menschen tatsächlich auch in vielfältiger Hinsicht säkularer, allerdings hat die Religion in der Öffentlichkeit weiterhin eine sehr, sehr starke Bedeutung – nicht nur in den islamischen Ländern, sondern auch in Lateinamerika, selbst auch in den USA oder auch in Teilen Asiens. Ob es eine rückläufige Entwicklung gibt, kann man nicht sagen. Klar ist, dass die damalige Annahme der Modernisierungstheorie, dass immer mehr Reichtum dazu führt – immer mehr Wohlstand immer mehr Bildung –, dass die Religion an Bedeutung verliert, so sicherlich nicht zutrifft, sondern andere Faktoren dies beeinflussen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann. München, Verlag CH Beck 2019. 512 Seiten, 28 Euro.