Berlin hat eine neue Badeadresse: ein Swimmingpool in einer alten Industriehalle. Ein Freibad selbstverständlich, die Halle war ruinös, nur noch die Außenmauern standen. Und die Teile der früheren Dachkonstruktion, die man sieht, sind neu aufgebaut.
"Atmosphärisch ist es so ein bisschen angelehnt an die 60er-, 70er-Jahre, dieses Freibad-Hotel der 60er-, 70er-Jahre", erklärt Jan Denecke, der diesen Ort mit drei Freunden entwickelt hat. Man sieht deutlich: In den Haubentaucher wurde viel Geld investiert. Dennoch will sich die angekündigte Atmosphäre eines verfallenen Strandhotels nicht richtig einstellen. Pflanzkübel, Bodenbelag und die Holzpergola sehen aus wie frisch aus dem Baumarkt. Und die Graffiti-Spuren an der Backsteinwand: Hat die jemand neu aufgemalt? Denecke:
"Es soll eine schöne Außenfläche sein, wo man im Sommer hingehen kann, eine Erlebniswelt, wo man was trinken kann und entspannt am Pool liegen kann."
Erlebniswelt Ruine
Im hippen Berlin tauchen immer mehr solcher Erlebniswelten auf. Wo früher die Ruine sich selbst genug war, wird heute das Vorhandene überformt, dekoriert, verwandelt. Oder wenn's schief geht, aus Versehen totsaniert. Denn der Ruinencharakter soll ja nach wie vor bleiben. Aber die Perfektion hält Einzug - an einem Ort wie dem RAW-Gelände, der gerade für das Unperfekte geliebt wurde. Jan Denecke, Anfang 40 und hauptberuflich Rechtsanwalt, sieht das naturgemäß nicht so streng. Aber für das Perfektionsstreben hat er eine Erklärung:
"Natürlich ist das alles auch eine professionellere Ebene, man ist älter geworden, reifer geworden. Das heißt, man ist gezwungen, viel überlegter an die Sache heranzugehen. Auf der einen Seite leider, auf der anderen Seite ist es ja auch schön, dass es einen Wandel gibt und die Sachen sich fortentwickeln. Deswegen werden die Projekte erwachsener. Es wird auch mehr Geld ausgegeben, den Unterschied sieht man tatsächlich extrem."
Essen gehen, statt tanzen
Jan Denecke und seine Kollegen haben früher eine Strandbar an der Spree betrieben. Was sie wie andere urbane Pioniere aus dieser Zeit herübergerettet haben: Man schafft Orte, die einem selbst auch gefallen. Früher war es das Nachtleben, heute sind eher Chillen und Essen angesagt.
"Es sind ganz andere Bedürfnisse, die abgedeckt werden sollen, die es früher auch nicht so gab: Restaurants zum Beispiel. Diese Foodmarkets springen raus aus jeder Ecke, da sieht man ja, da ist ein Bedarf da, und die Leute lieben es, gut und qualitativ hochwertig essen zu gehen."
Noch eine ruinöse Fabrikhalle auf dem Gelände. Diese aber mit Dach. In der "Neuen Heimat" wird jeden Sonntag Streetfood zu Jazzmusik serviert. Essen aus aller Welt und auf hohem Niveau, versteht sich. "Streetfood ist das neue Clubbing" titelte eine Zeitung zur Eröffnung. Sebastian Baier, der die "Neue Heimat" zusammen mit drei anderen Kollegen betreibt, kommt selbst aus dem Techno-Geschäft:
"Viele, die wir hier treffen jeden Sonntag, sind die Feierleute von gestern, die mittlerweile einen Kinderwagen vor sich herschieben und happy sind, dass sie sich sonntags trotzdem noch hier treffen."
Das urbane Dorf
Wir drehen eine Runde übers Gelände, insgesamt 4000 Quadratmeter, die die Betreiber für zehn Jahre gemietet haben. Viele Hallen sind noch vermüllt und ungenutzt. Doch wo gegessen wird, stehen Blümchen auf den Tischen. Über uns Girlanden und Lichterketten. Irgendwie ländlich! Die Halle ist mit umgenutzten Holzverschlägen unterteilt, man denkt an ein bayerisches Wirtshaus. Aber dann: echte Graffitis an der Wand. Sehr urban!
"Wir sehen uns da auch als Village, richtig, mit Musik, Kunstgalerie, mit gutem Essen, gutem Wein, einfach was für Genießer. Natürlich sind wir da preislich etwas gehoben, denn der Wein ist nicht aus dem Plastikbecher und aus dem Späti, sondern kuratiert, aber ich hoffe und denke auch, dass das ein Zugewinn für den Kiez ist."
Sebastian Baier, ein sympathischer Typ Mitte 30, gehörte früher zum Kreis der Bar25-Betreiber, die für rauschende Techno-Parties, Orgien, später aber auch gutes Essen berüchtigt war. Die Bar25, diese Westernstadt an der Spree, wurde als Zwischennutzung stilprägend. Sie war der erste perfekte "Erlebnisort" für den coolen Großstädter - wenn er denn reingelassen wurde. Ich frage Sebastian: Mutet dieses Village "Neue Heimat" im Vergleich dazu nicht geradezu biedermeierlich an?
"Ja. Aber du wirst ja zwangsläufig sesshafter und bewusster, wie du lebst, dass es nicht darum geht, hedonistisch viel Spaß zu haben, auch bisschen um Inhalt."
An diesem Donnerstag spielt die Geigerin Anne-Sophie Mutter in der "Neuen Heimat". Die Brachenästhetik ist in der E-Musik angekommen. Das hätten sich die Zwischennutzer, die 1999 das RAW-Gelände eroberten, wohl nicht träumen lassen.