Keine Wirkung ohne Nebenwirkung, eine Erkenntnis, die sich in der Arztpraxis immer wieder bestätigt. Beim Morphium und verwandten Substanzen gilt das ganz besonders. Diese Opioide unterdrücken zwar effektiv die Schmerzweiterleitung im verletzten Gewebe und im Gehirn, aber sie stören auch das Atemzentrum, können Brechreiz verursachen und den Darm lahmlegen. Vor allem aber machen sie süchtig. Schmerzen lindern, ohne zu große Problem auszulösen, das ist für Prof. Christoph Stein als Leiter der Anästhesiologie am Campus Benjamin Franklin der Berliner Charité ein alltäglicher Balanceakt. Sein Team will deshalb Schmerzmedikamente mit einer ganz neuen Strategie weiterentwickeln. Ansatzpunkt ist die enge Bindung der Opioide an ihre Wirkorte auf den Zellen, an die Rezeptoren.
"Wir haben uns darauf konzentriert, dass die Interaktion von Wirkstoffen und Opioidrezeptoren in gesundem Gewebe anders ist, als in krankem Gewebe."
Wirkung nur am verletzten Gewebe
Egal ob es um Tumorschmerz geht, um Schmerzen nach einer Operation oder wegen einer Arthritis: Immer werden Zellen zerstört, es entwickelt sich eine Entzündungsreaktion und die macht das Gewebe sauer. Der Säuregrad kann die dreidimensionale Struktur von Medikamenten und damit deren Wirkung verändern. In aufwendigen Computersimulationen untersuchte das Team um Christoph Stein, wie das Opioid Fentanyl an seinen Rezeptor bindet. Entscheidend ist ein kleiner Abschnitt des Moleküls. Deshalb ließen die Forscher gezielt Fentanyl-Varianten mit einem Fluoratom in der Nähe synthetisieren. Denn das verstärkt die Strukturänderung beim Wechsel von sauren und neutralen Umgebungen.
"Also wir haben diesen Wirkstoff so verändert, dass er nur im sauren Gewebe, im verletzten Gewebe an den Opioid Rezeptor bindet. Nicht unter normalen Bedingungen im Gehirn."
Versuche in der Zellkultur bestätigen die Prognosen aus dem Computermodell. Das neue Opioid mit dem etwas unhandlichen Namen NFEPP reagiert tatsächlich auf den Säuregrad. Im kranken, sauren Gewebe verhält es sich wie das etablierte Fentanyl, in einer gesunden, neutralen Umgebung wird es dagegen von den Zellen ignoriert."
"Wir haben das dann im Tierversuch in der Ratte getestet und wir haben dazu zwei Modelle für Entzündungsschmerz verwendet, die sehr gängig sind und haben tatsächlich festgestellt, dass starke schmerzstillende Wirkung auftritt. Fast genauso stark wie mit normalen Opiaten, aber ohne Nebenwirkungen wie zum Beispiel Atemstillstand, Suchterzeugung oder Verstopfung."
Kooperationspartner gesucht
Das neue Schmerzmittel wirkt nur vor Ort, dort wo der Schmerz entsteht. Deshalb löst es weder im Darm noch im Gehirn messbare Nebenwirkungen aus. Christoph Stein ist überzeugt, dass sein Team auf dem richtigen Weg ist. Aber der ist noch sehr lang. Als erstes muss NFEPP nach den aufwendigen Regeln für gute Herstellungspraxis synthetisiert werden, nur dann darf es potenziell am Menschen erprobt werden. Der nächste Schritt wären umfangreiche Studien zur Verträglichkeit und schließlich die klinische Prüfung bei Patienten. Das alles ist sehr teuer und auch von einem Universitätsklinikum nicht zu leisten. Christoph Stein sucht deshalb nach Partnern in der Pharmaindustrie.
"Bislang haben wir noch keine Firma, die sich ernsthaft interessiert hat. Wir haben mit mehreren Firmen Kontakt aufgenommen, aber noch keine festen Vereinbarungen."
Dafür gibt es wohl zwei Gründe. Fentanyl zum Beispiel ist ein billiges Medikament, da lässt sich auch für eine Weiterentwicklung mit deutlich weniger Nebenwirkung kein allzu hoher Preis erzielen. Vor allem aber haben Opiate wegen der Verbindung zur Drogensucht einen zweifelhaften Ruf. Unternehmen überlegen sich gut, ob sie sich auf diesem Gebiet engagieren wollen, auch wenn es ja gerade darum geht, die schmerzstillende Wirkung und das Suchtpotenzial voneinander zu trennen.