Archiv

Schmetterlinge
Die Wanderlust des Distelfalters

Für Zugvögel gehört das Überwinden tausender Kilometer zur normalen Überlebens- und Fortpflanzungsstrategie. Aber auch leichtgewichtige Insektenarten pendeln ins warme Afrika und wieder zurück in den kalten Norden - auch wenn die Wanderung ein paar Generationen dauert. Bestes Beispiel: der Distelfalter.

Von Volker Mrasek |
Ein Schmetterling auf einer Blüte
Distelfalter sind eine ausgesprochen häufige Schmetterlingsart - aber ihr Wanderverhalten ist außergewöhnlich (imago / Winfried Rothermel)
Es ist ein kurzes Dasein, das der Distelfalter fristet. Als ausgewachsener Schmetterling lebt er gerade einmal vier Wochen lang. Die Hälfte davon geht schon einmal für Futter- und Partnersuche drauf, schätzt der spanische Insektenkundler Gerard Talavera. Also verbleiben den Tieren bloß zwei Wochen, um ihrer großen Wanderlust zu frönen. Unglaublich, welche Strecken sie dabei zurücklegen!
"In diesen zwei Wochen fliegen sie in Einzelfällen bis zu 4.000 Kilometer weit: von Nordeuropa bis nach Afrika südlich der Sahara."
Wohlgemerkt: Der Wanderfalter ist ein Winzling von sechs, sieben Zentimetern Spannweite und wiegt gerade einmal ein Zehntel Gramm!
Der Wind hilft bei der Fernreise
"Wir wissen, dass die Schmetterlinge bis in geeignete Flughöhen aufsteigen, wo der Wind stark genug ist und in die richtige Richtung weht. Distelfalter können sogar in mehreren tausend Kilometern Höhe wandern. Sie überqueren ja die Alpen und wurden schon auf Gletschern gefunden."
Doch es wird noch skurriler! Jede Generation der Langstreckenflieger reicht nämlich den Staffelstab an die nächste weiter. Und die setzt den Marathon dann zeitversetzt fort. So geht das immer weiter, in einem Generationen übergreifenden Rundreise-Zyklus, erläutert Talavera:
"Beginnen wir mit den Faltern, die in Europa heranwachsen. Im Herbst fliegen sie bis südlich der Sahara, wo sie ihre Eier ablegen. Die nächsten Schmetterlingsgenerationen wandern nur innerhalb von Afrika. Das ändert sich aber am Ende des Winters. Dann fliegen die Falter wieder zurück nach Norden, bis zum Mittelmeer. Die darauffolgende Generation, die dort aufwächst, absolviert dann die Schluss-Etappe über Deutschland bis nach Schweden. Dort beginnt der ganze Zyklus von Neuem."
Hohe Verluste auf der Wanderung
Eine Fernreise in drei großen Etappen, über rund 12.000 Kilometer, wie der Forscher vom Institut für Evolutionsbiologie in Barcelona abgemessen hat.
Es gibt Schmetterlinge, die den Winter in Nord- oder Mitteleuropa überleben - im Ei-Stadium, als Larve oder sogar als ausgewachsenes Insekt. Der Distelfalter aber zählt nicht dazu. Also hat er sich etwas anderes einfallen lassen und reist quasi dem Frühling hinterher: Genau wie Zugvögel wandern die Falter vorübergehend ins warme Afrika ab, meist in großen Schwärmen. Nicht alle erreichen allerdings ihr Reiseziel:

"Man hat schon Exemplare auf Svalbard im Arktischen Ozean gefunden! Distelfalter kommen aber nicht nur vom Kurs ab, sie werden auch unterwegs gefressen, zum Beispiel von Zugvögeln. Ein gewisser Prozentsatz der Wanderfalter geht sicher verloren. Wir wissen zwar nicht, wie hoch er ist. Aber vermutlich sind die Bestände der Schmetterlinge deshalb so groß - wegen der hohen Verluste auf der Wanderung."
Pollen und Isotope verraten die Reisestrecke
Zugvögel lassen sich mit kleinen tragbaren Radiosendern und GPS-Empfängern ausrüsten. So kann man einzelne Tiere auf ihren Reisen verfolgen. Bei den federleichten Distelfaltern behalfen sich Gerard Talavera und seine Arbeitskollegen anders. Sie untersuchten das Verhältnis von unterschiedlich schweren Wasserstoff-Isotopen im Flügelgewebe Dutzender Tiere. Es ist eine Art geographischer Fingerabdruck. Denn dasselbe Isotopenmuster findet sich in den Böden und Pflanzen der Region, aus der ein Schmetterling stammt.

"Eine andere Methode haben wir selbst entwickelt. Dazu untersuchen wir, von welchen Pflanzen die Pollen stammen, die am Körper der Wanderfalter haften. Und wo diese Pflanzen vorkommen. Auf diese Weise konnten wir an Distelfaltern aus Europa Pollen von Pflanzen nachweisen, die nur in Afrika wachsen."
Seit über fünf Jahren arbeitet Talavera jetzt schon über Distelfalter, wie er sagt. Und er möchte seine Forschung noch ausdehnen. Auch unter Schwebfliegen, Heuschrecken und Libellen gebe es nämlich etliche wandernde Vertreter, manche von großer Bedeutung als Agrarschädlinge, andere als Bestäuber. Doch bisher sei nicht einmal bekannt, wie viele Arten es überhaupt sind.