Erneut haben in mehreren belarussischen Städten Zehntausende Menschen gegen Präsident Alexander Lukaschenko und für Demokratie demonstriert. Die Opposition fordert seinen Rücktritt und Neuwahlen. Die Europäische Union sowie die USA hatten die vor zweieinhalb Monaten abgehaltene Wahl nicht anerkannt. Trotz heftiger Proteste mit zeitweilig Hundertausenden Menschen ist das Land einer Lösung seiner politischen Krise nicht nähergekommen.
Die Gründe sind in den Augen von SPD-Außenpolitiker Nils Schmid vielfältig. Lukaschenko setze auf eine Zermürbungstaktik und versuche, die Proteste auszusitzen. Dass sich Lukaschenko jeglichen Gesprächen verweigere, damit habe man "überhaupt nicht gerechnet". Doch der Geist sei aus der Flasche, früher oder später werde die Opposition die Regierung zu freien Wahlen zwingen.
Schmid befürchtet "russisches Modell von Fassadendemokratie"
Umso wichtiger sei es, dass Deutschland und die Europäische Union weitere Sanktionen verhängten. So sollten 40 Personen im inneren Zirkel von Lukaschenko mit Restriktionen belegt werden. Auch wolle man Oppositionelle im Exil sowie die unabhängige Berichterstattung weiter unterstützen.
"Lukaschenko wird früher oder später eine Form von Wahlen zulassen. Die Frage wird nur sein, ob die Opposition als organisierte Opposition dabei sein wird. Die Gefahr ist groß, dass es ein russisches Modell von Fassadendemokratie sein wird", so Schmid.
Das Interview in voller Länge:
Silvia Engels: Der Protest auf den Straßen in Belarus ist noch da, er ist auch sehr eindrucksvoll, aber es sind vielleicht noch Zehntausende auf der Straße, nicht mehr Hunderttausende wie vor einigen Wochen noch. Politisch bewegt sich die Führung in Minsk offenbar nicht auf die Demonstranten zu, ist jetzt Zermürbungstaktik offenbar das Mittel, was leider doch Erfolg hat?
Schmid: Es sieht ganz danach aus. Es kommen noch die sinkenden Temperaturen hinzu, sodass Straßenproteste zunehmend schwierig werden, und wir wissen aus der Vergangenheit, dass Lukaschenko versucht hat, solche Proteste im wahrsten Sinne des Wortes auszusitzen und mit gezielter Repression zu unterbinden. Aber der Geist ist aus der Flasche, und die Freiheitsbewegung ist so stark, dass sie früher oder später auch Lukaschenko zu freien und fairen Wahlen zwingen wird.
Schmid: Menschen im Exil halten Geist der Proteste wach
Engels: Mitte August, kurz nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen, hatten Sie hier im Deutschlandfunk zur Lage in Belarus ein Interview gegeben und da die Hoffnung geäußert, die Volksbewegung in Belarus ähnele der Wendezeit in Osteuropa. Damals kamen die Regime dann ja, als die Massenproteste begannen, relativ rasch zu Fall, haben Sie sich diesmal getäuscht, Belarus ist anders?
Schmid: Die Frage ist immer, an welchem Zeitpunkt dieses historischen Vergleichs wir uns befinden, sind wir schon in 89 oder eher Mitte der 80er-Jahre. Wir wissen, dass beispielsweise die Solidarnosc in Polen ja auch mehrere Jahre gebraucht hat, bis sie zu einem runden Tisch kamen, bis die Machthaber zu einem solchen runden Tisch gezwungen worden sind, und es kann durchaus sein, dass in Belarus das auch nicht innerhalb weniger Monate geht. Aber das Entscheidende ist, dass sich jenseits der etablierten Parteistrukturen eine große Bewegung gebildet hat und dass diese auch andauern wird, selbst wenn es jetzt im Winter zu weniger Protesten auf der Straße kommen wird. Wir haben sehr viele Belarussinen und Belarussen, die von außen, vom Exil aus über unabhängige Medien den Geist der Proteste wachhalten und weiterhin für Freiheit und vor allem für faire Wahlen sich einsetzen werden, aber wir brauchen sicher einen langen Atem, und wir brauchen Unterstützung von außen, wie es auch in den 80er-Jahren beispielsweise in Polen der Fall war.
Engels: Unterstützung von außen ist ein Stichwort. Mitte August mahnten Sie hier im DLF-Interview auch an, das Weimarer Dreieck, also Polen, Frankreich und Deutschland, sollten direkt bei Lukaschenko intervenieren, um ihn zu einem runden Tisch mit der Opposition zu bringen. Passiert ist das nicht, macht die Bundesregierung zu wenig?
Schmid: Nein, das Weimarer Dreieck ist ja gerade in diesen Tagen wieder besonders sichtbar geworden nach dem Regierungswechsel in Polen, wo ein neuer Außenminister das Amt übernommen hat, gab’s ein Außenministertreffen im Weimarer-Dreieck-Format mit auch dem Schwerpunkt Belarus. Die Zusammenarbeit im Weimarer Dreieck ist deutlich besser geworden. Das Problem ist, dass Lukaschenko sich bis heute jedem direkten Kontakt mit Machthabern aus dem Westen verschließt. Da sind wir leider noch nicht vorangekommen, aber die Unterstützung gerade im Rahmen des Weimarer Dreiecks ist da. Wir haben ja schon medizinische Hilfe, die über die EU an Opfer der Repression geleistet wird, die Nachbarländer Polen, Litauen unterstützen die Opposition mit Visaerleichterungen.
Auch in Deutschland werden wir über Visaerleichterungen die Einreise von Belarussen erleichtern, und es wird Unterstützung für die unabhängigen Medien geben, denn die Gegenöffentlichkeit aufrechtzuerhalten, ist in diesen Zeiten besonders wichtig. Das Staatsfernsehen macht ja reine Propaganda, umso wichtiger sind unabhängige Medien, die auch über soziale Netzwerke sich weiterverbreiten.
"Wir brauchen mehr Sanktionen gegen die Verantwortlichen"
Engels: Das ist die deutsche Ebene, dazu werden nun auch 40 belarussische Führungskräfte um Lukaschenko mit EU-Sanktionen belegt, aber die Opposition in Belarus selbst sagt, das ist alles zu wenig. War das schon alles, werden hier die Demonstranten mit ihrem Anliegen vielleicht auch von EU und Deutschland im Stich gelassen?
Schmid: Nein, das kann noch nicht alles gewesen sein. Es war leider aufgrund der Blockade von Zypern ein etwas langwierigerer Weg zu den ersten Sanktionen, aber der Weg muss weitergegangen werden. Wir brauchen mehr Sanktionen gegen die Verantwortlichen für Wahlfälschung und Repression in Belarus, und natürlich muss auch Lukaschenko und der unmittelbare Machtkreis um ihn herum mit Sanktionen belegt werden, damit klar ist, dass wir als Europäer diese Unterdrückung von Freiheit und Demokratie nicht dulden. Da müssen nächste Schritte folgen.
"Ohne Gesprächsbereitschaft sind Einflussmöglichkeiten begrenzt"
Engels: Rückblickend gab es ja Momente in den letzten Monaten, wo Lukaschenko zu schwanken schien, auch Russland schien zwischenzeitlich etwas zögernd zu sein, diesen Lukaschenko noch weiter zu unterstützen. Haben EU und Deutschland hier eine Chance verpasst, stärker Druck zu machen auch auf Moskau, aber auch auf Minsk, um hier tatsächlich unterstützend zu sein und dem Oppositionsanliegen zu helfen?
Schmid: Die EU und gerade auch Deutschland haben direkt den Kontakt zu Moskau gesucht, und das hat auch dazu geführt, dass Moskau keinerlei militärische oder ähnliche direkte Interventionen vorgenommen hat. Aber es bleibt dabei, wenn Lukaschenko nicht bereit ist, mit Vertretern der EU ins Gespräch zu kommen, dann sind unsere Einflussmöglichkeiten begrenzt. Das ist etwas, mit dem wir nicht gerechnet haben, dass Lukaschenko überhaupt nicht bereit ist, zu Gesprächen zu kommen. Deshalb ist der Druck durch Sanktionen besonders wichtig, und deshalb ist ja auch die Unterstützung der Opposition, die politische Unterstützung der Opposition gerade in Berlin beim Besuch von Frau Tichanowskaja besonders deutlich geworden, denn wir sind an der Seite derjenigen, die für Freiheit und Demokratie in Belarus streiten.
"Auf mittlere Sicht wird die Freiheit siegen"
Engels: Das sind die Werte, aber droht die harte Führungslinie von Lukaschenko nun aber de facto zum zynischen Vorbild für Autokraten zu werden, weil sie sehen, dass Unnachgiebigkeit zum Machterhalt führt?
Schmid: Kurzfristig gibt es immer wieder solche Effekte, dass Härte den Machterhalt zu sichern scheint, aber auf mittlere Sicht wird die Freiheit siegen, denn das ist so eine breite Bewegung, und Lukaschenko hat auch so viel Kredit verspielt in den Reihen der eigenen Bevölkerung, dass er sich nicht dauerhaft an der Macht halten lassen wird. Entscheidend wird sein, wie das Ultimatum von Frau Tichanowskaja Ende Oktober aufgegriffen wird, ob die Staatsbetriebe beispielsweise sich an dem Generalstreik beteiligen, ob innerhalb des Sicherheitsapparates sich Abspaltungen zeigen, also die innere Dynamik in Belarus wird die entscheidende sein. Auch Frau Tichanowskaja hat ja zu Recht darauf hingewiesen, der Schlüssel zur Lösung der Probleme liegt in Belarus selbst. Wir können das von außen unterstützen und ermuntern, aber letzten Endes kommt es darauf an, dass die Bevölkerung selber sich dann vollends von Lukaschenko distanziert.
Engels: Aber Sie haben es angesprochen, jetzt kommt der Winter, auch zuletzt waren Streikaktionen nicht mehr sehr erfolgreich. Haben Sie noch ernsthaft Hoffnung, dass die Streik- und die Oppositionsbewegung in Belarus noch mal stärker wird?
Schmid: Ich hab jetzt nicht die Hoffnung, dass unmittelbar wieder große Massenproteste bei winterlichen Temperaturen stattfinden werden, aber die Stärke dieser Oppositionsbewegung wird sich darin zeigen, dass in den nächsten Monaten und vor allem dann auch ins neue Jahr hinein die Widerstände andauern werden und dass Lukaschenko früher oder später eine Form von Wahlen zulassen wird. Die Frage wird nur sein, inwiefern denn die Opposition als organisierte Opposition dabei sein wird oder nicht. Die Gefahr ist groß, dass es ein russisches Modell von Fassadendemokratie wird, umso wichtiger ist es, dass wir von außen die Oppositionskräfte weiter unterstützen. Dazu gehören Stipendien, Unterstützung unabhängiger Medien und natürlich auch die unmittelbare Hilfe für die Opfer von Repression.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.