In Belarus gehen die Proteste gegen die Präsidentschaftswahl und Staatschef Alexander Lukaschenko weiter. Am Wochenende kam es in der Haupstadt Minsk zur bislang größten Demonstration der Opposition. Bei einem "Marsch der Freiheit" forderten Zehntausende Lukaschenkos Rücktritt. Der Präsident lehnt Neuwahlen weiter ab. Bei einer Gegendemonstration versuchte er erstmals, seine Anhänger zu mobilisieren. Zuvor hatte er in Russland um Unterstützung ersucht. Moskau sicherte seinem Nachbarn und Verbündeten Belarus Beistand im Ernstfall zu.
Für Nils Schmid, Außenpolitischer Sprecher der SPD im Bundestag, sieht man an der Entwicklung in Belarus, dass es entscheiden darauf ankommt, dass die Veränderungen aus der Gesellschaft heraus angestoßen werden. Das sei überraschend, erfülle ihn aber auch mit großer Hoffnung, dass dort jetzt eine breite Volksbewegung für einen Wandel auf der Straße sei. Den Menschen gehe es um eine sehr einfache Forderung: Sie wollten faire und freie Wahlen. Daraus sei die Stärke der Bewegung entstanden, sagte Schmid im Dlf.
"'Runder Tisch' ist der richtige Weg"
Es stehe andererseits keine alternative Partei bereit, die die Führung übernehmen könne. Daher sei die Forderung nach einem "Runden Tisch zur Gestaltung von politischer Vielfalt unter Einbeziehung aller politischer Kräfte" genau der richtige Weg. Die Europäische Union sieht Schmid dabei in der Pflicht durch eine "kraftvolle diplomatische Initiative", einen entsprechenden nationalen Dialog und diplomatischen Wandel in Belarus zu befördern.
Dafür stünden der EU durchaus Hebel zur Verfügung – zumal auch die belarussischen Eliten eine Eigenständigkeit ihres Landes gegenüber Russland behalten möchten, glaubt Schmid. Daher müssten sie den Dialog mit der EU suchen. Zugleich sei es wichtig, von vorne herein eine rote Linie gegenüber Russland zu ziehen, dass jegliche Intervention in Belarus sanktioniert werde.
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Philipp May: Herr Schmid, Olaf Scholz nennt Lukaschenko einen schlimmen Diktator, Sie auch?
Nils Schmid: Ja, da hat Olaf Scholz vollkommen recht. Lukaschenko ist ein übler Diktator, der auch nicht davor zurückgeschreckt hat, politische Gegner verschwinden zu lassen, der immer wieder Oppositionelle massiv unterdrückt hat. Es wäre für Belarus und Europa gut, wenn wir politischen Pluralismus und eine politische Öffnung, auch einen Machtwechsel in Belarus hin zu einem tatsächlich durch faire Wahlen legitimierten Herrscher bekommen könnten.
Einfaches Programm ist Stärke und Schwäche der Bewegung
May: Kann man denn üble Diktatoren mitten in Europa gewähren lassen?
Schmid: Das ist natürlich eine Frage, die man nur mit Nein beantworten kann. Allerdings ist immer die Frage, was können wir von außen tun, um die Dinge hin zum Besseren zu befördern. Wir sehen ja gerade in Belarus, dass es entscheidend darauf ankommt, dass aus der Gesellschaft des Landes heraus die Veränderungen angestoßen werden. Das hat uns ja alle etwas überrascht und erfüllt uns mit großer Hoffnung, dass eine so breite Volksbewegung für einen Wandel jetzt in Belarus auf der Straße ist. Das ist ja nicht das übliche Geschehen, dass oppositionelle Parteien ihre Anhänger zusammentrommeln, sondern es geht um eine sehr einfache Forderung: Die Menschen in Belarus wollen faire und freie Wahlen.
Das ist ein sehr einfaches Programm, und daraus ist auch die Stärke der Bewegung entstanden. Es ist zugleich eine Schwäche, denn klar ist, es steht jetzt keine alternative Partei bereit, die aus dem Stand heraus einfach so das dann übernehmen kann. Deshalb ist die Forderung nach einem "Runden Tisch" oder nach einem Dialog zur Gestaltung von politischer Vielfalt unter Einbeziehung aller politischer Kräfte genau das Richtige, so wie ja auch in der Reportage es berichtet worden ist.
May: Die Frage ist natürlich nur, was können Sie jetzt tun, was kann Deutschland tun, was kann die EU tun, um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen?
Schmid: Zunächst hat die EU schon einiges getan. Es hat ganz klar Lukaschenko die Grenzen aufzeigt - mit Verhängung von Sanktionen gegenüber den Verantwortlichen der Unterdrückung …
May: Bisher ist das nur eine Ankündigung, es ist noch nichts passiert.
Schmid: Ja, aber das ist jetzt eine technische Sache, dass die entsprechenden Personen herausgefunden werden und gelistet werden.
EU steht nicht ohne Hebel da
May: Wie lange wird das dauern?
Schmid: Das ist eine Sache von wenigen Wochen, das kann relativ schnell geschehen. Wir haben ja auch schon Sanktionen, die gegen belarussische Verantwortliche nach wie vor in Kraft sind. Aber ich finde auch, dass jetzt Zeit ist für eine kraftvolle diplomatische Initiative. Das Weimarer Dreieck, also Polen, Frankreich und Deutschland, sollten auf höchster Ebene, Ebene der Regierungschefs, jetzt direkt bei Lukaschenko intervenieren, um einen "Runden Tisch" und einen nationalen Dialog einzufordern. Ich finde, dass die Europäische Union jetzt aktiv einen solchen politischen Wandel befördern sollte.
May: Und so eine diplomatische Intervention, glauben Sie, die wird Lukaschenko beeindrucken?
Schmid: Es ist zumindest ein sehr deutliches Zeichen, dass die EU mit Lukaschenko nur dann noch weiterreden wird, wenn er sich für einen politischen Wandel bereiterklärt. Es ist ja nicht so, dass die EU völlig ohne Hebel dastünde. Weißrussland will die Eigenständigkeit auch gegenüber Russland aufrechterhalten, auch die Elite um Lukaschenko herum will sich nicht von Russland vereinnahmen lassen. Also wenn die belarussische Führung weiterhin die Eigenständigkeit bewahren will, dann wird sie um einen Dialog mit der EU nicht umhinkommen. Denn schließlich ist auch die EU diejenige Institution in Europa, die am ehesten auch eine wirtschaftliche Modernisierung von Belarus unterstützen kann.
"Rote Linie gegenüber Russland ziehen"
May: Gibt es einen Punkt, an dem Sie, an dem auch die SPD, an dem die Bundesregierung sagt, bis hierhin und nicht weiter?
Schmid: Dieser Punkt ist ja schon mit der Verfälschung der Wahlen erreicht. Wir haben einen Punkt, eine rote Linie, die wir auch gegenüber Russland klar ziehen müssen, das ist: Jegliche Form von Intervention von Russland würde nicht nur Belarus belasten, sondern würde auch neue Sanktionen gegen Russland nach sich ziehen. Also auch da ist wichtig, von vornherein eine rote Linie gegenüber Russland zu ziehen.
May: Meinen Sie, das wird passieren? Wird Russland am Ende Panzer schicken möglicherweise?
Schmid: Das ist Spekulation. Rein formal gibt es ein Militärbündnis zwischen Belarus und Russland. Allerdings weiß auch Russland, dass ein solches Abenteuer weitreichende Folgen für das Verhältnis zum Westen haben würde. Und wer weiß, ob Russland überhaupt ein Interesse hat, nach der Ostukraine und der Krim sich einen weiteren Sanierungsfall ans Bein zu binden. Russland hat massive innere Probleme. Die eigene Wirtschaft läuft nicht besonders gut, die Legitimation von Putin wird aus der Gesellschaft heraus infrage gestellt. Deshalb spricht wenig dafür, dass Russland dieses tut. Umso wichtiger ist es, dass die Europäer von vornherein deutlich machen, dass sie das nicht akzeptieren werden.
Modell "Runder Tisch" statt Modell Maidan
May: Stehen wir also nicht vor der gleichen Situation wie 2013 in der Ukraine – was ist der Unterschied?
Schmid: Der Unterschied ist, dass die breite Volksbewegung in Belarus uns eher an die Wendezeit 1989/90 in Osteuropa erinnert. Deshalb glaube ich auch, dass das Modell, um einen politischen Übergang zu organisieren, eher in einem Runden Tisch zu liegen hat als in einer Bewegung, wo mit einem Schlag quasi von der Straße heraus die Führung gestürzt wird. Die Machtressourcen von Lukaschenko sind immer noch groß, die Absplitterung von Offiziellen – seien es Bürgermeister, seien es Sicherheitskräfte – ist bisher sehr gering. Deshalb spricht vieles für das Modell "Runder Tisch" und weniger für das Modell Maidan.
May: Wer könnte denn an diesem Runden Tisch überhaupt sitzen?
Schmid: Wir haben in Belarus traditionelle, oppositionelle Parteien, wir haben neue zivilgesellschaftliche Bewegungen, die bei den letzten Kommunalwahlen und Parlamentswahlen angetreten sind, und wir haben natürlich die Bewegungen rund um die Präsidentschaftskandidaten, die nicht zugelassen worden sind, beziehungsweise um Frau Tichanowskaja. Diese Kräfte sind durchaus in der Lage, einen "Runden Tisch" zu gestalten, und das Ziel ist ja klar: Möglichst bald freie und faire Wahlen durchzuführen, und dann sollen die Bürger von Belarus selber entscheiden, welchen politischen Weg sie gehen wollen. Es geht ja jetzt nicht um EU-Beitritt oder NATO-Beitritt, es geht um die Eigenständigkeit von Belarus als freies, demokratisch regiertes Land.
May: Würde Deutschland, würde die EU es wegen Belarus tatsächlich auf eine neue Konfrontation mit Russland ankommen lassen?
Schmid: Ja. Es kann nicht sein, dass selbstständige Staaten, die Teil der ehemaligen Sowjetunion sind, von Russland schikaniert und kujoniert werden. Entscheidend ist wirklich der freie, in fairen Wahlen auch zum Ausdruck gebrachte Wille der Bevölkerung von Belarus, und die wollen – nach allem, was wir jetzt sehen und hören – selber über ihr Schicksal entscheiden. Genau das sollten wir Europäer, aber das muss auch Russland ihnen gewähren.
Gezielte Sanktionen satt breite Wirtschaftssanktionen
May: Bisher, Sie haben es gesagt, hat die EU ja nur Sanktionen gegen Einzelpersonen angekündigt. Wann ist der Punkt erreicht, wo Sie sagen, jetzt gibt es generelle Wirtschaftssanktionen?
Schmid: Diesen Punkt sollten wir nach Möglichkeit vermeiden, denn Wirtschaftssanktionen treffen ja die gesamte Bevölkerung. Ich bin sehr für gezielte Sanktionen, die kann man auch ausweiten auf die Verantwortlichen in der Machtelite und in den Sicherheitskräften. All diejenigen, die jetzt an der Wahlfälschung, an der Unterdrückung der Opposition beteiligt sind, die sollte man listen, damit auch klar ist, sie dürfen nicht mehr reisen, ausländische Vermögensgüter werden ihnen entzogen. Das muss die klare Botschaft von Sanktionen sein. Wir sollten aber keine Sanktionen verhängen, die die eh schon labile Wirtschaft und Gesellschaft in Belarus treffen.
May: Sie haben schon gesagt, bisher gibt es eigentlich nur die Forderung der Opposition in Belarus nach freien und nach fairen Wahlen. Wie sollte denn Belarus Ihrer Ansicht nach in der Ära von Alexander Lukaschenko aussehen?
Schmid: Es sollte ein politischer Pluralismus mit gleichberechtigtem Zugang zu Medien sein, auch eine Medienfreiheit sollte möglich sein, und das Allerwichtigste ist, kurzfristig die vollständige Abschaffung der Todesstrafe, damit Belarus auch Mitglied im Europarat werden kann. Das wäre ein wichtiges Zeichen dafür, dass Belarus völkerrechtlich in die Familie der europäischen Völker aufgenommen werden kann. Und dann sollen die Belarussen ihre wirtschaftlichen und innenpolitischen Gestaltungen selber entscheiden. Das ist dann eine Sache von demokratischem Aushandeln und demokratischen Kompromissen.
EU-Zusammenarbeit mit Belarus verstärken
May: Und wenn sich die belarussische Öffentlichkeit dafür entscheidet, sich Richtung EU zu orientieren, unterstützen Sie das?
Schmid: Die Republik Belarus ist ja schon Mitglied der östlichen Partnerschaft, also hat schon die Möglichkeit, eng mit der EU zusammenzuarbeiten. Das kann ausgedehnt werden. Nach allem, was man liest und hört, steht ein EU-Beitritt unmittelbar nicht zur Debatte. Das müsste dann je nachdem von der belarussischen Seite formuliert werden, und selbst dann wissen wir ja aus anderen Beitrittsverhandlungen, dass das eine sehr, sehr langfristige Perspektive ist. Was wir aber auf alle Fälle anbieten sollten, ist eine verstärkte Zusammenarbeit mit Belarus im Rahmen der östlichen Partnerschaft, so wie wir es beispielsweise mit Armenien halten.
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