Archiv


Schmieröl für den Bildungsbürger

Vier erste Seiten lang durfte ich die Hoffnung hegen, Hanns Josef Ortheil schließe mit seinem jüngsten Buch an die wunderbar durchpulste autobiographische Prosa von "Das Element des Elephanten" aus dem Jahre 1994 an. Doch der Autor streift hier nur die bewegenden Momente seiner frühen Kindheit. Er will jemanden beunruhigen. Am wenigsten sich selbst. Und also folgen dreihundert Seiten, auf denen der behäbige Schriftsteller uns durch die wenig aufregenden Orte seines Lebens führt, ein paar Bilder betrachtet, Restaurants huldigt und literarische Impressionen zum Besten gibt.

Von Walter van Rossum |
    Da Ortheil 1951 in Köln geboren wurde, beginnt er mit einer tiefschürfenden Betrachtung des rheinischen Frohsinns. Wer in Köln lebt, kennt diese Sorte Brauchtumsphilosophie ad nauseam, und er weiß, dass kaum ein Wort davon der Rede Wert ist. Doch unverdrossen kalauert Ortheil über den tieferen Zusammenhang von Kölsch als Sprache und als Getränk. Tätärätä!

    Und wenn Köln sich für diesen Cicerone nur durch viele Liter Kölsch erschließt, dann müssen es in Italien natürlich entsprechende Mengen an Prosecco oder Weißwein sein. Seite für Seite begegnen wir den Requisiten seiner methodischen Sinnesfreude: "Dein Lammrücken wird nun serviert, und Du beginnst, das rosarote Fleisch langsam von den dramatisch aufragenden
    Knochen zu schneiden." Was in etwa schon der dramatische Höhepunkt dieses überaus betulichen Autorenlebens sein dürfte.

    Wir sollten uns nicht von dem poetischen Titel betören lassen. Das Buch ist nichts anders als eine Buchbindersynthese aus verstreuten Texten eines Gebrauchsschriftstellers. Feuilletons hätte man das früher genannt, sozusagen: humanistisches Schmieröl für den Bildungsbürger. Es erlaubt uns
    einen ernüchternden Blick auf die reichlich flache Erregungskurve eines Kunstarbeiters unserer Tage - Balsamico getröstete Einsichten eines Versonnenheitsdarstellers: "Die Landschaft, die man von der Höhe aus gewahr wird, eine beinahe klassische Landschaft der Marken, beschäftigt das Auge mit unendlicher Abwechslung auf engstem Raum. Der ungenaue Blick nimmt nichts anderes wahr als Felder und Weinberge, Olivenbäume, längst verlassene alte Bauernhäuser, schmale, kurvenreiche Wege und Pfade." Viel ungenauer lässt sich tatsächlich kaum mehr wahrnehmen, da helfen auch alle Sentenzen nicht mehr: Pegasus quält sich als Ackergaul durchs fade Lebensgelände.

    Es wird nicht viel geistreicher, wenn Ortheil über Literatur spricht. Zugegeben, über Adornos Redestil gelingen ihm ein paar hübsche Beobachtungen. Aber spätestens bei den beiden Bänden "Briefe aus dem Krieg 1939-45" von Heinrich Böll möchte man wieder verzweifeln. Der onkelhafteste aller Schreiber wagt es, von Böll durchgängig als Unseralleronkel Hein zu sprechen und ergeht sich sodann fröhlich über das sprachliche Ungeschick des jungen Böll. Geblendet vom Feuerwerk seines Witzes entgeht diesem einzigartigen Partisan der Banalität natürlich, die verblüffend konsequente Haltung Bölls in diesem Krieg, und was es geheißen haben muss, dies ohne Sprache durchzustehen. Sprachlosigkeit ist eben manchmal besser, als die Konkursmasse abgestandener Salonrhetorik immer und immer wieder aufzukochen.

    Apropos Böll - der hatte mal bemerkt: Jemand, der nicht schreibe, könnte sich nur schwer vorstellen, was es heißt, eine Seite zu Papier zu bringen, die man nach fünf Jahren noch lesen könnte, ohne zu erröten. Eine Scham, die Ortheil völlig fremd zu sein scheint. Dabei taugt sein Buch vor allem als Beleg für Bölls Diktum. Und man muss es noch einmal ganz deutlich sagen: Nur den wenigsten Kritikern gelingt es, aus der kritischen Dienstleistungsprosa einen Text zu machen, der über den Anlass hinaus Bestand hat. Ortheil gehört mit Sicherheit nicht dazu.

    Falls Sie es noch nicht wussten: Das Fernsehen bedroht den Genius des Abendlandes. Glücklicherweise versorgt uns Hanns-Josef Ortheil mit unwiderstehlichen Gegenmitteln aus seiner Tiefssinnsapotheke: "Intimes Sprechen" - wozu die geistreiche Konversation zu gehören scheint: "Daher ist die Konversation im besten Sinne urban, sie setzt ein lebhaftes öffentliches Leben voraus, in dem die Gesprächspartner verankert sind und dem sie so etwas wie Erfahrung und Wissen verdanken." Dagegen sind die Gratiszeitschriften der Deutschen Bundesbahn schon schwere Theoriekost.

    Und ansonsten hilft Thomas Mann immer weiter. Als dem Romancier Ortheil telefonisch die Verleihung des Thomas-Mann-Preises angekündigt wird, führt das nicht nur zu seitenlangen Ohnmachtsanfällen, sondern auch zu einer literarischen Konversation mit dem siebenjährigen Sohn. Und also spricht der ans Klavier gelehnte Knirps: "Großartig, sagt mein Sohn, all diese Assonanzen und Alliterationen sind großartig: wogen und wiegen, brummelnd und bimmelnd." Sollte diese Anekdote sich wirklich so zugetragen haben und nicht wie so vieles andere in diesem Katalog der Gemeinplätze schlecht erfunden sein, dann muss man sich um den Kleinen Sorgen machen. Für den Vater ist es wahrscheinlich schon zu spät.

    Hanns-Josef Ortheil
    Die weißen Inseln der Zeit. Orte. Bilder. Lektüren
    Luchterhand Verlag, 317 S., EUR 9,50