Venedig ist ein Geschichtslabyrinth. Man verläuft sich schnell in den Verästelungen der Vergangenheit. Selbst an der breiten Uferpromenade Riva degli Schiavoni mit Blick auf die Lagune hinüber zum Lido gibt es kein Entrinnen. Auf dem kurzen Weg von meiner Unterkunft im Stadtteil Castello zur Vaporetto-Station San Zaccharia begegne ich auf der Riva jeden Morgen dem Dichter Francesco Petrarca. Von seinem Zimmer aus konnte er vor rund 700 Jahren im Westen sogar seine Heimat sehen, die Euganeischen Hügel. Kurz hinter Petrarca wartet Antonio Vivaldi. Die Kirche Santa Maria della Pietà, wo der "Rote Priester" mit den ihm anvertrauten Waisenkindern musizierte, ist zurzeit eingerüstet. Venedig saniert an seinem Erinnerungslabyrinth, so gut es geht, herum.
Bei der Überfahrt zum Lido hält das Boot auch an der Insel San Lazzaro degli Armeni. Früher wurden hier die Leprakranken isoliert und versorgt. Im 18. Jahrhundert ließen sich armenische Mönche in den alten Gemäuern nieder und sorgten für eine Blüte der armenischen Kultur mitten in der Lagune. "Armenia" steht auf dem blauen Rumpf eines Segelschiffs, das an der Kaimauer vor Anker liegt, geschrieben. Der Name der Insel auf einem Schild an der Anlegestelle ist auch in einem armenischen Schriftzug zu lesen. Venedig war mit den Völkern des Mittelmeerraums bis weit nach Asien hinein immer eng verbunden.
Ich muss an Fatih Akins Film "The Cut" denken, sein Historiendrama über den Völkermord an den Armeniern 1915 im untergehenden Osmanischen Reich. Gestern und heute waren die Filmfestspiele ein konzentriertes Geschichtsseminar. Mit grausamen Bildern gibt Akin eine Vorstellung davon, wie hunderttausende Armenier auf Todesmärschen in den Untergang getrieben wurden. Vor allem aber erzählt er von der Odyssee der Hauptfigur Nazaret Manoogian, der den Genozid durch einen Zufall überlebt und sich auf die Suche nach seinen beiden Töchtern macht. Der Film ist handwerklich meist gut gemacht, ästhetisch aber alles andere als innovativ. Was für die meisten Historienfilme gilt, die gestern und heute gezeigt wurden.
Der Italiener Mario Martone geht mit seiner Geschichtsbetrachtung ein Jahrhundert weiter zurück. In "Il giovanne favoloso" erzählt er das ungewöhnliche Leben des 1837 jung gestorbenen Dichters Giacomo Leopardi, von seiner Genialität, seiner Skepsis, seinem Lebenshunger.
Mit "Tsili" katapultierte mich der israelische Regisseur Amos Gitai dann wieder ins 20. Jahrhundert. Seine Kamera beobachtet die junge Jüdin Tsili gegen Ende der Naziherrschaft. Die traumatisierte junge Frau hält sich in den Wäldern von Czernowitz versteckt. Sie hat sich ein Nest aus Ästen gebaut, ernährt sich von Beeren und Pilzen, während in nicht allzu weiter Ferne das unablässige Grollen der Kriegsfront zu hören ist. Mit Tsilis Wahn- und Stumpfsinn, dem die Kamera in langen und bewegungslosen Einstellungen stoisch folgt, zeigt Gitai den Untergang eines Volkes und einer Kultur.
Ein immer schriller werdendes Schlachtgemälde
Amos Gitais minimalistischer Kunst setzt der Japaner Shinya Tsukamoto einen blutigen Maximalismus entgegen. Sein Film "Fires on the Plain" reißt mich aus den kargen Kiefernwäldern der Ukraine fort, bringt mich auf die andere Seite der Erdkugel in den Urwald einer philippinischen Insel, ein Jahr nach Czernowitz, 1945. Die japanischen Soldaten flüchten Hals über Kopf vor den vorrückenden Amerikanern. Schädeldecken reißen die Kanonaden ab, Hirne quellen heraus, Maden fressen die noch lebenden Körper auf, getrocknetes Menschenfleisch dient den Flüchtenden zur Nahrung, die Männer werden zu bösen Tieren. Soldat Tamura, lungenkrank, immer der schwächste, immer der letzte, seit je der schlechteste Kämpfer des Kaisers, von Haus aus Dichter-– er rennt mit und beobachtet den ganzen Wahnsinn und schafft es tatsächlich bis nach Hause an seinen Schreibtisch, wo er seine Kriegserlebnisse zu Papier bringt. Tsukamotos Antikriegsfilm hat keine neue Botschaft. Sein überzeichnetes und immer schriller werdendes Schlachtgemälde, das seine Szenen schnitttechnisch förmlich zermetzelt, zeigt die Hölle auf Erden.
Das Geschichtsseminar der Filmbiennale hatte aber auch leisere Töne parat. Zurück nach Europa. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Lokale Konflikte flammen in den Fünfzigerjahren auf. Frankreich versucht sich gegen den Verlust seiner Kolonie in Algerien zu stemmen. Junge Männer müssen für den Kampf rekrutiert werden. In Mario Fanfanis Film "Les nuits d’été" finden in einem Transvestiten-Klub Leute zusammen, die sich weigern, beim französischen Kolonialkrieg mitzumachen. Die Transvestiten verstecken sich in einem Landhaus im Elsass. Es gehört dem wohlhabenden Bürgermeister einer Provinzstadt, der sich selbst gerne als Frau verkleidet, daheim in der Familie aber den konservativen Bürger mimt. An der Doppelrolle droht er zu zerbrechen, wie auch seine Frau mit der Rolle als Bürgermeistersgattin immer unzufriedener wird. Auf einer Veranstaltung zur Unterstützung des Algerienkriegs hält sie in einer Rede dagegen und sorgt für einen Eklat. Zugleich wird sie mit den Neigungen ihres Mannes konfrontiert, worauf das Paar zu einem neuen Verhältnis findet. Fanfani hat diese ebenso politische wie private Geschichte mit einem fantastischen Schauspielerensemble wunderbar inszeniert. Ein Film über den Aufbruch in eine emanzipierte Gesellschaft. Auch eine leise Filmsprache kann intensives Kino liefern, habe ich gedacht. Und wurde von einem palästinensischen Film bestätigt: "Villa Touma" von Suha Arraf.
Die Erinnerungen werden müde
Ramallah im Westjordanland, nach der Besetzung durch Israel. Die Zeit: die 80er bis 90er Jahre. Die drei Schwestern einer christlichen Adelsfamilie leben in ihrer bürgerlichen Villa und versuchen mit aller Macht, die guten alten Zeiten aufrecht zu erhalten, als man noch Französisch sprach und Chopin spielte. Klaustrophobisch stecken die drei Araberinnen in Vergangenheit fest. Erst als sie die Tochter ihres verstorbenen Onkels, die in einem Waisenhaus in Jerusalem aufgewachsen ist, zu sich nehmen, bekommt ihr luxuriöses Gefängnis erste Risse. Ein toller Film über Geschichte und Gegenwart, über Nostalgie und den großen kulturellen Reichtum des Nahen Ostens.
So war die Geschichtsreise am Abend nach zweieinhalb Tagen erst einmal beendet. Erschöpft stieg ich wieder ins Vaporetto. Leise zogen wir an der verwaisten Insel San Lazzaro degli Armeni vorbei. Auch bei Vivaldi und Petrarca brannte kein Licht mehr. Manchmal werden sogar in Venedig die Erinnerungen müde und schlafen ein. Ich mache gerne mit. Buona notte.