Auf den Straßen und in den Cafes rund um die Kinos der Filmbiennale ist es eigentümlich still. Auch heute morgen im Riesenkinozelt "PalaBiennale". Um 8: Uhr 30 vorhin war es nur zur Hälfte besetzt. Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm "The look of silence" über den millionenfachen Massenmord der Militärjunta in Indonesien 1965 wurde gezeigt. Beim schönen Wetter in Venedig wird man so immer wieder in den Schrecken der Geschichte gestürzt. Stille, Ruhe, Gelassenheit schweben über diesem Festival. Auch in den kurzen Pausen zwischen den Filmen. Nachdenkliches Schweigen. Keine nervösen Massen, die sich von Termin zu Termin drängen, keine Hektik eiliger Kollegen, die ihre Redaktionen mit Texten und Fotos versorgen müssen. Ganz anders als bei den Filmfestspielen in Cannes und Berlin.
Lido, Lagune, Insellage
Wenn die Filme auf dem Lido nicht so viel zu erzählen hätten, könnten man sich an den Tischen des sogenannten "Movie Village" im Schatten der Bäume unter weißen Sonnendächern, auf weißen Stühlen an weißen Tischen sogar entspannen. Auf den frisch ausgerollten Rasenflächen liegen sogar Kissen in Riesenformat ausgebreitet und laden zum Ausstrecken ein. Hinzu kommt die Insellage des Festivals. Wie die Lagunenstadt selbst ist der Lido von der Welt abgeschieden. Außerdem können die Italien Räume gestalten. Man fühlt sich wie in der freien und friedlichen Natur, die aber zugleich gezähmt und stilisiert ist. Man sitzt im "Movie Village" zwar unter großen Bäumen, aber nicht auf dem Boden. Der Untergrund ist mit Holzpanelen aus industriellem Pressspan abgedeckt. Die Italiener sind nach wie vor Meister des Designs. In ihrer mentalen DNA stecken die harmonischen Proportionen der Renaissance.
Ein kühl-erotisches Wunderwerk
Der Eingang vor dem „Palazzo de Cinema" beispielweise ist ein kühl-erotisches Wunderwerk aus wolkenförmigen Körpern in Rot, die hoch über dem roten Teppich schweben. Im Morgenlicht vorhin wirkte die Szenerie wie ein Filmset. Und wenn dann die Schauspieler und Regisseure samt Tross zu ihren Premieren durch diesen lippenstiftroten Rausch ins Kinogebäude schreiten, blasen ihnen unsichtbare Nebelmaschinen wallende Schleier um die Knöchel. Hier knubbeln sich dann hinter den Absperrgittern die Schaulustigen und Autogrammjäger. Im Fernsehen sieht das wie ein hysterischer Massenauflauf aus. Als habe sich die ganze Kinowelt auf dem Lido versammelt. So ist es aber nicht. Das Gedränge konzentriert sich auf einen kleinen Bereich. Kamerabilder sind eben verführerisch. Mitunter lügen sie. Man muss aufpassen. Auch im Kino.
"Die Stars zu sehen, interessiert mich nicht"
Die Stars von Angesicht zu Angesicht zu sehen, interessiert mich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht. In Venedig schweben in diesem Jahr etwa Al Pacino, Jennifer Aniston, Bill Murray, Ben Kingsley und die "Grande Dame" des französischen Films Catherine Deneuve zusammen mit ihrer Tochter Chiara Mastroianni durch das rote Designwunder. Aber was sind diese Schauspieler? Eigentlich doch nur, sage ich mir, eine Hülle, die der Regisseur füllt, oder die Phantasie des Zuschauers. Der Filmschauspieler hat die Gabe mit seinem Gesicht die Leinwand zu sein, auf die der Regisseur seine Geschichte projiziert. Unterschätze ich die schauspielerischen Leistungen der Akteure? Oder haben nicht nur diejenigen das Zeug zum Kinohelden, die keine Eigenschaften haben, dafür aber die Gabe kristallklarer Spiegel für die verborgenen Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte der Filmemacher samt ihrer Teams einschließlich Publikum?
Leinwand und Wirklichkeit
Interessant fand ich, dass gestern, Donnerstag, in den Kinos gleich zwei Filme liefen, die das Verhältnis zwischen Leinwandgeschichte und Wirklichkeit, zwischen Kunst und Gesellschaft reflektierten. Der französische Regisseur Xavier Beauvois erzählt in "La rançon de la gloire" eine recht witzige, wenn auch etwas kitschige Gaunergeschichte. Zwei Kerle stehlen den Sarg samt Leichnam von Charlie Chaplin. Sie graben ihn auf einem Schweizer Friedhof aus. Sie kidnappen gewissermaßen den Toten, um ihn für ein ordentliches Lösegeld einzutauschen. Auf die Idee kommen sie am Tag von Chaplins Todesmeldungen im Fernsehen 1977, als zu seinen Ehren seine Filme gezeigt werden. Und hatte Chaplin nicht immer so ein großes Herz für die Armen, für die Geächteten und Außenseiter? Die Gauner setzen die Moral des Komikers auf ihre Weise um. Mit seinen großartigen Schauspielern hätte Beauvois allerdings mehr machen können, finde ich, vielleicht hat er mit ihnen aber auch zu viel gemacht, zu dick aufgetragen. Die Leinwand ist empfindlich. Viel vertrackter, verrückter und verwirrender zeigt der Franzose Quentin Dupieux in seinem Film "Reality" die Wechselwirkung zwischen Film, Machern und Publikum. Ein geplanter Horrorfilm eines Kameramanns, die Albträume eines Lehrers, eine Kochshow im Fernsehen und der Fund einer Videokassette im Bauch eines erlegten Wildschweins, die sich eine kleines Mädchen anschaut, überlappen sich immer weiter, dass man irgendwann überhaupt nicht mehr unterscheiden kann, was wirklich ist, was Film, was Traum. Man verliert jegliche Orientierung.
Besinnung und Gleichgewicht bei einem kühlen Getränk
Dann ist es schön, für eine Weile wieder zum "Movie Village" hinüber zu gehen und im Schatten der Bäume bei einem kühlen Getränk zur Besinnung und ins Gleichgewicht zu kommen. Denn ich hatte noch den letzten und vierten Film des gestrigen Tages vor mir, einen iranischen, „Tales" von Rakhshan Banietemad. Bestes Kammertheater über die zwischenmenschlichen Konflikte in diktatorischen Verhältnissen, genauestens inszeniert, lebendig, natürlich. Die iranische Kinokunst gehört seit geraumer Zeit zum Besten, was man beim internationalen Kino sehen kann. Großer Beifall des Publikums, den das Filmteam glücklich entgegennahm. Heute, Freitag, geht's nach Oppenheimer weiter mit einem italienischen Beitrag über die Mafia, dann Ulrichs Seidl Doku „Im Keller" über die Obsessionen von Menschen, die sie so unter ihren Häusern ausleben. Wird wohl gruselig. Seidl eben. Österreich. Ausweg "Movie Village".