Es ist erstaunlich, wie schnell sich über der Lagune das Licht und die Farben verändern und damit auch die Stimmungen. Das muß mit der Weite zu tun haben, die von den äußerst dünnen Inselstreifen noch unterstrichen wird. Der Horizont von den Promenaden und vom Schiff aus gesehen liegt in einer kaum fassbaren Ferne. Und wo das Wasser aufhört und der Himmel, sei er blau oder grau und orange, beginnt, ist nur vage auszumachen. Jede noch so bescheidene Wolke, jede kleinste Nuancierung der Helligkeit durch den Wechsel der Luftfeuchtigkeit und durch den Gang der Sonne schaffen in Sekundenschnelle neue Farbverhältnisse.
In der letzten Nacht hatte es nach einem sintflutartigen Unwetter vorgestern samt Gewitter und Sturm wieder zu regnen begonnen, nachdem es tagsüber so klar gewesen war, dass man den Schnee auf den beleuchteten Gipfeln der Dolomiten auch vom Lido aus gestochen scharf sehen konnten. In der Früh heute morgen auf dem Weg zum Vaporetto war alles weg. Gedrückt, versunken, verstummt war das Licht.
Nicht ganz so rasch wie diese Veränderungen in der Wasser- und Stadtlandschaft, aber immerhin doch im Tages- manchmal auch Stundenrhythmus wechseln die Atmosphären auf den Leinwandflächen der Biennale.
Die Macher haben gut programmiert. Nach dem Kino des Schreckens und der Schmerzen letzte Woche, versetzt mit ein paar trivialen Lichtmomenten aus den USA und Frankreich, nach den historischen Rückblicken am Sonntag und Montag schien gestern das Weltkino auf mit Bildern aus entlegenen, unbekannten und teils exotischen Regionen der Jetztzeit.
Geschichte des Heranwachsens
Der in Berlin seit einigen Jahren lebende türkische Regisseur Kaan Müjdeci erzählt in einem dokumentarischen Wackelkamerastil von einem Jungen namens Aslan irgendwo im kargen Osten der Türkei, der sich um einen verletzten Kampfhund kümmert. Siva heißt das Tier, wie auch der Film. Siva wird für den Jungen bei Wettbewerben neue Kämpfe bestehen.
Der Hund ist für Aslan ist das äußere Zeichnen seines Erwachsenwerdens. Müjdecis Film lebt ganz und gar von der Präsens seines jungen Hauptdarstellers. Dieser zwölfjährige Bursche ist eine Wucht und sicherlich ein Glücksfall für den Regisseur, der ohne eine solche Naturbegabung seine Geschichte des Heranwachsens und Aufgenommenwerdens in die schroffe Männerwelt so authentisch kaum hätte erzählen können.
Richtung Osten
Viel weiter Richtung Osten führten zwei andere Filme. Adityavikram Sengupta mit "Labour of Love" nach Bangladesch, an einen Ort, wo die Kleider und Handtaschen hergestellt werden, die wir in Europa billig kaufen. Sengupta zeigt aber vor allem das innige Verhältniss eines jungen Ehepaars. Es sieht sich kaum, sie arbeitet tagsüber in einer Lederwarenfabrik, er nachts in einer Zeitungsdruckerei. Mit einer tiefen Ruhe und großen Liebe für jedes Detail folgt die Kamera den getrennten Arbeitswegen der beiden, wie einer dem anderen daheim viele Kleinigkeiten für die Ankunft des Partners vorbereitet. Am Schluss leuchtet der Film förmlich auf, er tritt in einen andere, lichte Bilddimension, wenn das Paar am Morgen für einen Moment zusammenkommt. Alles Liebes- und Verlustgedöns, das auf diesem Festival schon gelaufen sind, kann im Vergleich zu "Labour of Love" einpacken, um es schlicht und direkt zu sagen. Auch "Flapping in the Middle of Nowhere" aus Vietnam von Nguyen Hoang Diep ist ein sehr schöner Film über den Alltag junger Menschen in einem Armenviertel entlang einer katastrophal lauten Eisenbahnstrecke. Auch hier ist eine kunstvolle und wohlaustarierte Fotografie zu bestaunen.
Und wieder ein Lichtumschwung. Heute nachmittag, nach einem nicht besonders ergiebigem Wettbewerbsvormittag mit wieder mal einem italienischen Film über die Mafia und einem französischen über einen Jungen auf der Suche nach seinem Vater: Um 14:00 Uhr zeigte der junge deutsche Regisseur Timm Kröger in der Sektion "Settimana della critica" seine Abschlussarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg. Farben eines anderen Jahrhunderts hat dieser Film, Klänge eines anderen Jahrhunderts. Ein Abgesang auf die Romantik inszeniert Kröger. 1929 spielt der Hauptteil von "Zerrumpelt Herz". Thomas Mann, Gustav Mahler, Hans Pfitzner, Richard Wagner sind die Bezugspunkte. Ästhetisch und filmgeschichtlich angesiedelt irgendwo zwischen Andrei Tarkovsky und Heinz Erhardt, wie Kröger mir augenzwinkernd ins Mikrophon sagte.
Die Geschichte: Eine Hütte im tiefsten Schwarzwald, ein Komponist, der sich dorthin zurückgezogen hat, Freunde, die ihn besuchen wollen und zuerst nicht vorfinden, eine Suche, eine Begegnung: Tristanakkord. Das Publikum war begeistert, wie selten im Wettbewerb, wie nicht ganz so selten in den Parallelreihen. Der Film muß in die deutschen Kinos! Hoffentlich findet Timm Kröger bald einen Verleih. Und schnell die Produktionsmittel, um die beiden geplanten Fortsetzungen schreiben und drehen zu können. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Mehr Licht!