Schmitz' Blog aus Venedig, 30. August 2014
Sätze, die sich im Hirn einnisten

"So kann ich das Schwein an den Eiern aufhängen" – so oder so ähnlich lautete ein Satz in einem der Filme, die ich Freitag in Venedig gesehen habe. Kennen Sie das, dass man manchmal in einem Wortschwall, der einem nur so um die Ohren tost, ein einziges Wort oder einen einzigen Satz heraushört und nicht mehr vergisst? Er nistet sich im Hirn ein und beginnt zu wuchern.

30.08.2014
    Der österreichsische Regisseur Ulrich Seidl in Venedig
    Der österreichsische Regisseur Ulrich Seidl in Venedig - Christoph Schmitz hat seinen Film gesehen (dpa / picture alliance / Hubert Boesl)
    "So kann ich das Schwein an den Eiern aufhängen" – so oder so ähnlich lautete ein Satz in einem der Filme, die ich Freitag in Venedig gesehen habe. Kennen Sie das, dass man manchmal in einem Wortschwall, der einem nur so um die Ohren tost, ein einziges Wort oder einen einzigen Satz heraushört und nicht mehr vergisst? Er nistet sich im Hirn ein und beginnt zu wuchern.
    Der Schweine-Satz ist so einer. Es gab heute einen zweiten, in einem anderen Film: "Menschenblut schmeckt salzig und süß." Zum Schweine-Satz: Da spricht kein rüpelhafter Bauer oder herzloser Metzger, das spricht eine Frau, eine Ehefrau und zwar von ihrem Ehemann. Sie nennt ihn nicht nur "Schwein", sondern auch "Ehesklaven". In ihrer gemeinsamen Wohnung kriecht er auf allen Vieren nackt durch die Zimmer, leckt mit der Zunge das Glas der Duschwände sauber und die Kloschüssel, im Schlafzimmer darf er kuschelig sein, im Keller geht es dann richtig zur Sache.
    "Im Keller" – so heißt auch der Film, die diese sadomasochistische Ehegeschichte erzählt. Ulrich Seidl heißt der Regisseur - seit seiner "Paradies"-Trilogie bekannt für schräge Stories. Im Keller liegt der Ehesklave auf einer Streckbank, eine Schlinge hat ihm seine Herrin um die Hoden gezogen, über eine Winde hat sie das Seil gespannt, an dem sie kräftig zieht, dass der Mann aufstöhnt, und dann spricht sie jenen Satz, so beiläufig, als hätte sie nur die Wäsche aufgehängt.
    Ein ungeheuerlicher Satz, zumal die Frau zuvor deutlich gemacht hat, dass die Liebe zwischen ihr und ihrem Mann eine vollkommene sei und beide psychisch eben so und nicht anders gepolt seien, weswegen sie sich bestens ergänzten.
    "Kann das alles wahr sein?"
    Hinzu kommt: Dieses Verhältnis zwischen quälender Herrin und gequältem Sklaven ist keine Fiktion, sondern Wirklichkeit. Ulrich Seidls Film "Im Keller" ist eine Dokumentation nicht nur über dieses Paar, sondern über mehr als ein Dutzend Menschen in Wien, die ihre Obsessionen und eigenwilligen Hobbys in ihren dunklen Tiefgeschossen ausleben.
    Aber kann das wirklich echt sein, habe ich mich 85 Minuten lang immer wieder gefragt? Wenn ja, wird da nicht ein psychopathisches Abhängigkeitsverhältnis als freier Willensakt und als Normalität verkauft, so harmlos wie der Spaß eines Modelleisenbahn-Freaks? Dürfte man eine Krankheit mit solch klinischer Genauigkeit überhaupt zeigen? Stellt Seidl diese Menschen nicht bloß?
    Ich habe vor allem Fragen, weniger Antworten. Intuitiv dachte ich: Nein, da stimmt was nicht. Nach einigen Stunden Abstand tendiere ich zu sagen, Seidl stellt seine Figuren nicht bloß, er zeigt, was und wie Menschen sein können. Er ist ein radikaler Aufklärer. Einige seiner Keller-Wiener hatte der Regisseur sogar zum Anfassen mit auf den Lido zur Pressevorführung gebracht, auch das Sado-Maso-Paar – so wie man früher Elefanten oder Afrikaner auf dem Jahrmarkt als Sensation präsentierte, dachte ich. Beim Schlussapplaus verneigte sich das Paar artig. Auf dem Foto oben ist es zu sehen, die Dame mit dem roten Haar, links neben ihr: das "Schwein".
    Ulrich Seidl (Mitte) mit einigen seiner Protagonisten aus "Im Keller"
    Ulrich Seidl (Mitte) mit einigen seiner Protagonisten aus "Im Keller" (deutschlandradio.de / Christoph Schmitz)
    Welche bizarren Vergnügen in der Wiener Unterwelt Seidl noch so aufgespürt hat, will ich hier gar nicht verraten. Nur so viel: Es geht nicht nur um Sex. Die anderen Praktiken sind darum aber nicht weniger bizarr.
    "Freitag war Leidenstag"
    Bevor ich zum zweiten Satz komme, der mit dem Menschenblut: Der Biennale-Freitag war ein schmerzhafter Tag, ein Leidenstag. Der Italiener Franceso Munzi erzählt in "Black Souls" eine 'Ndrangheta-Geschichte in Calabrien. Zwischen zwei benachbarten Familien, die beide bis über die Ohren in kriminellen Machenschaften verstrickt sind, droht wieder einmal eine Blutsfehde. Die Gewalttaten schaukeln sich hoch, bis einer der Brüder des einen Clans, der die ganze gegenseitige Meuchelei längst satt hat, eingreift, aber nicht die Gegner liquidiert, sondern die Männer seiner eigenen Familie. Nur die Frauen bleiben übrig.
    Kein Mann mehr da, der sich rächen könnte. Der Teufelskreis ist auf eigene Kosten durchbrochen. Eine Mafia-Geschichte der anderen Art. Ziemlich gut. Wenn auch nicht besonders gedreht.
    Schmerzhaft auch der kroatische Film "These are the rules" von Ognjen Svilicic. Eine Großstadtgeschichte über eine Familie, deren einziger Sohn auf der Straße zusammengeschlagen wird. Einen Tag später stirbt er an einem Hirnhämatom.
    Und jetzt der angekündigte zweite Satz: "Menschenblut schmeckt salzig und süß." Ein ehemaliger Soldat spricht ihn aus. 1965 war er an den Säuberungsaktionen der Militärs in Indonesien beteiligt. Ein Million Menschen wurden geschlachtet. Und damit sie ihre Taten ertragen und nicht daran zerbrechen, redeten sie sich ein, das Blut ihrer Opfer zu trinken. Denn das schütze sie vor dem Wahnsinn.
    Der amerikanische Dokumentarfilmer Joshua Oppenheimer lässt den Bruder eines damaligen Opfers dessen Schicksal recherchieren. Eine erschreckende und ebenfalls aufklärende und immer spannende Geschichtserkundung.
    Die Biennale kann sehr hart sein. Manche Sätze und Bilder wird man nicht so schnell los.