Der Trinkwasserspender im Pressezentrum ist leer. Das Plastikfass wird seit gestern nicht mehr ausgetauscht. Das Filmfest von Venedig neigt sich dem Ende zu. Überhaupt wird vieles lässiger. Im Pressesaal mit den Computertischen wird häufiger laut geredet, viele Kollegen haben ihre wichtigsten Artikel vor der Preisgala morgen geschrieben, manche sind schon abgereist. Zu den letzten Vorstellungen kommen immer mehr Leute zu spät, werden aber umstandslos und freundlich vom Personal eingelassen und mit Taschenlampe zu den immer lichter werdenden Reihen geführt. Und die Filmvorführer in ihren unsichtbaren Kabinen spielen manchmal den falschen Beitrag ab, etwa den Anfang eines Horrorfilms statt "Pasolini" von Abel Ferrara über den italienischen Autor und Filmemacher Pier Paolo Pasolini, ein braves biographisches Stück über die Verzweiflung des Künstlers angesichts einer materialistischen Zivilisation kurz vor seinem gewaltsamen Tod am Meer bei Rom.
"Bleierne Zeit in Venedig"
Oder der Start einer Vorführung verzögert sich, mitunter über eine Stunde, weil etwas mit der italienischen Untertitelung nicht stimmt. Dann läuft das Stück endlich, und man sieht doch nur die bieder gedrehte Geschichte eines vierzehnjährigen Jungen, der angesichts einer schweren Erkrankung seiner Mutter seinen getrennt lebenden Vater erstmals aufsucht, einen Dirigenten, der in der Kleinstadt gerade zu Gast ist und Gustav Mahlers 6. Symphonie probt. "Le dernier coup de marteau" heißt die Arbeit von Alix Delaporte. Wieder ein Film im Wettbewerb, der meiner Meinung nach in dieser Sektion nichts zu suchen hat, die italienischen Untertitel hätte man sich sparen können. Künstlerisch ist dieser "Coup" vollkommen anspruchslos, wie so viele Stücke, die in diesem Jahr um den Goldenen Löwen konkurrieren. Eine so schwache Ausgabe habe ich in den letzten Jahren noch nie erlebt. Es ist, als habe auf dem Lido eine bleierne Zeit begonnen. Vielleicht gibt es Konjunkturen im Festivalgeschäft. Wie sollte es aber auch anders sein. Kunst ist immer auf der Suche. Das hat der Mensch so an sich.
Nicht weniger konventionell ist der Spielfilm "Good Kill", den ich vorhin gesehen habe, interessant besetzt mit Ethan Hawke in der Rolle eins Soldaten, der von einem Armeestützpunkt bei Las Vegas aus Drohnen im Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan, Jemen und Sudan steuert. Ein höchst brisantes Thema. Regisseur Andrew Niccol zeigt die Eskalation des Drohnenkrieges seit dem Jahr 2010, er zeigt die Szenen der Vernichtung auf den Computerbildschirmen der virtuellen Piloten und er führt mittels der Gespräche der Beteiligten vor allem eine Diskussion über die moralischen Fragen einer solchen Kriegsführung, die auch den Tod von Unbeteiligten, von Kindern und Frauen in Kauf nimmt. Niccol verbindet das geschickt mit einer Beziehungskrise zwischen seiner Hauptfigur und dessen Frau, kommt aber erzählerisch über den Mainstream nicht hinaus. Auch "Good Kill" ist kein Wettbewerbsfilm.
Außerhalb des Wettbewerbs wird's interessanter
Interessanteres Kino ist mir während der letzten neun Tage vielfach in den Sektionen außerhalb des Wettbewerbs begegnet, in den Reihen "Orrizonti", "Settimana della critica" und "Gironate degli autori". Über einige dieser teils sehr guten Arbeiten habe ich hier schon berichtet, etwa von "Labour of Love" aus Bangladesch oder "Les nuits d'été" aus Frankreich oder "Zerrumpelt Herz", das großartige Debüt des jungen deutschen Regisseur Timm Kröger. Ein nicht uninteressantes Stück gab es gestern noch. Der serbische Regisseur Vuk Rsumovic zeigt in "No One's Child" das Schicksal eines Jungen, der – man mag es glauben oder nicht – von Wölfen im Wald aufgezogen wurde und zum Beginn des Films gefangen und in ein Waisenheim gebracht wird. Wie sich die Pfleger um ihn kümmern, erfahren wir, ihm den Namen Pucurica geben, wie er Freunde gewinnt, zu sprechen und schreiben lernt und wie er gegen Ende in die Wirren des Bürgerkriegs gerät und serbische Soldaten ihn zum Kämpfer machen. Nach eine wahren Begebenheit soll das alles gedreht sein, heißt es seitens des Filmteams, das auch eine Moral parat hat, wenn der Junge am Schluß im Wald auf einen Wolf trifft, der sich aber von ihm abwendet. Von einem Wilden der Wildnis ist Pucurica zu einem Wilden der Zivilisation geworden. Nun ja. Sonst aber kein schlechter Film. Auch in den Parallelreihen macht sich eine gewisse Müdigkeit bemerkbar.
Und die Löwen?
Dennoch: Der Wettbewerb hatte hellwache Momente. Joshua Oppenheimers atemberaubenden Dokumentarfilm "The Look of Silence" über die Massenmorde in Indonesien in den sechziger Jahren hatte ich schon früh erwähnt. Zumindest kurz antippen sollte ich aber unbedingt noch die Tragikomödie "A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence" von Roy Andersson aus Schweden. Skurril, bizarr, grotesk, melancholisch und heiter ist dieser Film über deprimierte Scherzartikelverkäufer, verstummte Kneipenbesucher, koloniale Vernichtungsmaschinerien, die Sphärenmusik produzieren, und über einen schwedischen König aus alter Zeit, der auf seinem edlen Pferd in eine Schlacht zieht und an einer Theke samt Gaul Rast macht. Das wäre für mich ein Kandidat für den Goldenen Löwen, neben Oppenheimers "The Look of Silene". Morgen wissen wir mehr, wenn vorher hier nicht alles einschläft. Vermutlich ist es aber nur die Ruhe vor dem Preisfinale. Die Italiener können inszenieren, und die Entspannung vor der Gala ist ein wichtiger retardierender Moment beim Zeitdesign. Ich mache mich gleich davon und danke für die Aufmerksamkeit. Arrivederci.