Das "neue Amerika", das George Packer in seinem ehrgeizigen Non-Fiction-Buch "The Unwinding" beschreibt, ist ein Mosaik gescheiterter Institutionen, betrügerischer Pyramidensysteme, Konkursen, Zwangsvollstreckungen, Unwissenheit und Angst.
Kurz: Ein Buch, das in Deutschland viele Freunde finden wird, denn es passt zu einem weit verbreiteten Blick auf die USA, bei dem europäische Sozialstaatsverhältnisse das Nonplusultra sind, die Wirtschaftskrise hingegen der Beweis des allumfassenden Scheiterns des amerikanischen Traums ist.
Niemand kann sagen, wann das Auseinanderdriften begann – wann die Klammer, die die Amerikaner sicher und manchmal erstickend zusammengehalten hatte, zum ersten Mal nachgab.
Gleich einem Schauerroman leitet George Packer die Schilderung einer Nation ein, deren gesellschaftlicher Zusammenhalt sich angeblich auflöst.
"Viele Amerikaner fühlen sich völlig allein, ohne jegliche Aussicht auf Hilfe, und glauben, dass sich eine Art Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft breitmacht, in der es Eliten besser und besser zu gehen scheint und normale Leute, die sich einst für Mittelschicht hielten, mehr und mehr abrackern müssen."
Packers Kernthese: In den letzten 35 Jahren haben die Verlockungen eines zügellosen Kapitalismus' Amerikas demokratische Werte, mehr noch: den social contract, der seit Franklin Delano Roosevelts Sozialstaatsreformen galt, irreparabel untergraben.
Nicht von ungefähr nimmt der Autor stilistische Anleihen bei John Dos Passos' Krisentrilogie USA aus den 1930er-Jahren, um diese These in seinem non-fiction account herauszuarbeiten.
Collagen aus Schlagzeilen, Liedertexten, Werbeslogans illustrieren Jahrestage; Kurzporträts von Politikern, Popstars und anderen prominenten Amerikanern wechseln sich ab mit breit angelegten Lebensgeschichten ganz normaler US-Bürger.
Dieses Buch, hervorgegangen aus Packers Reportagen für das Magazin "The New Yorker", ist am stärksten, wo es seinen Hauptfiguren in den Alltag folgt: Dean Price, ein unverdrossener Öko-Don-Quichote aus North Carolina; die Fabrikarbeiterin Tammy Thomas aus Ohio in der krisengeschüttelten Industrieregion im Nordosten der USA; die Sozialhilfeempfänger-Familie Hartzell aus Florida; der politische Idealist Jeff Connaughton, der sich zum wohlhabenden Lobbyisten wandelt; und der kalifornische IT-Milliardär Peter Thiel.
Ausgerechnet Connaughton und Thiel, amerikanische Erfolgsgeschichten, gehören zu den Desillusionierten in "The Unwinding". Barack Obama etwa ist für Peter Thiel alles andere als ein Hoffnungsträger:
Präsident Obama glaubte wahrscheinlich, dass man am Niedergang nicht viel mehr machen könne als ihn zu verwalten. ... Deshalb blieb sein Blick auf die Zukunft merkwürdig leer.
George Packer lässt in seinem eindrucksvollen Schnappschuss der amerikanischen Gegenwart vor allem seine Protagonisten sprechen. Deren Lebensgeschichten aber offenbaren einen Widerspruch: Gerade diejenigen, die sozial am Rande stehen, machen sich immer wieder optimistisch an die Überwindung ihrer Misserfolge.
Die Gegenwart, so Packer, sei eben doch nicht völlig düster:
"Was nicht düster ist, ist die Energie, die Lebenskraft, der Humor, die Träume. Und wenn ich das große Bild und die Institutionen und führenden Persönlichkeiten ausblende und an diese Menschen denke, die ich so gut kennengelernt habe, dann geben die mir immer noch Hoffnung."
Nicht zuletzt schreibt Packer in einer der wenigen Passagen, in denen er in "The Unwinding" selbst das Wort ergreift:
Das Auseinanderdriften ist nichts Neues. Alle paar Generationen hat es dergleichen gegeben. .... Jeder Niedergang brachte Erneuerung, jede Implosion setzte Energie frei, aus jedem Auseinanderdriften kam neuer Zusammenhalt.
Damit beschreibt George Packer, was er zuvor infrage stellt: Dass Amerika auch in den größten Krisen stets von der Hoffnung auf den Neuanfang beseelt ist. Statt auseinanderzudriften, formiert die amerikanische Gesellschaft sich einfach neu – wie schon so oft.
In den USA steht "The Unwinding" seit Wochen auf den Bestsellerlisten. Die literarische Kraft der Porträts, die Packer zu einer Erzählung zusammenfügt, wird allseits gelobt.
Je weiter man sich von der linksliberal geprägten amerikanischen Ostküste entfernt, desto weniger Zustimmung findet allerdings seine These vom sozialen Auseinanderdriften. Zu wenig analytisch unterfüttert, sagen die einen Kritiker, zu selektiv Packers Beweisführung, die anderen. Doch das Buch hat ganz offensichtlich einen Nerv getroffen: "The Unwinding" passt in die rege Debatte um den Zustand der inneren pax americana, die die USA angesichts wachsender Ungleichheit seit geraumer Zeit führen.
George Packer: "The Unwinding. An Inner History of the New America".
Verlag Farrar, Strauss & Giroux, 434 Seiten, 19,70 Euro, ISBN: 978-0-374-10241-8
Kurz: Ein Buch, das in Deutschland viele Freunde finden wird, denn es passt zu einem weit verbreiteten Blick auf die USA, bei dem europäische Sozialstaatsverhältnisse das Nonplusultra sind, die Wirtschaftskrise hingegen der Beweis des allumfassenden Scheiterns des amerikanischen Traums ist.
Niemand kann sagen, wann das Auseinanderdriften begann – wann die Klammer, die die Amerikaner sicher und manchmal erstickend zusammengehalten hatte, zum ersten Mal nachgab.
Gleich einem Schauerroman leitet George Packer die Schilderung einer Nation ein, deren gesellschaftlicher Zusammenhalt sich angeblich auflöst.
"Viele Amerikaner fühlen sich völlig allein, ohne jegliche Aussicht auf Hilfe, und glauben, dass sich eine Art Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft breitmacht, in der es Eliten besser und besser zu gehen scheint und normale Leute, die sich einst für Mittelschicht hielten, mehr und mehr abrackern müssen."
Packers Kernthese: In den letzten 35 Jahren haben die Verlockungen eines zügellosen Kapitalismus' Amerikas demokratische Werte, mehr noch: den social contract, der seit Franklin Delano Roosevelts Sozialstaatsreformen galt, irreparabel untergraben.
Nicht von ungefähr nimmt der Autor stilistische Anleihen bei John Dos Passos' Krisentrilogie USA aus den 1930er-Jahren, um diese These in seinem non-fiction account herauszuarbeiten.
Collagen aus Schlagzeilen, Liedertexten, Werbeslogans illustrieren Jahrestage; Kurzporträts von Politikern, Popstars und anderen prominenten Amerikanern wechseln sich ab mit breit angelegten Lebensgeschichten ganz normaler US-Bürger.
Dieses Buch, hervorgegangen aus Packers Reportagen für das Magazin "The New Yorker", ist am stärksten, wo es seinen Hauptfiguren in den Alltag folgt: Dean Price, ein unverdrossener Öko-Don-Quichote aus North Carolina; die Fabrikarbeiterin Tammy Thomas aus Ohio in der krisengeschüttelten Industrieregion im Nordosten der USA; die Sozialhilfeempfänger-Familie Hartzell aus Florida; der politische Idealist Jeff Connaughton, der sich zum wohlhabenden Lobbyisten wandelt; und der kalifornische IT-Milliardär Peter Thiel.
Ausgerechnet Connaughton und Thiel, amerikanische Erfolgsgeschichten, gehören zu den Desillusionierten in "The Unwinding". Barack Obama etwa ist für Peter Thiel alles andere als ein Hoffnungsträger:
Präsident Obama glaubte wahrscheinlich, dass man am Niedergang nicht viel mehr machen könne als ihn zu verwalten. ... Deshalb blieb sein Blick auf die Zukunft merkwürdig leer.
George Packer lässt in seinem eindrucksvollen Schnappschuss der amerikanischen Gegenwart vor allem seine Protagonisten sprechen. Deren Lebensgeschichten aber offenbaren einen Widerspruch: Gerade diejenigen, die sozial am Rande stehen, machen sich immer wieder optimistisch an die Überwindung ihrer Misserfolge.
Die Gegenwart, so Packer, sei eben doch nicht völlig düster:
"Was nicht düster ist, ist die Energie, die Lebenskraft, der Humor, die Träume. Und wenn ich das große Bild und die Institutionen und führenden Persönlichkeiten ausblende und an diese Menschen denke, die ich so gut kennengelernt habe, dann geben die mir immer noch Hoffnung."
Nicht zuletzt schreibt Packer in einer der wenigen Passagen, in denen er in "The Unwinding" selbst das Wort ergreift:
Das Auseinanderdriften ist nichts Neues. Alle paar Generationen hat es dergleichen gegeben. .... Jeder Niedergang brachte Erneuerung, jede Implosion setzte Energie frei, aus jedem Auseinanderdriften kam neuer Zusammenhalt.
Damit beschreibt George Packer, was er zuvor infrage stellt: Dass Amerika auch in den größten Krisen stets von der Hoffnung auf den Neuanfang beseelt ist. Statt auseinanderzudriften, formiert die amerikanische Gesellschaft sich einfach neu – wie schon so oft.
In den USA steht "The Unwinding" seit Wochen auf den Bestsellerlisten. Die literarische Kraft der Porträts, die Packer zu einer Erzählung zusammenfügt, wird allseits gelobt.
Je weiter man sich von der linksliberal geprägten amerikanischen Ostküste entfernt, desto weniger Zustimmung findet allerdings seine These vom sozialen Auseinanderdriften. Zu wenig analytisch unterfüttert, sagen die einen Kritiker, zu selektiv Packers Beweisführung, die anderen. Doch das Buch hat ganz offensichtlich einen Nerv getroffen: "The Unwinding" passt in die rege Debatte um den Zustand der inneren pax americana, die die USA angesichts wachsender Ungleichheit seit geraumer Zeit führen.
George Packer: "The Unwinding. An Inner History of the New America".
Verlag Farrar, Strauss & Giroux, 434 Seiten, 19,70 Euro, ISBN: 978-0-374-10241-8