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Heinrich Steinfest: „Der betrunkene Berg“
Schneetraum mit Schwips

Das Massivste auf Erden gerät ins Wanken in Heinrich Steinfests neuem, von Fabulierlust beschwipstem Roman "Der betrunkene Berg". Erlebnishungrige Schneewanderer und Norwegerpulli tragende Stubenhocker geraten in einen österreichischen Höhenrausch.

Von Jan Drees |
Heinrich Steinfest: "Der betrunkene Berg"
Höhenkammliteratur einmal anders. Heinrich Steinfests Roman "Der betrunkene Berg" führt Philologie und Alpinismus auch ganz physisch zusammen: durch eine Buchhandlung im Gebirge. (Portraitfoto: Robert Marcus Klump / Buchcover: Piper Verlag)
Jede Kunstsparte liebt das selbstreferentielle Spiel. Kinofilme erzählen, wie Filme entstehen. Gemälde zeigen Maler im Atelier. Im Theater sehen wir Stücke, die Inszenierungen vorstellen, und die Literatur interessiert sich seit jeher für Bücher. Derzeit gibt es auffällig viele Geschichten, die von Buchhandlungen erzählen, in diesem Herbst beispielsweise im Insel-Verlag Kerri Mahers „Die Buchhändlerin von Paris“, ein Roman über „Shakespeare & Company“.
In der Wirklichkeit verschwinden sie zunehmend, in den Romanen tauchen sie wieder auf. So auch in Heinrich Steinfests „Der betrunkene Berg“, der zu Beginn die 43-jährige Katharina Kirchner vorstellt, die im österreichischen Höllengebirge eine bemerkenswerte Buchhandlung eröffnet hat – in 1700 Metern Höhe. In dieser werden ausschließlich Werke vorrätig gehalten, die sich mit Bergen und Bergwelten befassen.
„Es war wirklich fast alles dabei, was jemals von deutschsprachigen Zungen über die Berge gesagt worden war. Oder von anderen Zungen in deutscher Übersetzung. Bücher von fanatischen Alpinisten und Alpinistinnen, waghalsigen Abenteurern, kämpferischen Frauen, poesiebegabten Naturbeobachtern, wie auch von Leuten, die lieber über die Berge schrieben, als auf ihnen herumzuklettern.“

An dem Pullover hat ganz Norwegen gestrickt

Im November schließt besagte Buchhandlung. Katharina verbringt ihre Wintermonate dann allein inmitten des Schnees, eingedeckt mit den vielen Büchern und ausreichend Vorräten, die nur gelegentlich von Versorgungswanderern aus dem Dorf aufgefüllt werden. Doch die ersehnte Einsamkeit nimmt in diesem Winter ein Ende. In Hüttennähe liegt, mitten im Schnee, ein groß gewachsener, stämmiger, beinahe lebloser Mann.
“Katharina kniete sich neben ihn und gab ihm rechts und links eine Ohrfeige. Was aber keinerlei Wirkung zeigte. Also wiederholte sie die Übung, wobei sie diesmal etwas mehr Kraft und Schwung in die beiden Schläge fügte. Kleine Eiszapfen flogen zur Seite. Es sah aus, als schüttle sie einen Weihnachtsbaum, von dem die Dekoration herunterfiel. Aber es half. Der Mann kam zu sich.”
Wer dieser Mann ist, wird erst im zweiten Teil des Romans enträtselt. Offensichtlich ist er in suizidaler Absicht hinaufgestiegen. Doch „niemand stirbt auf diesem Berg“, lautet Katharinas Credo. Sie beherbergt den Fremden und gibt ihm „einen vielfarbigen Norwegerpullover, der so aussah, als hätte ganz Skandinavien an ihm gestrickt.“

Alte Methoden der Liebesbekundung

Viel hat dieser Mann vergessen, wo er herkommt, wie er heißt, aber keinesfalls hat er alles verlernt. Er kann zauberhaft kochen, beeindruckende Schneeskulpturen erschaffen. Ein guter Zuhörer ist er ebenfalls. Die Fähigkeit, zuzuhören, wird in Geschichten, die von Isolation berichten, klassischerweise erwartet – ob in Boccaccios „Decamerone“ oder in Wilhelm Hauffs „Das Wirtshaus im Spessart“.
„Was Katharina schon lange nicht mehr getan hatte ... Nein, das hatte sie noch nie getan, sich zusammen mit einer zweiten Person ein Buch gegenseitig vorzulesen. Etwas, was durchaus wieder in Mode gekommen war, jetzt, da so viele Methoden der Liebesbekundung an ihr ästhetisches Ende gelangt waren und manche Paare sich wieder an alten Formen orientierten.
So sitzen Katharina und der Fremde abends beisammen und lesen in einem, von Heinrich Steinfest freilich erfundenen, autofiktionalen Roman, der die Geschichte eines progressiven, österreichischen Pfarrers Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts erzählt. Simon Schindler heißt der. Er hat den titelgebenden, betrunkenen Berg zum ersten Mal bezwungen, selbstverständlich, um ein Gipfelkreuz aufzustellen.

Cognacschwenkender Einfallsreichtum

So kommen zwei Expeditionsarten zusammen, die spezifische Erforschung von Natur und jene der Literatur, der Alpinismus und die Philologie.
„Katharina legte das Buch auf die Mitte ihrer kleinen Verkaufstheke, schenkte sich ein weiteres Glas Cognac ein und nahm einen gediegenen Schluck. Sodann holte sie die Füße des schlafenden und fiebernden Mannes aus dem warmen Wasser, trocknete sie vorsichtig ab und legte Bandagen um die betroffenen Hautpartien.“
Dieser Roman ist nur partiell ein Kammerspiel. Er lebt von seinen Gegensätzen. Es gibt die Einkehr auf der einen und jene dynamisierenden Wendungen auf der anderen Seite, die typisch sind für die Literatur von Heinrich Steinfest.
Stetig erweitert sich der Figurenkreis, auch wenn nicht alle, die hier ihren Auftritt haben, leibhaftig zur Hütte hinaufstiefeln. Auf dem Berg landen die Lawinenspezialistin Linda Hellmund, eine verunglückte Alpendohle und der melancholische Boxer Thomas Lipinski. Diese Geschichte schwingt in beschwipster Fabulierlust und gibt sich einem cognacschwenkenden Einfallsreichtum hin. So werden erlebnishungrige Schneewanderer und Norwegerpulli tragende Stubenhocker gleichsam in einen prickelnd-schwankenden Höhenrausch versetzt, der einen am Ende auf einen Berggipfel oder mindestens in die nächste, gut sortierte Buchhandlung lockt.
Heinrich Steinfest: „Der betrunkene Berg“
Piper Verlag, München
224 Seiten, 22 Euro.