Zum Rumhängen bleibt dem Teenager keine Zeit. Wann auch? Am Abend und an den Wochenenden muss der Sohn von Katarina Georgi Hellrigel lernen. Sein Stundenplan sieht keine Pausen vor. Ein Junge mit dem Kalender eines Managers. Das sei zu viel, sagt die Mutter. Und deshalb kämpft sie als Sprecherin der G8 Elterninitiative im Gesamtelternbeirat Stuttgart seit Jahren gegen das sogenannte Turboabitur:
"Er ist in der achten Klasse, 14 Jahre alt, und er hat eine 39-Stunden-Woche. Viermal die Woche Nachmittags-Unterricht. Es ist insofern jetzt drei Stunden mehr, weil er freiwillig noch AGs, Chor und Debating macht. Aber ich denke, auch das muss noch drin sein. Es wird angeboten und es sollte natürlich auch in Anspruch genommen werden. Und 39 Stunden für 14jährige halte ich einfach für viel zu viel. Und das ist die reine Zeit an der Schule, das heißt, es kommen Hausaufgaben, Vorbereitungen etc. noch dazu."
Die verkürzte Gymnasialzeit, kurz G8 genannt, ist seit Jahren auch in den westlichen Bundesländern eingeführt. Da in der DDR das Abitur nach zwölf Jahren abgelegt wurde, führten die Länder Sachsen und Thüringen das dreizehnjährige Abitur nie ein. Alle übrigen neuen Bundesländer haben mittlerweile auch wieder auf G8 umgestellt. In den alten Bundesländern hatten die Schüler bis vor wenigen Jahren noch neun Jahre Zeit, um das Abitur zu machen, heute sind es acht Jahre. Laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage glaubt eine deutliche Mehrheit der Befragten in den alten Bundesländern nicht, dass der bisherige gymnasiale Lernstoff innerhalb der verkürzten Schulzeit bewältigt werden kann.
Die Reform ist umstritten bei Lehrern, Schülern und Eltern. Grund genug für die Landesminister, sich in dieser Woche am Rande der Kultusminister-Konferenz mit dem Thema auseinanderzusetzen. Auch Kinderärzte und Kinderpsychologen sehen die gestiegenen Anforderungen mit Sorge. In ihre Praxen kommen mehr und mehr Gymnasiasten, die den Druck nicht mehr aushalten. Dr. Hartmut Horn, Kinderarzt und Psychotherapeut im schwäbischen Aich:
"Manche bilden dafür irgendwelche Symptome, haben Bauchweh, Kopfweh, spucken oder sonstige Symptome. Andere sind schon etwas weiter und sagen, ich habe keinen Bock. Die sprechen es bereits aus, bleiben im Bett, hören irgendeine Musik und die Eltern können sie mit keiner Maßnahme mehr in die Schule bringen."
Auch für den Arzt und Therapeuten eine schwierige Situation. In der Regel schreibt Dr. Horn sogenannte Schulverweigerer erst einmal krank, um die Situation zu entspannen. Für die schulmüden Kinder beginnt dann häufig eine längere Therapie. Dabei ist der Weg zu einem unbeschwerten Leben oft mühsam. Aus entwicklungspsychologischer Sicht sei freie Zeit ungemein wichtig, betont Horn:
"Ich mein jetzt auch bei Jugendlichen noch spielen. Das ist natürlich jetzt nicht mehr, dass die jetzt Kleinkindspiele machen. Aber auch das, was die tun in ihrer Freizeit, sagen wir mal, dieses Rumhängen an irgendeinem Spielplatz, was alle Erwachsenen so aufregt. Das ist aber genau das altersgemäße, in dieser Gruppe, sagen wir mal wenn man 15 ist, muss man reden, diskutieren, über die Eltern herziehen, über die Lehrer herziehen, wenn man das nicht kann, hat man keinen Gegenraum, um den Belastungen, denen man täglich ausgesetzt ist, irgendwo hinauszuschaffen und damit eine neue Basis zu entwickeln."
Man wolle den Schülern ein Jahr Zeit schenken, sagte Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) vor Jahren. Damals war sie noch Kultusministerin in Baden-Württemberg. Hintergrund der Reform war jedoch, den deutschen Bildungsweg an europäische Verhältnisse anzupassen. Bei der Umstellung von G9 auf G8 wurde Eltern und Schülern eine gleiche Abitur-Qualität bei reduzierter Schulzeit versprochen. Bis heute klagen viele Eltern, Lehrer und Schüler darüber, dass der alte Stoff nun in acht Jahren durchgezogen werde. An einigen Schulen allerdings habe der Wechsel mühelos geklappt, sagt Katarina Georgi Hellriegel von der G8 Elterninitiative:
"Es gibt durchaus Gymnasien, die es hinbekommen, das ist durchaus richtig, das kenne ich auch. Auch unser Gymnasium schafft es sehr gut. Aber die Rahmenbedingungen sind überall gleich, und wenn sie das schaffen, dann haben sie meist einen sehr engagierten Schulleiter, sehr aufgeschlossene Lehrer, die das alleine entwickelt haben. Aber das kann in meinen Augen nicht der Königsweg sein, dass praktisch jede Schule das Rad neu erfinden muss. Sondern, wenn ich etwas im System ändere, muss ich auch die Vorbedingungen ändern, die Rahmenbedingungen und das ist in meinen Augen die Aufgabe des Kultusministeriums."
Der Wechsel von G9 auf G8 war schlecht vorbereitet, das räumen mittlerweile auch die Verantwortlichen in den Kultusministerien ein. Statt Lehrplänen gibt es seit der Umstellung auf G8 Bildungspläne an den Schulen. Völlig neue Unterrichtsformen sind eingeführt, die den Frontalunterricht von einst ersetzen sollen. So zumindest sieht es das Konzept vor. Im Mittelpunkt steht nun die Kompetenzvermittlung. In der Praxis sieht das zum Beispiel so aus, dass jeder Schüler sein Lieblingsbuch vor der gesamten Klasse präsentieren darf. Auch ist erwünscht, dass der Unterricht fächerübergreifend stattfindet.
"Die Vermittlung von Kompetenzen statt Stofffülle ist eine prima Idee, stehe ich absolut dahinter, fände ich auch sehr gut, wenn wir dahin kämen. Nur muss man da die entsprechende Vorarbeit geleistet haben und die Lehrer entsprechend ausbilden. Das heißt, die Lehrer, die bis jetzt damit beschäftigt waren Stoff zu vermitteln, die müssen unterrichtet werden darin, wie es geht, Kinder Kompetenzen beizubringen. Dies ist leider nicht erfolgt, vor allem nicht flächendeckend. Mit dem Ergebnis, dass die Lehrer im Grunde nach ihrem alten Stiefel weitermachen, sehr oft, sehr viele dadurch haben wir G9 in G8 gepresst. Das heißt, den Stoff von G9 in einem Jahr weniger."
Leistungsstarke Schüler haben mit G8 kein Problem. Viele, gerade pubertierende Schüler, werden aber ab den Klassenstufen sechs bis acht auffällig. Die Eltern sind verunsichert – und schicken ihre Kinder bewusst auf Realschulen, obwohl sie eine Gymnasialempfehlung haben: Ein Drittel aller Realschüler in der fünften Klasse könnte eigentlich ins Gymnasium gehen. Markus Fiola, Vorsitzender des baden-württembergischen Landeselternbeirats:
"Also, hervorragende Schüler, die jetzt auf die Realschule gehen, wo die Eltern eindeutig eine Fluchtbewegung vor dem G8 vornehmen. Das führt zu einer hohen Heterogenität bei den Schülern und einer deutlich noch verstärkten Herausforderung bei den Realschulen."
Die baden-württembergische CDU Kultusministerin Marion Schick, gerade ein paar Monate im Amt, widerspricht der Behauptung, die Schulreform führe zu einer Flucht von den Gymnasien:
"Also, das ist nicht zulässig, das auf G8 zurückzuführen, weil wir ja in der gleichen Zeit, seit der Einführung von G8 steigende Schülerzahlen an den Gymnasien haben. Wir sind in Baden-Württemberg das Land, das die zweithöchste Zahl an Gymnasialempfehlungen ausspricht. Also, bei steigenden Zahlen ist es relativ wahrscheinlich, dass es auch steigende Zahlen von jungen Menschen gibt, die sagen, ich bin am Gymnasium eigentlich nicht richtig."
Aus welchem Grund auch immer: Allein 34 Schülerinnen und Schüler sind im vergangenen Jahr von Gymnasien an die Remsecker Realschule gewechselt. Seit Jahren steigt die Zahl der Schulwechseler – hinzu kommen die Schüler mit einer Gymnasialempfehlung, die sich von vornherein für die Realschule entscheiden. Die Folge: Die Realschulen sind überfüllt, in den Klassenzimmern gibt es keinen Platz mehr. Nicht nur die Remsecker Realschule muss in Container ausweichen, um die Schulklassen überhaupt noch zusammen unterrichten zu können. Für die Schüler ist das Alltag:
"Nach einer Weile gewöhnt man sich eigentlich daran. Aber manchmal war es schon schlimm, weil im Winter ist es hier ziemlich kalt und jetzt ziemlich warm, obwohl es draußen nicht einmal so warm ist. Und es ist halt auch ein bisschen unangenehm, weil da hinten ist ja auch überall Schimmel und alles und die Heizungen da hinten explodieren immer, also die klappern immer ..."
Doch die Raumnot ist nur das eine, auch das soziale Gefüge in den Klassen ändert sich ständig. Mit fast jedem neuen Schuljahr kommt ein Neuer in die Klasse – meist ein Junge. Melina, 14 Jahre alt, hat das schon häufiger erlebt:
"Es ist halt so, wenn die dann zu uns in die Klasse kommen, dass dann nicht so eine Gemeinschaft ist, sondern die werden erst ausgeschlossen. Dann dauert es ein paar Monate bis die wiederkommen und die Klassengemeinschaft wird dadurch halt immer schwieriger und es dauert dann bis es dann wieder eine Klasse wird."
Melina kennt sich mittlerweile aus, mit Gymnasiasten, die aus welchen Gründen auch immer an die Realschule kommen:
"Es gibt auch ganz nette, die sich dann sofort zu uns hingesellen und sogleich mit uns reden, aber auch welche, die total verschlossen sind und die am Anfang alles alleine machen und so ein bisschen arrogant dann wirken … so …:`Ich bin eh besser als ihr, und ich weiß gar nicht, warum ich hier bin und so.’"
Entmutigte Schüler müssten in die Klassengemeinschaft integriert werden, diese Situation fordere die Lehrer bis an die Grenzen, beklagt der Realschullehrerverband. Das bestätigt auch Realschullehrer Ulrich Thiel:
"Grundsätzlich ist natürlich ein Schulwechsel, egal aus welchen Gründen und von welcher Schulart, immer problematisch für den einzelnen Schüler. Man weiß ja auch nicht so ganz genau die Hintergründe. Waren das disziplinarische Gründe, waren das Leistungsgründe, gab es Verwerfungen in der Familie und, und, und. Das ist grundsätzlich mal für ein Kind oder für einen Jugendlichen unglaublich schwer in welcher Klassenstufe auch immer, die Schule zu wechseln."
Antje Hoffmann ist Elternbeirätin an der Remsecker Realschule. Ihre Tochter besucht die 6. Klasse. Schon jetzt zeichnet sich in der Klasse ab, dass mit weiteren Schülern zu rechnen ist:
"Insofern als dass unsere Klasse in der 5. Klasse letztes Jahr mit sehr schöner kleiner Schülerzahl - 24 Schülern – anfing zu existieren und inzwischen, im zweiten Jahr, schon auf 29 gestiegen ist. Und wir das als Eltern natürlich nicht ganz so positiv für unsere Kinder finden, mit 29 Kindern ist das natürlich schwerer zu unterrichten als 24."
Die steigende Schülerzahl wirkt sich auch auf den Stundenplan aus:
"Wir haben jetzt in der 6. Klasse die Situation, dass zweimal in der Woche - mit einer langen Pause zwar in der Mitte, einmal zwei, einmal drei Stunden, aber dann die Kinder doch bis halb sechs in der Schule sein müssen, weil nachmittags die Fachräume nicht von der ganzen Klasse benutzt werden können. Das heißt, es muss gewechselt werden. Es darf immer nur in den Nähkursen, in den Technikkursen, da dürfen immer nur eine bestimmte Anzahl an Kindern sein, aus Sicherheitsgründen. Diese Sicherheitsgründe sind eben mit 29 Kindern nicht mehr gegeben, es muss halbiert werden. Das heißt die einen Kinder kommen eher, die anderen später dran."
Im Treppenhaus der Remsecker-Realschule ist ein Netz gespannt, darin hängen kleine Zettel mit Namen einzelner Schüler. Die immer weiter wachsende Schulgemeinschaft gilt es zumindest symbolisch zusammenzuhalten. Der Gang am Netz vorbei führt direkt ins Zimmer des Schulleiters. Rolf Hagen bittet an einem großzügigen Tisch Platz zu nehmen. An diesem Tisch sitzen häufig Eltern mit ihrem Kind. Schüler, die auf die Realschule wechseln wollen oder müssen:
"Wir machen immer mit jeder Familie, mit jeder Anfrage, ein Einzelgespräch. Das heißt, die Eltern kommen und bringen das Kind mit und dann sprechen wir über das, was den Wechsel notwendig macht, dann erklären wir ihnen, was wir ihnen bieten können und dann fragen wir, welche Fächer hast du belegt?"
Eine von vielen Fragen, die am Anfang stehen. Hinter den betroffenen Schülern und auch Eltern liegen in der Regel quälende Monate, meist Jahre. Bei Rektor Hagen schöpfen Schulwechsler noch einmal Hoffnung. Die Realität unterliegt jedoch einer Gesetzmäßigkeit:
"Ein Drittel verbessert sich, ein Drittel bleibt so auf dem Niveau und das letzte Drittel wird schlechter."
Die besten Chancen haben Schüler, die bereits ein einigermaßen funktionierendes Lernverhalten mitbringen. Schüler, die sich ohne zu lernen noch durch die Klassenstufen sechs und sieben retten konnten, scheitern dann häufig in den nächst höheren Klassen auf den Gymnasien, so Rolf Hagen. Da an Realschulen aber eben auch gelernt werden muss, fällt der eine oder andere dann auch in der Realschule durch das Raster:
"Die Schüler, die das nicht können, weil sie es nicht gelernt haben und auch keine Lernbegleitung haben, die haben bei uns auch große Schwierigkeiten. Und es gibt auch immer wieder Fälle, die Zahlen sind nicht sehr groß, die haben einen Durchmarsch vom Gymnasium in die Hauptschule. Also, die sind auch benennbar."
Der Landeselternbeirat in Baden-Württemberg hat angekündigt, sich in den kommenden Jahren verstärkt um die Realschulen im Land kümmern zu wollen. Auch CDU-Kultusministerin Marion Schick räumt ein:
"Wir haben viel geguckt auf das Gymnasium in der Einführung von G8. Wir haben viel geguckt auf die Hauptschulen, und sie zur Werkrealschulen weiterentwickelt, und ich glaube schon, dass die Zeit kommt, wo wir intensiver auch auf Realschulen gucken, um zu sagen, gibt es hier auch noch Dinge, die weiterzuentwickeln und zu unterstützen sind."
Doch an vielen Realschulen ist die Not so groß, dass kaum Zeit bleibt, um mögliche Reformen in Ruhe abzuwarten. Die Lehrergewerkschaft GEW fordert sofort mehr personelle Unterstützung. Baden-Württembergs GEW Landesvorsitzende Doro Moritz:
"Die Realschulen müssen unter deutlich erschwerten Bedingungen arbeiten aufgrund der großen Heterogenität in den Klassen. Und sie haben im Gegensatz zu allen anderen Schularten keinerlei personelle Unterstützung durch pädagogische Assistenten, durch Hausaufgabenbetreuung, sie stehen völlig alleine da. Nicht einmal die Förderstunden sind kontinuierlich gesichert über die Schuljahre hinweg."
Aus diesem Grund fordern Landeselternbeirat und Lehrergewerkschaft nun die baden-württembergische Landesregierung zum Handeln auf. Doro Moritz von der GEW:
"Seit 20 Jahren verschlechtert sich die Unterrichtsversorgung an Realschulen dramatisch. Vor zwanzig Jahren hatten die Realschulen etwa 20 Prozent mehr Unterrichtsstunden je Schüler, je Schülerin zur Verfügung als heute."
Landeselternbeirat Matthias Fiola geht von weiter steigenden Schülerzahlen an den Realschulen aus:
"Wir haben ein – in jeder Klasse – auf der einen Seite den Schüler, dessen Eltern Werkrealschule nicht annehmen und deshalb, wenn Realschule, dann richtige Realschule anstreben. Auf der anderen Seite Eltern, die sagen, mit dem G8 können wir uns nicht anfreunden, da sind unsere Kinder überlastet und das berufliche Gymnasium gibt uns die Möglichkeit ein G9 weiterhin zu leben und alles das trifft sich in Realschule und wird Realschule außerordentlich fordern in den nächsten Jahren."
Die Realschulen in Baden-Württemberg seien ein ganz wichtiges Element des differenzierten Schulsystems in Baden- Württemberg, betont CDU Kultusministerin Marion Schick. Sie sicherte den Realschulen im Land nachhaltige Unterstützung zu.
"Wir passen die Lehrerzahlen natürlich an die Entwicklung der Schülerzahlen an. Das heißt, wir sind ja in Baden-Württemberg dabei, die Klassengrößen abzusenken. Jedes Jahr um einen Schüler, sodass, wenn eine Realschule wächst, sie natürlich mehr Lehrer und Lehrerinnendeputate erhält.
Da müssen wir überhaupt nichts abwarten und wir sind auch unterwegs, die Klassengrößen zu verkleinern. Man wird aber in den nächsten Jahren sehr strukturell gucken müssen, wie man die Realschulen in ihrer gestärkten Position, in der Nachfrageposition in der sie sich befinden, noch weiter unterstützen kann."
Das Hausaufgabenheft ist voll. Landeselternbeirat Fiola warnt vor einer neuen aufgebrachten Elternschaft:
"Wenn man aber vermeiden will, dass auch Realschuleltern zu Fackelträgern werden, dann wird sicherlich das Ministerium, im Prinzip die ganze Regierung, denn die Ministerin ist sicherlich nicht diejenige, die die Stellschrauben alleine in der Hand hat, sehr genau hinschauen müssen, wie man der Realschule in der jetzigen Situation weiterhilft."
Die Elterninitiativen in einigen größeren Städten des Landes planen dennoch Aktionen. Ziel ist es, das Thema G8 im kommenden Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg auf der Tagesordnung zu halten. Auch unter dem Eindruck der Landtagswahl im März 2011 betont Kultusministerin Marion Schick, dass an den Gymnasien des Landes nun erst einmal Ruhe einkehren wird. Es werde also keine Reform der Reform geben:
"Die Lehrer und Lehrerinnen in Baden-Württembergs geben mir täglich eines ganz klar mit auf den Weg: Lassen sie uns jetzt Zeit, die Reformen der letzten Jahre zu verarbeiten. Diesen Wunsch nehme ich sehr ernst."
Noch ist nicht abzuschätzen, welche Auswirkung die G8 Reform auf das Wahlergebnis der Landtagswahl im März 2011 haben wird. Fest steht: Fackeltragende Gymnasialeltern werden in Baden- Württemberg wohl kaum noch zu sehen sein. Die Eltern und Schüler haben sich mit der Reform abgefunden und ziehen ihre Konsequenzen. Katarina Georgi Hellriegel von der G8 Elterninitiative:
"Es ist in dem Sinne keine Ruhe eingekehrt, weil die Leute, die still halten sind schlicht frustriert und haben resigniert. Das heißt, sie nehmen ihre Kinder runter vom Gymnasium, sprich auf die Realschule oder in die Privatschule oder sie powern unheimlich viel Geld in Nachhilfestunden, um ihre Kinder einigermaßen durch dieses System zu bringen, aber es hat sich leider nicht sehr viel grundlegend geändert."
Dagegen bewegt sich einiges in anderen Bundesländern. So hat das Kabinett in Schleswig Holstein jüngst beschlossen, seine Schüler künftig zwischen G8 und G9 wählen zu lassen. Das Saarland wird unter anderem Kernfächer-Stunden gleichmäßiger auf die Klassenstufen verteilen und dadurch seine G8-Schüler entlasten. Stellvertretend für die Gegner der G8-Reform in Baden-Württemberg fordert Sprecherin Katarina Georgi Hellriegel eine G8-Regelung, wie sie in Rheinland-Pfalz angeboten wird:
"Die waren in meinen Augen in Deutschland die Gescheitesten. Die haben in Ruhe erst einmal abgewartet, wie die anderen das machen. Haben aus den Fehlern der anderen Bundesländer gelernt und haben zwei Dinge gemacht: Erstens G8 nur in Verbindung mit einer funktionierenden und tatsächlichen Ganztagesschule ... die Eltern können wählen."
In Bayern können Schüler nicht wählen, ob sie in acht oder in neun Jahren das Abitur machen wollen. Doch im Gegensatz zu den anderen Bundesländern finden sich die Schüler an bayerischen Gymnasien nicht mit den Folgen der G8-Reform ab.
Vor wenigen Wochen haben in allen größeren Städten des Freistaates Schüler gegen die Belastungen an den Gymnasien demonstriert. Allein in München beteiligten sich über 2500 Schüler an den Protesten. Auf den Plakaten der Schüler war zu lesen "G8 nimmt uns die Nacht" oder "Wir sind überarbeitet, nicht die Lehrpläne".
"Er ist in der achten Klasse, 14 Jahre alt, und er hat eine 39-Stunden-Woche. Viermal die Woche Nachmittags-Unterricht. Es ist insofern jetzt drei Stunden mehr, weil er freiwillig noch AGs, Chor und Debating macht. Aber ich denke, auch das muss noch drin sein. Es wird angeboten und es sollte natürlich auch in Anspruch genommen werden. Und 39 Stunden für 14jährige halte ich einfach für viel zu viel. Und das ist die reine Zeit an der Schule, das heißt, es kommen Hausaufgaben, Vorbereitungen etc. noch dazu."
Die verkürzte Gymnasialzeit, kurz G8 genannt, ist seit Jahren auch in den westlichen Bundesländern eingeführt. Da in der DDR das Abitur nach zwölf Jahren abgelegt wurde, führten die Länder Sachsen und Thüringen das dreizehnjährige Abitur nie ein. Alle übrigen neuen Bundesländer haben mittlerweile auch wieder auf G8 umgestellt. In den alten Bundesländern hatten die Schüler bis vor wenigen Jahren noch neun Jahre Zeit, um das Abitur zu machen, heute sind es acht Jahre. Laut einer aktuellen Allensbach-Umfrage glaubt eine deutliche Mehrheit der Befragten in den alten Bundesländern nicht, dass der bisherige gymnasiale Lernstoff innerhalb der verkürzten Schulzeit bewältigt werden kann.
Die Reform ist umstritten bei Lehrern, Schülern und Eltern. Grund genug für die Landesminister, sich in dieser Woche am Rande der Kultusminister-Konferenz mit dem Thema auseinanderzusetzen. Auch Kinderärzte und Kinderpsychologen sehen die gestiegenen Anforderungen mit Sorge. In ihre Praxen kommen mehr und mehr Gymnasiasten, die den Druck nicht mehr aushalten. Dr. Hartmut Horn, Kinderarzt und Psychotherapeut im schwäbischen Aich:
"Manche bilden dafür irgendwelche Symptome, haben Bauchweh, Kopfweh, spucken oder sonstige Symptome. Andere sind schon etwas weiter und sagen, ich habe keinen Bock. Die sprechen es bereits aus, bleiben im Bett, hören irgendeine Musik und die Eltern können sie mit keiner Maßnahme mehr in die Schule bringen."
Auch für den Arzt und Therapeuten eine schwierige Situation. In der Regel schreibt Dr. Horn sogenannte Schulverweigerer erst einmal krank, um die Situation zu entspannen. Für die schulmüden Kinder beginnt dann häufig eine längere Therapie. Dabei ist der Weg zu einem unbeschwerten Leben oft mühsam. Aus entwicklungspsychologischer Sicht sei freie Zeit ungemein wichtig, betont Horn:
"Ich mein jetzt auch bei Jugendlichen noch spielen. Das ist natürlich jetzt nicht mehr, dass die jetzt Kleinkindspiele machen. Aber auch das, was die tun in ihrer Freizeit, sagen wir mal, dieses Rumhängen an irgendeinem Spielplatz, was alle Erwachsenen so aufregt. Das ist aber genau das altersgemäße, in dieser Gruppe, sagen wir mal wenn man 15 ist, muss man reden, diskutieren, über die Eltern herziehen, über die Lehrer herziehen, wenn man das nicht kann, hat man keinen Gegenraum, um den Belastungen, denen man täglich ausgesetzt ist, irgendwo hinauszuschaffen und damit eine neue Basis zu entwickeln."
Man wolle den Schülern ein Jahr Zeit schenken, sagte Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) vor Jahren. Damals war sie noch Kultusministerin in Baden-Württemberg. Hintergrund der Reform war jedoch, den deutschen Bildungsweg an europäische Verhältnisse anzupassen. Bei der Umstellung von G9 auf G8 wurde Eltern und Schülern eine gleiche Abitur-Qualität bei reduzierter Schulzeit versprochen. Bis heute klagen viele Eltern, Lehrer und Schüler darüber, dass der alte Stoff nun in acht Jahren durchgezogen werde. An einigen Schulen allerdings habe der Wechsel mühelos geklappt, sagt Katarina Georgi Hellriegel von der G8 Elterninitiative:
"Es gibt durchaus Gymnasien, die es hinbekommen, das ist durchaus richtig, das kenne ich auch. Auch unser Gymnasium schafft es sehr gut. Aber die Rahmenbedingungen sind überall gleich, und wenn sie das schaffen, dann haben sie meist einen sehr engagierten Schulleiter, sehr aufgeschlossene Lehrer, die das alleine entwickelt haben. Aber das kann in meinen Augen nicht der Königsweg sein, dass praktisch jede Schule das Rad neu erfinden muss. Sondern, wenn ich etwas im System ändere, muss ich auch die Vorbedingungen ändern, die Rahmenbedingungen und das ist in meinen Augen die Aufgabe des Kultusministeriums."
Der Wechsel von G9 auf G8 war schlecht vorbereitet, das räumen mittlerweile auch die Verantwortlichen in den Kultusministerien ein. Statt Lehrplänen gibt es seit der Umstellung auf G8 Bildungspläne an den Schulen. Völlig neue Unterrichtsformen sind eingeführt, die den Frontalunterricht von einst ersetzen sollen. So zumindest sieht es das Konzept vor. Im Mittelpunkt steht nun die Kompetenzvermittlung. In der Praxis sieht das zum Beispiel so aus, dass jeder Schüler sein Lieblingsbuch vor der gesamten Klasse präsentieren darf. Auch ist erwünscht, dass der Unterricht fächerübergreifend stattfindet.
"Die Vermittlung von Kompetenzen statt Stofffülle ist eine prima Idee, stehe ich absolut dahinter, fände ich auch sehr gut, wenn wir dahin kämen. Nur muss man da die entsprechende Vorarbeit geleistet haben und die Lehrer entsprechend ausbilden. Das heißt, die Lehrer, die bis jetzt damit beschäftigt waren Stoff zu vermitteln, die müssen unterrichtet werden darin, wie es geht, Kinder Kompetenzen beizubringen. Dies ist leider nicht erfolgt, vor allem nicht flächendeckend. Mit dem Ergebnis, dass die Lehrer im Grunde nach ihrem alten Stiefel weitermachen, sehr oft, sehr viele dadurch haben wir G9 in G8 gepresst. Das heißt, den Stoff von G9 in einem Jahr weniger."
Leistungsstarke Schüler haben mit G8 kein Problem. Viele, gerade pubertierende Schüler, werden aber ab den Klassenstufen sechs bis acht auffällig. Die Eltern sind verunsichert – und schicken ihre Kinder bewusst auf Realschulen, obwohl sie eine Gymnasialempfehlung haben: Ein Drittel aller Realschüler in der fünften Klasse könnte eigentlich ins Gymnasium gehen. Markus Fiola, Vorsitzender des baden-württembergischen Landeselternbeirats:
"Also, hervorragende Schüler, die jetzt auf die Realschule gehen, wo die Eltern eindeutig eine Fluchtbewegung vor dem G8 vornehmen. Das führt zu einer hohen Heterogenität bei den Schülern und einer deutlich noch verstärkten Herausforderung bei den Realschulen."
Die baden-württembergische CDU Kultusministerin Marion Schick, gerade ein paar Monate im Amt, widerspricht der Behauptung, die Schulreform führe zu einer Flucht von den Gymnasien:
"Also, das ist nicht zulässig, das auf G8 zurückzuführen, weil wir ja in der gleichen Zeit, seit der Einführung von G8 steigende Schülerzahlen an den Gymnasien haben. Wir sind in Baden-Württemberg das Land, das die zweithöchste Zahl an Gymnasialempfehlungen ausspricht. Also, bei steigenden Zahlen ist es relativ wahrscheinlich, dass es auch steigende Zahlen von jungen Menschen gibt, die sagen, ich bin am Gymnasium eigentlich nicht richtig."
Aus welchem Grund auch immer: Allein 34 Schülerinnen und Schüler sind im vergangenen Jahr von Gymnasien an die Remsecker Realschule gewechselt. Seit Jahren steigt die Zahl der Schulwechseler – hinzu kommen die Schüler mit einer Gymnasialempfehlung, die sich von vornherein für die Realschule entscheiden. Die Folge: Die Realschulen sind überfüllt, in den Klassenzimmern gibt es keinen Platz mehr. Nicht nur die Remsecker Realschule muss in Container ausweichen, um die Schulklassen überhaupt noch zusammen unterrichten zu können. Für die Schüler ist das Alltag:
"Nach einer Weile gewöhnt man sich eigentlich daran. Aber manchmal war es schon schlimm, weil im Winter ist es hier ziemlich kalt und jetzt ziemlich warm, obwohl es draußen nicht einmal so warm ist. Und es ist halt auch ein bisschen unangenehm, weil da hinten ist ja auch überall Schimmel und alles und die Heizungen da hinten explodieren immer, also die klappern immer ..."
Doch die Raumnot ist nur das eine, auch das soziale Gefüge in den Klassen ändert sich ständig. Mit fast jedem neuen Schuljahr kommt ein Neuer in die Klasse – meist ein Junge. Melina, 14 Jahre alt, hat das schon häufiger erlebt:
"Es ist halt so, wenn die dann zu uns in die Klasse kommen, dass dann nicht so eine Gemeinschaft ist, sondern die werden erst ausgeschlossen. Dann dauert es ein paar Monate bis die wiederkommen und die Klassengemeinschaft wird dadurch halt immer schwieriger und es dauert dann bis es dann wieder eine Klasse wird."
Melina kennt sich mittlerweile aus, mit Gymnasiasten, die aus welchen Gründen auch immer an die Realschule kommen:
"Es gibt auch ganz nette, die sich dann sofort zu uns hingesellen und sogleich mit uns reden, aber auch welche, die total verschlossen sind und die am Anfang alles alleine machen und so ein bisschen arrogant dann wirken … so …:`Ich bin eh besser als ihr, und ich weiß gar nicht, warum ich hier bin und so.’"
Entmutigte Schüler müssten in die Klassengemeinschaft integriert werden, diese Situation fordere die Lehrer bis an die Grenzen, beklagt der Realschullehrerverband. Das bestätigt auch Realschullehrer Ulrich Thiel:
"Grundsätzlich ist natürlich ein Schulwechsel, egal aus welchen Gründen und von welcher Schulart, immer problematisch für den einzelnen Schüler. Man weiß ja auch nicht so ganz genau die Hintergründe. Waren das disziplinarische Gründe, waren das Leistungsgründe, gab es Verwerfungen in der Familie und, und, und. Das ist grundsätzlich mal für ein Kind oder für einen Jugendlichen unglaublich schwer in welcher Klassenstufe auch immer, die Schule zu wechseln."
Antje Hoffmann ist Elternbeirätin an der Remsecker Realschule. Ihre Tochter besucht die 6. Klasse. Schon jetzt zeichnet sich in der Klasse ab, dass mit weiteren Schülern zu rechnen ist:
"Insofern als dass unsere Klasse in der 5. Klasse letztes Jahr mit sehr schöner kleiner Schülerzahl - 24 Schülern – anfing zu existieren und inzwischen, im zweiten Jahr, schon auf 29 gestiegen ist. Und wir das als Eltern natürlich nicht ganz so positiv für unsere Kinder finden, mit 29 Kindern ist das natürlich schwerer zu unterrichten als 24."
Die steigende Schülerzahl wirkt sich auch auf den Stundenplan aus:
"Wir haben jetzt in der 6. Klasse die Situation, dass zweimal in der Woche - mit einer langen Pause zwar in der Mitte, einmal zwei, einmal drei Stunden, aber dann die Kinder doch bis halb sechs in der Schule sein müssen, weil nachmittags die Fachräume nicht von der ganzen Klasse benutzt werden können. Das heißt, es muss gewechselt werden. Es darf immer nur in den Nähkursen, in den Technikkursen, da dürfen immer nur eine bestimmte Anzahl an Kindern sein, aus Sicherheitsgründen. Diese Sicherheitsgründe sind eben mit 29 Kindern nicht mehr gegeben, es muss halbiert werden. Das heißt die einen Kinder kommen eher, die anderen später dran."
Im Treppenhaus der Remsecker-Realschule ist ein Netz gespannt, darin hängen kleine Zettel mit Namen einzelner Schüler. Die immer weiter wachsende Schulgemeinschaft gilt es zumindest symbolisch zusammenzuhalten. Der Gang am Netz vorbei führt direkt ins Zimmer des Schulleiters. Rolf Hagen bittet an einem großzügigen Tisch Platz zu nehmen. An diesem Tisch sitzen häufig Eltern mit ihrem Kind. Schüler, die auf die Realschule wechseln wollen oder müssen:
"Wir machen immer mit jeder Familie, mit jeder Anfrage, ein Einzelgespräch. Das heißt, die Eltern kommen und bringen das Kind mit und dann sprechen wir über das, was den Wechsel notwendig macht, dann erklären wir ihnen, was wir ihnen bieten können und dann fragen wir, welche Fächer hast du belegt?"
Eine von vielen Fragen, die am Anfang stehen. Hinter den betroffenen Schülern und auch Eltern liegen in der Regel quälende Monate, meist Jahre. Bei Rektor Hagen schöpfen Schulwechsler noch einmal Hoffnung. Die Realität unterliegt jedoch einer Gesetzmäßigkeit:
"Ein Drittel verbessert sich, ein Drittel bleibt so auf dem Niveau und das letzte Drittel wird schlechter."
Die besten Chancen haben Schüler, die bereits ein einigermaßen funktionierendes Lernverhalten mitbringen. Schüler, die sich ohne zu lernen noch durch die Klassenstufen sechs und sieben retten konnten, scheitern dann häufig in den nächst höheren Klassen auf den Gymnasien, so Rolf Hagen. Da an Realschulen aber eben auch gelernt werden muss, fällt der eine oder andere dann auch in der Realschule durch das Raster:
"Die Schüler, die das nicht können, weil sie es nicht gelernt haben und auch keine Lernbegleitung haben, die haben bei uns auch große Schwierigkeiten. Und es gibt auch immer wieder Fälle, die Zahlen sind nicht sehr groß, die haben einen Durchmarsch vom Gymnasium in die Hauptschule. Also, die sind auch benennbar."
Der Landeselternbeirat in Baden-Württemberg hat angekündigt, sich in den kommenden Jahren verstärkt um die Realschulen im Land kümmern zu wollen. Auch CDU-Kultusministerin Marion Schick räumt ein:
"Wir haben viel geguckt auf das Gymnasium in der Einführung von G8. Wir haben viel geguckt auf die Hauptschulen, und sie zur Werkrealschulen weiterentwickelt, und ich glaube schon, dass die Zeit kommt, wo wir intensiver auch auf Realschulen gucken, um zu sagen, gibt es hier auch noch Dinge, die weiterzuentwickeln und zu unterstützen sind."
Doch an vielen Realschulen ist die Not so groß, dass kaum Zeit bleibt, um mögliche Reformen in Ruhe abzuwarten. Die Lehrergewerkschaft GEW fordert sofort mehr personelle Unterstützung. Baden-Württembergs GEW Landesvorsitzende Doro Moritz:
"Die Realschulen müssen unter deutlich erschwerten Bedingungen arbeiten aufgrund der großen Heterogenität in den Klassen. Und sie haben im Gegensatz zu allen anderen Schularten keinerlei personelle Unterstützung durch pädagogische Assistenten, durch Hausaufgabenbetreuung, sie stehen völlig alleine da. Nicht einmal die Förderstunden sind kontinuierlich gesichert über die Schuljahre hinweg."
Aus diesem Grund fordern Landeselternbeirat und Lehrergewerkschaft nun die baden-württembergische Landesregierung zum Handeln auf. Doro Moritz von der GEW:
"Seit 20 Jahren verschlechtert sich die Unterrichtsversorgung an Realschulen dramatisch. Vor zwanzig Jahren hatten die Realschulen etwa 20 Prozent mehr Unterrichtsstunden je Schüler, je Schülerin zur Verfügung als heute."
Landeselternbeirat Matthias Fiola geht von weiter steigenden Schülerzahlen an den Realschulen aus:
"Wir haben ein – in jeder Klasse – auf der einen Seite den Schüler, dessen Eltern Werkrealschule nicht annehmen und deshalb, wenn Realschule, dann richtige Realschule anstreben. Auf der anderen Seite Eltern, die sagen, mit dem G8 können wir uns nicht anfreunden, da sind unsere Kinder überlastet und das berufliche Gymnasium gibt uns die Möglichkeit ein G9 weiterhin zu leben und alles das trifft sich in Realschule und wird Realschule außerordentlich fordern in den nächsten Jahren."
Die Realschulen in Baden-Württemberg seien ein ganz wichtiges Element des differenzierten Schulsystems in Baden- Württemberg, betont CDU Kultusministerin Marion Schick. Sie sicherte den Realschulen im Land nachhaltige Unterstützung zu.
"Wir passen die Lehrerzahlen natürlich an die Entwicklung der Schülerzahlen an. Das heißt, wir sind ja in Baden-Württemberg dabei, die Klassengrößen abzusenken. Jedes Jahr um einen Schüler, sodass, wenn eine Realschule wächst, sie natürlich mehr Lehrer und Lehrerinnendeputate erhält.
Da müssen wir überhaupt nichts abwarten und wir sind auch unterwegs, die Klassengrößen zu verkleinern. Man wird aber in den nächsten Jahren sehr strukturell gucken müssen, wie man die Realschulen in ihrer gestärkten Position, in der Nachfrageposition in der sie sich befinden, noch weiter unterstützen kann."
Das Hausaufgabenheft ist voll. Landeselternbeirat Fiola warnt vor einer neuen aufgebrachten Elternschaft:
"Wenn man aber vermeiden will, dass auch Realschuleltern zu Fackelträgern werden, dann wird sicherlich das Ministerium, im Prinzip die ganze Regierung, denn die Ministerin ist sicherlich nicht diejenige, die die Stellschrauben alleine in der Hand hat, sehr genau hinschauen müssen, wie man der Realschule in der jetzigen Situation weiterhilft."
Die Elterninitiativen in einigen größeren Städten des Landes planen dennoch Aktionen. Ziel ist es, das Thema G8 im kommenden Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg auf der Tagesordnung zu halten. Auch unter dem Eindruck der Landtagswahl im März 2011 betont Kultusministerin Marion Schick, dass an den Gymnasien des Landes nun erst einmal Ruhe einkehren wird. Es werde also keine Reform der Reform geben:
"Die Lehrer und Lehrerinnen in Baden-Württembergs geben mir täglich eines ganz klar mit auf den Weg: Lassen sie uns jetzt Zeit, die Reformen der letzten Jahre zu verarbeiten. Diesen Wunsch nehme ich sehr ernst."
Noch ist nicht abzuschätzen, welche Auswirkung die G8 Reform auf das Wahlergebnis der Landtagswahl im März 2011 haben wird. Fest steht: Fackeltragende Gymnasialeltern werden in Baden- Württemberg wohl kaum noch zu sehen sein. Die Eltern und Schüler haben sich mit der Reform abgefunden und ziehen ihre Konsequenzen. Katarina Georgi Hellriegel von der G8 Elterninitiative:
"Es ist in dem Sinne keine Ruhe eingekehrt, weil die Leute, die still halten sind schlicht frustriert und haben resigniert. Das heißt, sie nehmen ihre Kinder runter vom Gymnasium, sprich auf die Realschule oder in die Privatschule oder sie powern unheimlich viel Geld in Nachhilfestunden, um ihre Kinder einigermaßen durch dieses System zu bringen, aber es hat sich leider nicht sehr viel grundlegend geändert."
Dagegen bewegt sich einiges in anderen Bundesländern. So hat das Kabinett in Schleswig Holstein jüngst beschlossen, seine Schüler künftig zwischen G8 und G9 wählen zu lassen. Das Saarland wird unter anderem Kernfächer-Stunden gleichmäßiger auf die Klassenstufen verteilen und dadurch seine G8-Schüler entlasten. Stellvertretend für die Gegner der G8-Reform in Baden-Württemberg fordert Sprecherin Katarina Georgi Hellriegel eine G8-Regelung, wie sie in Rheinland-Pfalz angeboten wird:
"Die waren in meinen Augen in Deutschland die Gescheitesten. Die haben in Ruhe erst einmal abgewartet, wie die anderen das machen. Haben aus den Fehlern der anderen Bundesländer gelernt und haben zwei Dinge gemacht: Erstens G8 nur in Verbindung mit einer funktionierenden und tatsächlichen Ganztagesschule ... die Eltern können wählen."
In Bayern können Schüler nicht wählen, ob sie in acht oder in neun Jahren das Abitur machen wollen. Doch im Gegensatz zu den anderen Bundesländern finden sich die Schüler an bayerischen Gymnasien nicht mit den Folgen der G8-Reform ab.
Vor wenigen Wochen haben in allen größeren Städten des Freistaates Schüler gegen die Belastungen an den Gymnasien demonstriert. Allein in München beteiligten sich über 2500 Schüler an den Protesten. Auf den Plakaten der Schüler war zu lesen "G8 nimmt uns die Nacht" oder "Wir sind überarbeitet, nicht die Lehrpläne".