Michael Köhler: Die Internationale Holocaust-Konferenz in Israel hat noch vor Beginn gezeigt, dass mit dem Erinnern Politik gemacht wird - Geschichtspolitik. Es gab Streit zwischen der russischen und der polnischen Seite über die Beteiligung am Holocaust, der unter anderem zur Absage des polnischen Präsidenten Duda an der Konferenz führte: Duda erbat Rederecht, das er nicht erhielt. Am heutigen Tag des Gedenkens der Befreiung des Konzentrations-und Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen vor 75 Jahren zeigt sich, dass Erinnern nicht nur rückwärtsgewandt ist, sondern ein eigenes Politikfeld ist: nämlich Gedenkpolitik.
Mit dem Antisemitismusforscher Wolfgang Benz habe ich über einen aktuellen Fall gesprochen: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Außenminister Maas und andere befürworten einen Plan für die Errichtung eines Berliner Denkmals für polnische NS-Opfer. Wolfgang Benz ist auch Beiratsvorsitzender des Berliner Holocaust-Mahnmals für die ermordeten Juden Europas. Ihn habe ich gefragt: Sie üben aber Kritik an dem überfraktionellen Plan einer Einrichtung eines Denkmals beispielsweise am Askanischen Platz in der Nähe vom Anhalter Bahnhof oder wo auch immer?
Wolfgang Benz: Ich übe eigentlich keine Kritik. Ich sage, nach intensivem Austausch mit Kollegen im Beirat der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, dessen Sprecher ich bin: Das ist nicht genug – ein Denkmal für eine Nation. Wir müssen einen größeren Umgriff wagen. Und es kann auch nicht sein Bewenden mit einem abstrakten Denkmal haben, an dem man flüchtig vorbeigeht, sondern es bedarf ja der Aufklärung. Es muss ja auch Wissen vermittelt werden an heute jüngere Menschen, an die übernächste Generation. Da reicht ein abstraktes Erinnerungszeichen nicht. Das hat man im Falle des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, an dessen Konzeption und Entstehung ich intensiv beteiligt war, erkannt und hat das Denkmal durch den Ort der Information ergänzt, einen ganz wichtigen Ort der Aufklärung, der ungeheuer stark angenommen und besucht ist.
Ensemble von Denkmalen?
Köhler: Sie wollen dem nationalen Gedenken nicht im Weg stehen, aber im Interesse dessen, an alle zu erinnern und keine Opferhierarchie oder Opferrivalität zu erzeugen, sollte man gefälligst ein Dokumentationszentrum einrichten?
Benz: Wir leben ja nicht mehr im Zeitalter der Nationalstaaten. Wir bekennen uns zur europäischen Idee, auch wenn das noch nicht bis zu allen durchgedrungen ist. Aber Europa ist die größere Gemeinschaft, und das lässt sich nicht – glaube ich, ich bin natürlich leider gehemmt, da ich Wissenschaftler bin und nicht Künstler und nicht nur Emotionen verhaftet -, das lässt sich nicht mit einem Denkmal oder mit 67 Denkmalen, die man am Ende bräuchte, wenn man aller Nationen, die sich mit Deutschland im Krieg befanden, unter deutscher Kriegführung zu leiden hatten – das lässt sich nicht mit einem breitgestreuten Ensemble von Denkmälern erreichen. Sondern da muss doch auch Aufklärung, da muss das notwendige Wissen beigesteuert werden, warum wir überhaupt etwa der 34 Millionen Sowjetbürger, die als Zivilisten vollkommen unschuldig ihr Leben, Hab und Gut verloren haben [gedenken].
"Den großen Wurf wagen"
Köhler: Erlauben sie, wenn ich versuche, Sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen: In einem Ihrer zahlreichen Bücher, ein Standardwerk ist ein kleines Buch "Der Holocaust" etwa, nennen Sie ja auch Zahlen. Und die mit Abstand größte Zahl beim Holocaust zu Tode gekommener Menschen, ermordeter Menschen, ist nun mal: über zweieinhalb, 2,7 Millionen mindestens allein in Polen. Ist das nicht alleine schon Grund genug, der so ein Denkmal rechtfertigen würde?
Benz: Natürlich wäre das, sagen wir im Jahre 1967 oder 1979 Grund genug gewesen. Die Frage ist nur: Ist das im 21. Jahrhundert, ist dieser Ansatz jetzt nicht zu bescheiden? Müssen wir nicht den größeren Wurf wagen und alle zusammenführen, in der ihnen gebührenden Würdigung ihrer Leiden, ihrer Verluste?
"Genügen Denkmale noch?"
Köhler: Ich würde einen letzten Gedanken gerne noch mit Ihnen erproben. Wir haben gerade gesehen, bei der Holocaust-Konferenz in Israel, dass es polnisch-sowjetische Streitigkeiten gibt, dass es Ärger gibt. Präsident Duda ist nicht nach Israel gereist; er hatte sich Rederecht erbeten. Es gibt geschichtspolitisch-revisionistische Tendenzen. Ist die Gedenkpolitik im Moment, und auch der Plan für ein polnisches Denkmal der NS-Opfer, so etwas wie europäische Schönwetterpolitik oder Entspannungspolitik zwischen Deutschland und Polen? Wie würden Sie das einschätzen?
Benz: Ja, das würde ich so einschätzen. Das ist vor allem auch punktuelle Politik. Da, wo es gerade kriselt oder brennt oder wo man beruhigen, wo man beschwichtigen, wo man aufmuntern muss, da tut man etwas. Ich meine aber, es wäre 75 Jahre nach dem Krieg an der Zeit, den größeren Wurf zu wagen. Nicht nur fraktioniert vorzugehen: ein Denkmal für die Polen, das weiß Gott seine Berechtigung hat, zu errichten, um dann zu warten, dass die Ukrainer auch eines brauchen und dann zu warten, bis wir das Denkmal für die Weißrussen einweihen können. Und für diese und für jene Nation. Wer denkt denn heute noch so ohne weiteres an die Kriegsverbrechen, die ausgerotteten Dörfer in Italien, in der Toskana, in Kalavrita in Griechenland, an Oradour, an die Schrecken im Süden, im Osten, im Norden Europas? Wenn wir das eine Denkmal setzen, müssen wir sehr viele Denkmale in der Zukunft setzen. Das gilt es zu bedenken. Ich habe nichts gegen Denkmale, aber genügen sie noch, wenn es der Aufklärung, der Information bedarf?
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