
Für Schottland wichtige Fragen würden von der Londoner Regierung entschieden, die nicht von Schotten gewählt worden sei, sagte Angus Robertson, Fraktionschef der Scottish National Party im britischen Unterhaus, im DLF. Die Einnahmen aus den Ölexporten müssten in Schottland verbleiben. Nachbarländern wie Dänemark und Norwegen mit ähnlichen Ressourcen und Einwohnerzahlen gehe es besser, sagte Angus.
Die Entscheidungen müssten in Zukunft von einem eigenständigen Parlament getroffen werden, das vom schottischen Volk gewählt sei, forderte Angus. Der große Zuwachs für die schottische Unabhängigkeit resultiere daraus, dass die Unabhängigkeitsbewegung auf diese zusätzlichen demokratischen Rechte bestehe und die europafeindliche Politik Londons ablehne. Schottland wolle auch weiterhin Teil der Europäischen Union sein, sagte Angus im Deutschlandfunk.
Das Referendum findet am 18. September statt.
Das vollständige Gespräch können Sie hier nachlesen.
Christoph Heinemann: Seit 307 Jahren leben sie in einem Reich. Nach dem Willen einiger Bewohner im Norden der Insel soll damit nun Schluss sein. In der kommenden Woche stimmen die Bewohner Schottlands mit Ja oder Nein darüber ab, ob sie künftig in einem unabhängigen Staat leben, oder in der Union mit England, Wales und Nordirland bleiben möchten. Mal abgesehen davon, dass eine Scheidung nach so langer Zeit so einfach nicht ist – wer zahlt die Renten künftig, wie teilt man die britischen Staatsschulden auf -, seitdem eine Umfrage eine hauchdünne Mehrheit für die Unabhängigkeit ergab, ist auch die Regierung in London aufgewacht. Schatzkanzler Osborne stellte den unzufriedenen Schotten eine weiterreichende Autonomie in Aussicht, die Vorsitzenden der landesweit größten Parteien eilten nach Schottland, David Cameron hisste das schottische Andreaskreuz auf seinem Amtssitz und die Wirtschaft droht. Mehrere schottische Banken haben für den Fall einer Abspaltung Schottlands ihren Umzug nach England angekündigt. Wirken Zuckerbrot und Peitsche? Das Lager der Gegner einer Abspaltung führt laut einer neuesten Umfrage wieder knapp. 52 Prozent nein, 48 Prozent ja.
Angus Robertson ist der Fraktionschef der Scottish National Party im britischen Unterhaus, und ich habe ihn vor der Sendung gefragt, was in den vergangenen 307 Jahren schiefgelaufen ist.
Angus Robertson: Es geht weniger darum, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist, als zu überlegen, was unsere beste Zukunft ist. Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine Entwicklung in der schottischen Politik Richtung eines autonomen Parlaments mit Befugnissen über Erziehung, unser Gesundheitssystem, unser Rechtssystem, also viele Teile unseres tagtäglichen Lebens werden in Schottland entschieden, aber in vieler Hinsicht nicht: Über unsere Wirtschaft nicht, über unsere Beziehungen mit Europa, ob unsere jungen Männer und Frauen in illegale Kriege geschickt werden, ob Atomwaffen in Schottland stationiert sind. Über all diese Fragen wird in London von einer Regierung, die nicht von Schotten gewählt ist, entschieden, und wir können das am 18. September ändern, wenn wir mit Ja in unserer Unabhängigkeitsabstimmung entscheiden.
Heinemann: Was würde ein unabhängiges Schottland denn anders machen?
Robertson: Vieles! Viele Leute in Deutschland sind vielleicht nicht auf dem Laufenden, dass Schottland der größte Ölproduzent der Europäischen Union ist, aber dass in vielen Teilen unserer größten Stadt Glasgow die Lebenserwartung niedriger ist als im Gazastreifen. Zwischen einem Fünftel und einem Viertel aller unserer Kinder leben in Armut.
London hat die Steuerhoheit
Heinemann: Ist das die Schuld von London?
Robertson: Die Londoner Regierung ist für die Wirtschaft zuständig, ist für unsere Steuereinnahmen zuständig, und die haben es vergeudet und die haben Schottland schlecht verwaltet. Wir müssen nur nach unseren nordeuropäischen Nachbarn herüberschauen, nach Dänemark oder nach Norwegen und anderswo, Länder, die nicht mehr als Schottland haben, wenn wir über Ressourcen sprechen, aber über Jahrzehnte viel bessere Entscheidungen getroffen haben, und darum geht's.
Wir wollen, dass Schottland genauso gesellschaftlich und wirtschaftlich erfolgreich ist wie unsere Nachbarn. Die haben gezeigt, dass es möglich ist. Ein Land mit fünf Millionen Einwohnern, und das ist unsere Größe in Schottland, genau dieselbe Größe wie in Dänemark oder in Norwegen, die haben viel mehr erfolgreich regiert und die Gesellschaft unterstützt, und wir sind zuversichtlich, dass wir das auch machen können. Deswegen ist solch ein Riesenzuwachs für die schottische Unabhängigkeit.
Wir wollen, dass Schottland genauso gesellschaftlich und wirtschaftlich erfolgreich ist wie unsere Nachbarn. Die haben gezeigt, dass es möglich ist. Ein Land mit fünf Millionen Einwohnern, und das ist unsere Größe in Schottland, genau dieselbe Größe wie in Dänemark oder in Norwegen, die haben viel mehr erfolgreich regiert und die Gesellschaft unterstützt, und wir sind zuversichtlich, dass wir das auch machen können. Deswegen ist solch ein Riesenzuwachs für die schottische Unabhängigkeit.
Heinemann: Die britische Regierung, der Schatzkanzler Osborne hat Schottland jetzt mehr Rechte, eine stärkere Autonomie versprochen. Wieso reicht das nicht?
Schottland will in der EU bleiben
Robertson: Wenn ich aus Dänemark oder aus Norwegen oder aus Österreich wäre, würden Sie diese Frage nicht stellen. Normale Länder regieren sich selbst. Man hat die Steuerhoheit, man entscheidet, wie man das Wirtschaftswachstum ankurbelt, wie man in einer fairen Gesellschaft lebt, wie man eine bessere Beziehung mit europäischen Nachbarn und Freunden innerhalb der Europäischen Union erzielen kann, wie man eine Friedenspolitik macht. Das ist, was wir in Schottland machen wollen, und das ist aufregend.
Das ist für viele Leute eine Riesenchance, dass wir ein anderes Schottland, eine andere Zukunft, eine bessere Zukunft haben können. Deswegen wählen so viele Unterstützer von anderen Parteien, also nicht nur die regierende Scottish National Party, die Unabhängigkeitspartei, auch Leute, die für Labour, für die Sozialdemokraten, für die Liberalen, für die Grünen sind, und auch aus dem bürgerlichen Lager ist ein Zuwachs an Unterstützung für die Unabhängigkeit, weil wir verstehen, dass mit mehr Befugnissen, mehr demokratischen Rechten wir mehr Handlungsspielraum in Schottland haben werden, unter anderem, dass wir nicht von einer europafeindlichen Politik in London in eine falsche Richtung gesteuert werden, wo möglicherweise in zwei Jahren eine Mehrheit in England für einen Verbleib in der Europäischen Union dagegen stimmen wird. Wir sind eine europäische Nation in Schottland, wir wollen weiterhin Teil der Europäischen Union sein, und als Mitgliedsstaat können wir das viel besser verteidigen, als mit einer englischen Mehrheit in einen Auszug außerhalb der Europäischen Union gezwungen zu werden.
Heinemann: Herr Robertson, Sie wissen besser als ich: Der Teufel steckt in vielen Details. Da ist die Aufteilung der britischen Staatsschulden, die Frage, wer zahlt Renten und Pensionen, wer verfügt über die Einnahmen aus dem Nordseeöl, haben Sie schon angesprochen, oder auch die Zukunft des britischen Atom-U-Boot-Stützpunktes in Schottland. Sind Schottland und der Rest des Vereinigten Königreichs überhaupt trennbar?
Robertson: In einem geografischen Sinn überhaupt nicht. Wir werden weiterhin ein Bestandteil der britischen Insel bleiben.
Heinemann: Das immerhin!
Robertson: Aber es wird keine Grenze im Sinne vom 19. Jahrhundert zwischen Schottland und England geben. Wir wollen weiterhin unter dem gleichen Staatsoberhaupt, unserer Königin, mit einer gemeinsamen Währung, dem britischen Pfund, auf einer Insel leben. Was sich geändert hat im Wesentlichen sind unsere demokratischen Institutionen, dass die Entscheidungskraft über Schottland nicht von London ausgeübt wird, aber über ein schottisches Parlament, das von dem Volk gewählt wird, und dass unsere Regierung immer von Schotten geduldet ist. Das ist ein Riesenunterschied zu dem, was jetzt da ist. Und alle Fragen über Schulden und verschiedene andere Sachen, bitte, da ist keine Hauptstadt der Welt, die mehr Erfahrung mit solchen Fragen hat als London. Die haben vor 100 Jahren ein Viertel der ganzen Weltfläche regiert. Wir werden das über die Hürden bringen, das wird keine 18 Monate dauern, glauben wir, und auch die Rechtsberater von der britischen Regierung haben gesagt, die glauben, dass diese 18-monatige Übergangsfrist nach einer Ja-Abstimmung am 18. September kommt, und dann im Frühling 2016 wird Schottland ein souveräner Staat werden.
Es ist ein Britisches Pfund, kein Englisches Pfund
Heinemann: Sie haben das Pfund angesprochen. London lehnt ja eine Währungsunion mit einem unabhängigen Schottland ab. Wird Schottland dann eine eigene Währung einführen, oder den Euro?
Robertson: Wir sind der Meinung, dass das ein politisches Kalkül ist. Man hofft in London, wenn man den Schotten droht und sagt, dass wir keine weitere britische Währung teilen können, dass wir alle eingeschüchtert werden und mit nein abstimmen. Aber gleichzeitig hinter vorgehaltener Hand redet man in London mit Journalisten und sagt, ja natürlich wird es möglich sein, ja natürlich liegt das im Interesse von der englischen Wirtschaft und auch der schottischen Wirtschaft. Ich bin sicher, dass nach einer Ja-Abstimmung die politische Führung in London es einsehen wird, dass es von Vorteil ist für Handel und für unsere Wirtschaft, nicht nur in Schottland, aber auch in England. Es ist ein britisches Pfund und nicht ein englisches Pfund.
Heinemann: Und wenn London nein sagt? Verfügen Sie über einen Plan B?
Robertson: Die schottische Regierung hat eine Riesenstudie über die verschiedenen Möglichkeiten gedruckt. Aber wir sind der Meinung, dass eine gemeinsame Währung im Interesse von Schottland und England ist, und dass nach einer Ja-Abstimmung weiterhin ein britisches Pfund bleiben wird.
Heinemann: Eines verstehen die Menschen hierzulande nicht. Wieso will Schottland unabhängig sein, gleichzeitig aber mit dem Vereinigten Königreich, wie Sie gerade angedeutet haben, über die Währung und über die Königin verbunden bleiben, also nur so ein bisschen unabhängig?
Robertson: Die Frage von unserem Staatsoberhaupt – niemand würde behaupten, dass die Kanadier nicht Kanadier sind, weil die Königin das Staatsoberhaupt von Kanada ist, oder Australien, oder Neuseeland. Man würde auch nicht behaupten, dass Deutschland kein unabhängiges Land ist, weil sie eine Währung teilen mit anderen Staaten der Eurozone. Im 21. Jahrhundert ist es normal, dass in mancher Hinsicht man Souveränitätsmacht teilt. Das machen wir innerhalb der Europäischen Union, das machen wir im Verteidigungssinne innerhalb der Nato, das ist richtig so. Es wird so bleiben.
Was für uns wichtig ist, dass wir unser eigenes Parlament wählen mit allen Befugnisse, dass unsere Regierung vom Volk gewählt wird und dass wir bessere Entscheidungen treffen. Das ist eine Normalität des 21. Jahrhunderts und ich bin zuversichtlich, dass die Schotten mit Ja abstimmen werden und dass Schottland eine viel erfolgreichere Nation sein wird, wenn es die besseren Entscheidungen treffen kann.
Heinemann: Banken haben jetzt angekündigt, sie würden ihre Büros nach London verlegen, sollte Schottland unabhängig werden. Befürchten Sie im Falle einer Unabhängigkeit Abwanderungen von Firmen, von Dienstleistern in größerem Umfang?
Robertson: Nein, ich sehe das überhaupt nicht, und gerade deswegen, weil genau dieselben Drohungen haben wir schon vor früheren Volksbefragungen gehört, damals 1979 und auch 1997, und nachher ist null, nichts, passiert. Das ist Teil einer Einschüchterungspolitik, um zu hoffen, dass die Schotten verängstigt werden und dann mit nein abstimmen. Es ist für Banken und andere Teile der Wirtschaft wichtig, in Schottland zu sein. Schottland ist ein reiches Land, nach dem Bruttoinlandsprodukt gemessen an der 14. Stelle, wenn es um Reichtum geht. Es liegt im Interesse der Wirtschaft, in Schottland tätig zu sein. Ich verstehe nicht, warum das sich ändern sollte.
Heinemann: Herr Robertson, Sie argumentieren jetzt gegen Ihren eigenen Arbeitsplatz. Was würde denn aus Ihnen in einem unabhängigen Schottland?
Robertson: Keine Ahnung. Aber dann müsste ich nicht nach London pendeln. Ich könnte dann als Tourist meine Verwandten und Freunde in London besuchen und müsste dann nicht im britischen Parlament arbeiten. Ich freue mich sehr darauf.
Heinemann: Angus Robertson ist der Fraktionschef der Scottish National Party im britischen Unterhaus in London.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.