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Schottland-Referendum
"Es wird für Schottland ein größeres Maß an Selbstregierung geben"

Dass Schotttland britisch bleibt, findet der Schotte Graham Watson gut. Der Vorsitzende der Europäischen Liberalen und Demokratischen Partei (ALDE) sagte im DLF, jetzt seien auch fundamentale Wandlungen im politischen System Großbritanniens möglich - hin zu mehr Föderalismus.

Graham Watson im Gespräch mit Bettina Klein |
    Der Vorsitzende der ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament, Graham Watson, vor blauem Hintergrund
    Der Vorsitzende der ALDE-Fraktion im Europäischen Parlament, Graham Watson (AFP/ Julien Warnand)
    Was mit dem Referendum erreicht worden sei, "ist nicht schlecht", sagte Watson im Deutschlandfunk. Denn auch wenn es jetzt nicht zu einer Unabhängigkeit Schottlands komme, so würde das Land doch ein höheres Maß an Selbstbestimmung erreichen. So könnte es jetzt auch dazu kommen, dass es neben dem schottischen auch ein englisches Parlament gebe, und auch separate walisische und nordirische Parlamente seien denkbar. Das führe, so Watson, dazu, dass sich Großbritannien mehr und mehr zu einem föderalen Staat entwickle. Auf diesem Weg könne auch das House of Lords, das keine Vertretung demokratisch gewählter Politiker sei, zu einer Vertretung der Teilstaaten ähnlich wie der deutsche Bundesrat werden.
    Watson beobachtet seit einigen Jahren innerhalb Großbritanniens einen verstärkten englischen Nationalismus; was in Schottland geschehen sei, sei die Antwort auf diese Entwicklung. Für viele in Europa sei die Entscheidung der Mehrheit gegen eine Unabhängigkeit Schottlands eine Erleichterung, führte Watson aus, und auch für den britischen Premierminister David Cameron sei es das. Für den schottischen Premierminister Alex Salmond sieht Watson dagegen das Ende seiner Karriere gekommen. Auch wenn Salmond zufrieden sein kann, in vielen Städten und Bezirken Schottlands gewonnen zu haben, etwa in Glasgow: "Das zeigt, dass es auch innerhalb Schottlands verschiedene Visionen der Zukunft gibt."

    Das Interview in voller Länge:

    Bettina Klein: Am Telefon begrüße ich den britischen Politiker Graham Watson. Er ist Vorsitzender der europäischen Liberalen und Demokraten. Guten Morgen, Mr. Watson.
    Graham Watson: Schönen guten Morgen.
    Klein: Sie haben selbst Wurzeln in Schottland. Überwiegt bei Ihnen heute die Erleichterung, oder hatten Sie doch auch Sympathien für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Schotten?
    Watson: Ich hatte Sympathien für die Unabhängigkeitsbestrebungen. Aber ich glaube, das, was geschaffen ist, ist nicht schlecht. Es wird für Schottland ein größeres Maß an Selbstregierung geben. Meine Partei war gegen Unabhängigkeit, und ich verstehe das. Für David Cameron wird das eine große Erleichterung. Er kann jetzt aufatmen, für Nick Clegg als Vizepremierminister auch. Aber ich glaube, für Alex Salmond, Schottlands Premierminister, ist dieses Ergebnis vielleicht der Beginn des Endes seiner politischen Karriere.
    Klein: Rechnen Sie mit seinem Rücktritt?
    Watson: Es kann sein, dass er zurücktritt, oder das kann ein bisschen später kommen. Aber wo er zufrieden sein kann, dass in vielen Städten, in vielen Bezirken die Ja-Front gewonnen hat. Wenn man zum Beispiel Glasgow ansieht, haben viel mehr mit Ja gestimmt, also für die Unabhängigkeit, als mit Nein.
    Klein: Wie erwartet!
    Watson: Und das zeigt, dass es auch innerhalb Schottlands verschiedene Visionen der Zukunft gibt.
    "Für sehr viele aus ganz Europa eine große Erleichterung"
    Klein: Mr. Watson, lassen Sie mich noch mal fragen. Wir haben über das Ergebnis gerade gesprochen. Das sieht noch nicht ganz nach Endergebnis aus, aber so ungefähr wird es sein. 55 Prozent gegen die Unabhängigkeit, 45 Prozent waren dafür. Das Ergebnis ist nicht ganz so knapp, wie viele das ja erwartet hatten. Aber dennoch: Es klingt nach einem gespaltenen Schottland. Wie würden Sie die Stimmung mit einem Wort beschreiben?
    Watson: Wir haben Ergebnisse von 29 aus 32 Bezirken. Es scheint, dass relativ klar eine Stimmung herrscht, dass man bei dem Vereinigten Königreich bleibt. Aber was sicher ist, ist, dass Schottland ein viel größeres Maß an Selbstregierung bekommt. Wie würde ich das beschreiben? - Für sehr viele und besonders für sehr viele aus ganz Europa eine große Erleichterung.
    Klein: Für viele in Europa eine Erleichterung. Aber das Ergebnis ist ja immer noch etwas gespalten. Sie glauben, dass dennoch genug Unterstützung da ist für einen Plan, der jetzt heißt, Schottland bleibt Teil Großbritanniens, aber es wird eine Art Wandel geben müssen, mehr Rechte dann auch für Schottland?
    Watson: Genau. Aber ich glaube auch, diese ganze Debatte über Unabhängigkeit innerhalb der Europäischen Union, das geht weiter. Wir werden das in Katalonien sehen, wir werden das vielleicht auch in anderen Ländern sehen. Die Europäische Union schafft einen Rahmen, wo kleinere Länder oder Regionen auch ein größeres Maß an Selbstregierung haben können.
    "Ich erwarte, dass es einen solchen Wandel gibt"
    Klein: Wir haben immer wieder darüber berichtet, werden das auch heute Morgen weiter tun, dass etwa die Katalonen oder die Menschen in Flandern sich mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmung wünschen. Man wird sehen, welchen Einfluss das Ergebnis heute dann darauf hat. Aber lassen Sie uns noch mal einen Augenblick bei Großbritannien bleiben. Unser Korrespondent Jochen Spengler hat es angedeutet: Es wird zu mehr Forderungen nach Wandel kommen und eine Verfassungsdebatte sei schon im Gange und auf dem Wege, denn nach den Schotten könnten auch die Waliser und die Engländer und die Nordiren möglicherweise mehr Autonomie fordern. Was erwarten Sie da?
    Watson: Ich erwarte, dass es einen solchen Wandel gibt. Alle Parteien in Großbritannien und besonders die drei großen Parteien, die für ein Nein plädiert haben, haben gesagt, klar und offen, wenn Schottland bleibt, dann geben wir an Schottland eine größere Selbstbestimmung, und das wird sicher auch ein Verlangen in England und woanders schaffen. Es gibt schon - und das sehen wir, das ist vielleicht Teil des Ergebnisses - seit 10, 15 Jahren viel mehr englischen Nationalismus, nicht britischen Nationalismus, sondern englischen Nationalismus, und was in Schottland geschehen ist, ist auch eine Antwort auf diese Entwicklung. Ich glaube, es könnte auch dazu kommen, dass es ein englisches Parlament gibt, sodass wir, wie von Ihrem Korrespondent gesagt, ein größeres Maß an Föderalismus innerhalb des Vereinigten Königreiches sehen.
    Klein: Mr. Watson, man kann vielleicht sagen, der Geist ist aus der Flasche. Großbritannien steht möglicherweise vor einer kompletten Neuordnung, bei der dann auch kein Stein mehr auf dem anderen bleiben wird?
    Watson: Ich glaube, nicht eine komplette Neuordnung. Nein! Ich hoffe, es wird dazu kommen, dass wir eine Reform von diesem House of Lords kriegen. Aber eine komplette Neuordnung, das will Cameron nicht, das will seine Partei nicht. Was es sicher jetzt geben wird, ist eine tiefere Debatte darüber, wie man einen Staat wie das Vereinigte Königreich im 21. Jahrhundert regiert.
    Bundesrat statt House of Lords
    Klein: Eine Reform des House of Lords inwiefern?
    Watson: Dieses House of Lords wird zunächst nicht gewählt. Das sind Leute, die in der Tat dort abgestellt sind von den politischen Parteien. Es könnte vielleicht einen Rat für Großbritannien geben, so eine Art Oberhaus, wo alle Regionen ein bisschen wie im Bundesrat vertreten sind, und dann vielleicht nationale Parlamente in Wales, in England, in Schottland, in Nordirland geben, die größere Rechte haben.
    Klein: Aber das klingt doch schon insgesamt nach einer deftigen Neuordnung des gesamten Königreichs Großbritannien. Wird man denn das so schnell über die Bühne bekommen, oder von welchen Zeiträumen sprechen wir da eigentlich an diesem Morgen?
    Watson: Wir haben im Mai nächsten Jahres Nationalwahlen. Es wird natürlich eine Debatte über Schottland geben. Aber ich sehe es als schwierig, dass viel passiert, bevor wir die Ergebnisse der Neuwahlen haben nächstes Jahr. Die Regierung wird versuchen, einige Änderungen durchzubringen. Die werden sie vielleicht schaffen. Aber dass man eine komplette Neuordnung sieht, glaube ich noch nicht. Das wird mindestens ein oder zwei oder auch drei Jahre brauchen.
    Klein: Im Falle einer Unabhängigkeit Schottlands ist ja viel darüber spekuliert worden, ob da möglicherweise David Cameron zurücktreten wird. Er hat das ja zunächst mal abgelehnt. Dennoch sind alle für diesen Fall davon ausgegangen, auch von weiteren Rücktritten. Jetzt umgekehrt betrachtet: Inwieweit ist das jetzt eine Stärkung für ihn in seinem Amt?
    Watson: Ich glaube nicht, dass er sich viel gestärkt fühlen wird, oder dass seine Partei es so sieht. Es ist fast dazu gekommen. Man hat vor einer Woche noch geglaubt, das könnte für Cameron schiefgehen. Wenn so was geschehen wäre, dann wäre das das Ende für Cameron gewesen, meiner Meinung nach. Dass es für ihn nicht schiefgegangen ist, aber ohne eine sehr klare Mehrheit - 55 zu 45 ist sowieso knapp -, ich glaube nicht, dass er sich verstärkt fühlt.
    Klein: Heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk der liberale britische Politiker Graham Watson mit einer ersten Einschätzung zum Ausgang des Referendums in Schottland gestern. Die Schotten haben sich mehrheitlich dafür ausgesprochen, im Vereinigten Königreich zu bleiben. Ich bedanke mich für das Gespräch heute Morgen im Deutschlandfunk.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.