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Schottland und der Brexit
Nach dem Referendum könnte vor dem Referendum sein

Im Juni findet in Großbritannien das Brexit-Referendum statt. Viele Schotten sind allerdings über die derzeitigen Attacken gegen die EU aus England verärgert. Sie wollen nicht genötigt werden, aus der Union auszutreten - und erwägen in einem solchen Fall ein eigenes Referendum über Schottlands Unabhängigkeit.

Von Friedbert Meurer |
    Die Chefin der Scottish National Party (SNP), Nicola Sturgeon.
    Die Chefin der Scottish National Party (SNP), Nicola Sturgeon. (picture alliance / dpa / Robert Perry)
    Der Moderator der Diskussionsveranstaltung begrüßt das Publikum und Nicola Sturgeon, Schottlands Erste Ministerin. Am Wochenende hat sie an einer Kundgebung auf dem Trafalgar Square gegen die Erneuerung der britischen Atom-U-Boot-Flotte teilgenommen. Jetzt hier in der ehemaligen Kirche St. John's in Westminster in London findet sie sich argumentativ auf der Seite David Camerons wieder.
    "Wenn es Leute in England gibt, die sich für meine Ansichten zur EU interessieren, dann freut mich das. Aber ich unterstütze nicht David Cameron. Meine Argumente pro EU gelten ja nicht nur für Schottland, sondern für das gesamte vereinigte Königreich."
    Neues Referendum zur schottischen Unabhängigkeit?
    Die Rede ist nach einer halben Stunde zu ende. Fragen werden zugelassen. Die erste dreht sich gleich um ein mögliches neues Referendum zur schottischen Unabhängigkeit, falls die Briten mehrheitlich für den Brexit stimmen.
    "First Minister, sie sprachen von einer reellen Chance und der lauter werdenden Forderung für ein zweites Referendum. Aber was wollen Sie? Sollte es dann ein zweites Referendum geben?"
    "Ich meine, das Vereinigte Königreich sollte nicht dafür stimmen, die EU zu verlassen," lautet die ausweichende Antwort von Nicola Sturgeon. "Wir reden über ein Szenario, gegen das ich mich einsetze. Ich will, dass Schottland unabhängig wird. Aber ich würde andere Umstände dafür vorziehen, wie Schottland unabhängig wird. Also ich hoffe, es kommt nicht zum Brexit."
    In Schottland bereitet man sich zurzeit auf stürmische Ostern vor, sowohl meteorologisch als auch politisch. Die Attacken aus England gegen die EU verärgern viele Schotten. Sie wollen nicht gegen ihren Willen zum Austritt aus der EU genötigt werden. Aber wäre das Szenario eines Brexit wirklich der richtige Zeitpunkt, wieder zur Unabhängigkeit zu blasen?
    Einen Werbespot der britischen EU-Gegner: am 23. Juni. "Wenn das Brexit-Referendum stattfindet, feiern wir unseren Unabhängigkeitstag." Ganz so einfach dürfte es für die Schotten nicht werden. Der Ölpreis ist dramatisch gefallen. Ein unabhängiges Schottland, das nicht von England gestützt würde, wäre zur Zeit ökonomisch kaum lebensfähig.
    "Wenn Schottland am 23. Juni für 'In', also einen Verbleib in der EU stimmt, was fast sicher ist," meint Alex Salmond, Sturgeons Vorgänger an der Spitze der SNP. "Und das Vereinigte Königreich stimmt für 'out' – dann will uns England aus der EU ziehen gegen unseren Willen. Das würde ein zweites Referendum fast unvermeidlich, es käme sehr schnell und diesmal wäre die Antwort der Schotten 'Ja'."
    Salmonds Plädoyer klingt deutlicher als das Sturgeons. Auf englischer Seite wird die Möglichkeit einer schottischen Abspaltung bei einem Brexit erstaunlich wenig zur Kenntnis diskutiert. Aus Geringschätzung? Vielleicht, weil die Engländer nicht daran glauben.
    Wenige Befürworter in der SNP
    Es gibt sogar in der SNP-Stimmen, die einen Brexit befürworten. Jim Sillars, ein ehemaliger stellvertretender Parteichef, argumentiert, auf sich alleine gestellt, würde Schottland schlechte Konditionen von der EU bekommen. Und noch ein Kalkül steht im Raum: dass einige von der SNP nämlich am 23. Juni aus taktischen Gründen für den Brexit stimmen, obwohl sie dagegen sind. Denn dann bekämen sie ja ihr zweites Referendum.
    Es wird viel um die Ecke gedacht bei diesen Winkelzügen - wahrscheinlich also meint es Nicola Sturgeon ernst, wenn sie erklärt, am liebsten sei es ihr doch, Engländer wie Schotten votieren gemeinsam dafür, in der EU zu bleiben. Die Unabhängigkeit wird erst einmal aufgeschoben.
    "Ich hoffe, es kommt nicht zum Brexit-Szenario. Ich setze mich dann in den Jahren danach für eine Unabhängigkeit ein, innerhalb der EU und mithilfe ihrer Chancen."