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Schottland und die Unabhängigkeit
"Wirtschaftliche Frage wird derzeit kaum diskutiert"

Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon will kommende Woche erste Schritte für ein Unabhängigkeitsreferendum einleiten. Ob sich die Unabhängigkeit für die Schotten rechne, hänge entscheidend vom Ölpreis ab, sagte der Wirtschaftshistoriker Matthias Morys im Deutschlandfunk.

Matthias Morys im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Demonstration in Edinburgh für die Unabhängigkeit Schottlands.
    Demonstration in Edinburgh für die Unabhängigkeit Schottlands. (picture alliance / dpa / Robert Perry)
    Das gesamte britische Öl liege vor der schottischen Küste. Einkünfte daraus würden dann ausschließlich Schottland und nicht mehr Großbritannien insgesamt zukommen. Allerdings werde die wirtschaftliche Frage derzeit kaum diskutiert.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Es war ein weiterer Schritt gestern auf dem Weg zum Brexit, zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Nacheinander haben Unter- und Oberhaus in London für das Brexit-Gesetz gestimmt. Die Regionalregierung in Schottland, die hat unterdessen schon mal klargemacht, dass sie jetzt noch einmal ein Unabhängigkeitsreferendum abhalten möchte. Wie geht das jetzt weiter in London, heute am Tag danach?
    Am Telefon ist jetzt Matthias Morys, Wirtschaftshistoriker an der Universität im englischen York. Schönen guten Morgen, Herr Morys.
    Matthias Morys: Guten Morgen.
    Armbrüster: Herr Morys, it’s the economy stupid. Würde sich die Unabhängigkeit für Schottland rechnen?
    Morys: Schottland könnte problemlos die Unabhängigkeit machen. Es wäre vermutlich kein großer wirtschaftlicher Gewinn für das Land, aber es wäre auch kein großer wirtschaftlicher Verlust. Wir haben aufgrund des ersten Referendums im Jahre 2014 ja sehr viele wirtschaftliche Analysen vorliegen und die haben eigentlich alle gesagt, Schottland könnte die Unabhängigkeit machen. Es würde vielleicht hier oder da schwierig werden, aber machbar wäre es mit Sicherheit.
    "Das gesamte britische Öl liegt ja vor der schottischen Küste"
    Armbrüster: Aber sind die Voraussetzungen jetzt nicht etwas andere? Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Das wäre ja alles in einer Welt nach dem Brexit. Dann hätten wir auf einmal eine feste Grenze zwischen Schottland und England, etwas, was es seit Jahrhunderten nicht gegeben hat.
    Morys: Das ist natürlich richtig. Die Situation hat sich ein bisschen geändert, aber so wie auch zwischen Großbritannien und der Europäischen Union in Zukunft. Es würde zwar eine Grenze bestehen, aber es würde ja nach wie vor Handel zwischen den Ländern stattfinden. Der Großteil des schottischen Handels findet in der Tat mit dem Rest des Vereinigten Königreiches statt, aber der würde ja nicht vollständig zum Erliegen kommen. Ich denke, bei der schottischen Unabhängigkeitsdiskussion aus wirtschaftlicher Sicht kommt es immer sehr, sehr stark darauf an, wie hoch man den Preis des Öls in Zukunft ansetzt. Das gesamte britische Öl liegt ja vor der schottischen Küste. Das heißt, Einkünfte daraus würden dann ausschließlich Schottland und nicht mehr Großbritannien insgesamt zukommen. Und wenn man sich die Analysen von 2014 genau anguckt, dann sieht man, dass es immer die verschiedenen Annahmen bezüglich des zukünftigen Ölpreises sind, die die Leute entweder schließen ließen, die Unabhängigkeit ist wirtschaftlich gut, oder sie ist wirtschaftlich problematisch, und natürlich können wir nicht wissen, wie sich der Ölpreis entwickelt.
    Armbrüster: Und vor allen Dingen die Ölmenge auch. Da können wir es vielleicht wissen, denn das Öl, das wird ja irgendwann zu Ende gehen, die Ölvorräte in der Nordsee.
    Morys: Das ist vollkommen richtig. Aber das ist sicher noch ein Zeitraum von 25, 30 Jahren. Dort ist noch ein gewisser Puffer. Dennoch, glaube ich, sollte man nach dem Jahr 2016 mit Brexit und Trump sagen, dass viele Entscheidungen im politischen Bereich gerade nicht aufgrund wirtschaftlicher Faktoren getroffen werden, und es war gestern sehr interessant zu sehen in Großbritannien, dass die wirtschaftliche Frage eigentlich gar nicht so richtig diskutiert wurde bei der schottischen Unabhängigkeit. Es ging sehr stark um die Frage, ob die schottische Nationalpartei genügend politische Dynamik entfachen kann, um das zweite Referendum anders ausgehen zu lassen als das erste Referendum vor drei Jahren.
    "Die EU wird der schottischen Unabhängigkeit positiver gegenüberstehen"
    Armbrüster: Wie könnte das denn passieren? Wie könnte die Partei das hinkriegen, dass sie es diesmal gewinnt?
    Morys: Ich denke, das sind eine ganze Reihe von Faktoren. Ein ganz zentraler Punkt ist der, dass die Europäische Union jetzt der schottischen Unabhängigkeit positiver gegenüberstehen wird. Vor drei Jahren hat man ja gesagt, na ja, da warten wir mal, eigentlich können wir Schottland dann nicht in die Europäische Union aufnehmen als unabhängiges Land. Jetzt ist es umgedreht: Die Europäische Kommission hat ja vor einigen Monaten gesagt, die Schotten hätten sich jetzt verdient, gehört zu werden in ihrem Anliegen Unabhängigkeit. Und letztlich ist Schottland natürlich zur Verhandlungskarte für Brüssel geworden durch die gestrige Entscheidung.
    Aber was vielleicht noch wichtiger ist, sind zwei andere Punkte. Erstens: Es ist nicht ganz klar, wer im Moment eine Gegenkampagne in Schottland gegen die schottische Unabhängigkeit leiten sollte. Diese "better together"-Kampagne des Jahres 2014, diejenigen, die versucht haben, die Unabhängigkeit zu verhindern, diese Koalition kann kaum wiedererstehen. Labour Party und Konservative in Schottland sind sehr zerstritten.
    Und dann hat die schottische Nationalpartei auch eine ganze Reihe von kleinen Schrauben, an denen sie drehen kann. Zum Beispiel: Wer darf in dem Referendum wählen? Man wird sich bemühen, wie auch im Jahre 2014, die EU-Ausländer in Schottland mit abstimmen zu lassen, und diesmal werden die natürlich alle für die Unabhängigkeit stimmen, einfach weil sie der Meinung sind, dass die Unabhängigkeit von Großbritannien ihnen zugleich den Verbleib in der Europäischen Union sichert.
    "Sturgeon ist eine extrem geschickte Politikerin"
    Armbrüster: Das heißt, Herr Morys, wenn ich das mal zusammenfassen darf, Sie sehen da diesmal durchaus sehr gute Chancen, dass die Schotten mehrheitlich für Ja stimmen, für Ja, wir wollen unabhängig werden?
    Morys; Es wird auf alle Fälle sehr knapp werden. Aber ich glaube, eine ganze Reihe von Randfaktoren sehen diesmal positiver aus. Und worin sich alle Kommentatoren einig sind, egal wie man über die Inhalte der schottischen Premierministerin Nicola Sturgeon denkt: Sie ist eine extrem geschickte Politikerin. Das wird von allen in Großbritannien anerkannt. Und sie könnte schaffen, was ihrem Vorgänger Alex Salmond verwehrt blieb. Ja!
    Armbrüster: Das Ganze fußt ja auch so ein bisschen immer auf der Annahme der Schotten, dass alles mit dem Brexit in Großbritannien in den kommenden Jahren bergab gehen wird und dass auch die Schotten das natürlich mitbekommen werden. Allerdings ist es ja sehr interessant zu sehen, dass sich seit dem Brexit in Großbritannien eigentlich nicht so besonders viel geändert hat, zumindest nicht zum Negativen. Wir haben ein hohes Wirtschaftswachstum und eine sehr niedrige Arbeitslosigkeit. Das heißt, die ganzen Unkenrufe, die wir da vor dem Brexit gehört haben, die haben sich eigentlich als nicht beständig herausgestellt. Wird das den Schotten nicht auch klar werden, dass es da möglicherweise gar nicht so schlimm kommt mit dem Brexit?
    Morys: Das ist eine sehr gute Frage, die ja gleichermaßen Schottland wie England betrifft. Es ist vollkommen richtig, dass die Situation lange nicht so dramatisch geworden ist, wie man angenommen hat. Eigentlich ist außer der Abwertung des englischen Pfundes kaum etwas passiert in der britischen Wirtschaft. Auf der anderen Seite: Die großen Unternehmen haben alle angekündigt, wenn die Sache in Richtung eines hard Brexit geht, das heißt nicht nur Austritt aus der EU, sondern auch Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt, dann wird man sich bemühen, die eigenen Operationen aus Großbritannien herauszuverlagern nach Kontinentaleuropa. Und ich glaube, bei der gesamten Diskussion in Großbritannien, hier geht es nicht um große europäische Ideen. Das ist so ein bisschen die deutsche oder auch die französische Herangehensweise an Europa. Hier geht es um harte nüchterne Fakten. Wenn jetzt ein Großteil oder auch nur ein gewisser Teil der wichtigen Firmen in London seinen Sitz verlegt, dann wird man noch mal umdenken und dann wird auch das Parlament in Westminster noch einmal umdenken. Und da wird man abwarten müssen, was sich in den nächsten Monaten ergibt.
    "Die englische Wirtschaft ist massiv auf die Ausländer angewiesen"
    Armbrüster: Herr Morys, zum Schluss noch eine eher persönliche Frage. Wissen Sie eigentlich, wie lange Sie noch in Großbritannien bleiben dürfen?
    Morys: Ich selbst sehe die Sache relativ gelassen. Ich arbeite ja, wie Sie sagten, im Universitätsbereich. Der Universitätsbereich ist sehr stark auf die Kontinentaleuropäer angewiesen. Die englischen Unis würden gar nicht funktionieren, wenn man nicht diese ganzen Kontinentaleuropäer hier hätte.
    Armbrüster: Aber es gibt bislang zumindest noch keine Garantie für Kontinentaleuropäer, dass sie tatsächlich bleiben dürfen?
    Morys: Das ist vollkommen richtig und das englische Parlament hat gestern ja auch darauf Wert gelegt, dass diese Garantie nicht einseitig erklärt wird, um diese Verhandlungsposition beizubehalten. Aber wissen Sie, die Zahl von EU-Ausländern in Großbritannien – das sind ja drei Millionen -, die Zahl ist viel zu groß. Die englische Wirtschaft ist massiv auf die Ausländer angewiesen. Das ist ja gerade das Paradoxe des Brexit, dass die Einwanderung wirtschaftliche extrem gut ist und war. Es hat sich gegen diese wirtschaftlich sinnvolle Einwanderung nur politischer Widerstand, Ressentiments entwickelt, aber wirtschaftlich wird es England ohne die Ausländer gar nicht machen können. Und in dem Sinne, glaube ich, haben die meisten Ausländer ein sehr gutes Recht, sehr entspannt den Verhandlungen mit Brüssel entgegenzublicken.
    Armbrüster: … sagt hier bei uns in den "Informationen am Morgen" Matthias Morys, Wirtschaftshistoriker an der Uni York. Vielen Dank, Herr Morys, für das Gespräch.
    Morys: Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.