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Schrecken der Schlachten

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht war das Buch, mit dem die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch 1985 - vor nun fast 20 Jahren - in der damaligen Sowjetunion schlagartig berühmt wurde. Es ist dies eine kunstvolle Montage aus Hunderten von authentischen Interviews mit Frauen, die im zweiten Weltkrieg gekämpft hatten: Scharfschützinnen, Sanitäterinnen, Pilotinnen, Partisaninnen, aber auch einfachen Wäscherinnen und Köchinnen hinter der Frontlinie. Durch den anderen, den weiblichen Blick - in dem es um die Details und Nuancen des Kriegsalltags, die tägliche Konfrontation mit dem Tod, um die menschliche Tragödie jeder einzelnen Frau geht - entsteht ein tief erschütterndes Gesamtbild dieser leidvollen Jahre, das zum offiziell geltenden Heldenmythos des Großen Vaterländischen Krieges in deutlichem Widerspruch stand.

Von Karla Hielscher |
    Auf meinen journalistischen Reisen hatte ich verstanden, dass die Frau einen anderen Krieg sieht, den Krieg, den der Mann vor uns verbirgt und nicht erklärt. Sie sehen das nicht. Die Frau aber hat eine andere Sicht. Für sie ist der Krieg immer Mord. Ungeachtet aller Ideen sieht sie, wie schrecklich es ist zu töten und fragt sich, warum die Menschen einander umbringen.

    Und obwohl dieses Buch zwei Jahre lang in den Redaktionen gelegen hatte, ehe es dann mit Beginn der Perestrojka erscheinen konnte, und obwohl damals schon eine gewaltige Leserreaktion einsetzte, die bewies, dass durch Alexijewitschs literarische Dokumentation die Tabus und Stereotypen der bisherigen von der männlich Sicht geprägten Kriegsdarstellung durchbrochen worden waren, ist die Autorin zu der Überzeugung gekommen, dass der seinerzeit veröffentlichte Text, der auch in deutscher Übersetzung vorlag, nicht das wahre Buch darstellt.

    Erstens haben sich die Zeiten geändert: die Menschen sind innerlich freier geworden, haben ihre Fesseln abgeworfen. Ich bin mit vielen in Verbindung geblieben, viele schreiben mir. Und ganz oft höre ich Sätze wie: "Damals haben wir das nicht gesagt", "Damals hatten wir Angst" oder ähnliche Anmerkungen.Dann haben mir viele vor ihrem Tod noch ausführlichere Aufzeichnungen geschickt, ganze Hefte mit ihren Erinnerungen, die sie für ihre Kinder und Enkel aufgeschrieben haben. Aber oft waren die den Kindern und Enkeln nicht so wichtig und sie haben sie mir geschickt. Denn der Mensch möchte nicht, dass er spurlos verschwindet. Und als ich all das sah, habe ich verstanden, dass es das Buch, so wie es gedacht war, gar nicht gibt, dass es neu geschrieben werden muß. Und so hat sich das Buch also zu etwa 25-30% verändert.

    Der Text war durch Eingriffe der Zensur verharmlost. Ganze Themenkomplexe, die das Leben der weiblichen Soldaten wesentlich bestimmt hatten - wie Sexualität, Vergewaltigungen oder grausames Verhalten auch von russischer Seite kommen darin nicht vor. Etwa die bewegende Episode über die jungen Soldatinnen, denen nach einem Marsch bei 30 Grad Hitze das Menstruationsblut die Beine herunterlief, denn - jämmerlich ausgerüstet wie sie waren - in viel zu großen, scheuernden Stiefeln, in Männerunterhosen - war natürlich an Binden oder Watte, an denen es sogar in den Lazaretten fehlte, überhaupt nicht zu denken. Als das Bataillon an einen Fluss kamen, stürzten sich die jungen Frauen trotz Beschuss nur schnell ins Wasser, um sich zu waschen, während die Männer in den Uferbüschen Schutz suchten. Ein Mädchen starb dabei. Dieser Bericht einer Beteiligten, in dem sich für die Autorin der Wahnsinn des Krieges zu einer besonders einprägsamen Metapher verdichtet, wurde von der Zensur gestrichen.

    Und hier nun das Gespräch mit dem Zensor: Warum haben Sie das geschrieben? Das sind solche naturalistischen Details, das erniedrigt das heroische Bild. Ich hab erwidert, dass die Frau im Krieg nicht nur ideell, mit dem Kopf und dem Herzen gelitten hat, sie hat das als Biosystem durchlebt. Denn der Mensch ist eine Ganzheit. Und ich erinnere mich wie er sagt: "Wo haben Sie so was gelesen, bei Remarque? Bei uns kommen Sie mit Remarquismus nicht durch! Und überhaupt, eine sowjetische Frau ist kein Tier!" Daran erinnere ich mich bis heute. Und dann: "Wer ist Ihr Held? Wir hatten einen so großen Sieg der Helden." Und ich sag: Ja, unser Sieg war schrecklich, groß aber schrecklich, und mein Held ist die Wahrheit." Und ich erinnere mich wie einer der Zensoren - es waren immer mehrere Zensoren (....)- sagt: "Und was ist Ihrer Meinung nach die Wahrheit?" Und ich sage: "Na, die Realität, das, was wirklich geschehen ist. Sich unmittelbar, von Angesicht zu Angesicht der Realität stellen, sie nicht fürchten, sich nicht hinter einer Idee oder irgendwas anderem verstecken!" Er antwortet: "Nein! Sie denken, die Wahrheit ist das, was vor ihnen auf der Erde liegt, inmitten von Ungeziefer, inmitten des Schmutzes, der, wie Sie schreiben, der Krieg war. Die Wahrheit ist das, was den Menschen erhebt, groß macht, das, wovon wir träumen.

    Aber Swetlana Alexijewitsch ist ehrlich genug zuzugeben, dass es auch Selbstzensur war, die Schere im eigenen Kopf, die sie manches verschweigen ließ. Sie ist sich bewusst, dass auch sie ein Kind ihrer Zeit, ein Kind der Sowjetideologie mit ihrem idealisierten, schönfärberischen Menschenbild war. Manch grauenhafte Einzelbeobachtung, von der ihr die Frauen erzählt haben, Beweise dessen, wozu ein Mensch im Krieg fähig ist, hat sie von sich aus weggelassen. So gibt es etwa eine Episode, in der ein Mädchen beobachtet, wie ihr Bruder, ein Partisan, den völlig unschuldigen alten Müller, den Starost des Dorfes, das von den Deutschen besetzt war, brutal mit einer Eisenstange totschlägt.

    Und dieses Stück hab ich rausgelassen. Weil ich diese Ausmaße des Bösen, diese Abgründe im Menschen nicht zulassen konnte. Das war ja mein erstes Buch! Das Einzige war, dass ich all das in meinen Tagebüchern protokolliert hatte und nun einfügen konnte. Dadurch ist ein Tagebuch dessen entstanden, was diese Frauen erzählen und dessen, was ich sie frage, und auch dessen, was ich ausgestrichen habe. Das alles zusammen ist ein Dokument der Zeit.

    Durch ihre Erfahrungen im Afghanistankrieg ist Swetlana Alexijewitsch dann endgültig zur radikalen Pazifistin geworden.

    Seitdem kann mich niemand mehr zwingen zu glauben, dass es gerechte Kriege gibt. Nirgendwo. Krieg - das ist Wahnsinn, legitimierter Wahnsinn, legitimiertes Verbrechen. Und im 21. Jahrhundert ist keinerlei Rechtfertigung von Krieg mehr möglich. Der Irak, da sind wir nicht ins 21. Jahrhundert gegangen, sondern zurück!

    Der Krieg hat kein weibliches Gesicht steht am Beginn von Swetlana Alexijewitschs faszinierendem Lebenswerk, der Chronik der Sowjetunion mit den Stimmen der Betroffenen, vom Zweiten Weltkrieg über den Afghanistankrieg bis zu Tschernobyl und dem Zusammenbruch des Sozialismus. Sie hat damit Geschichte geschrieben, jedoch nicht die Geschichte der Ereignisse und Fakten, sondern die Geschichte der Menschen und ihrer Gefühle, die Geschichte eines schmerzlichen, aber auch befreienden Wandlungsprozesses im Denken und Empfinden.

    Swetlana Alexijewitsch hat inzwischen verstanden, dass ihre Interview-Prosa in dieser Zeit eines tiefen historischen Umbruchs einen laufenden, unabgeschlossenen Prozess dokumentiert. Sie will deshalb auch die Themen ihrer späteren Bücher vertiefen und die Menschen neu befragen. Der erste Band dieses grandiosen Zyklus über die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, in dem aus hunderten von Tonbandprotokollen, durch vorsichtige Bearbeitung bedeutende Literatur entsteht, ist gerade - in der überzeugenden neuen Übersetzung von Ganna Maria Braungardt - auch auf deutsch erschienen.

    Swetlana Alexijewitsch
    Der Krieg hat kein weibliches Gesicht
    Berliner Taschenbuchverlag, EUR 11,90