Archiv


Schreiben als eine Art Kampfansage

John Irving präsentiert sich mit seinem Roman "In einer Person" in seiner besten Form: Die Tragikomödie schreibt er mit geradezu barocker Erzähllust.

Von Hajo Steinert |
    Sollte es Menschen geben, die noch kein Buch des amerikanischen Vollbluterzählers John Irving gelesen haben - in diesem, seinem 13. Roman findet man alles, was einen guten Irving ausmacht: unangepasste Typen, packende Szenen, Literatur als großes Kino. Und diejenigen, die bis heute alle Hauptwerke - von "Garp und wie er die Welt sah" (1979) über "Das Hotel New Hampshire" (1982) bis zu "Gottes Werk und Teufels Beitrag" (1988) – verschlungen haben, seien versichert, dass trotz der Wiederkehr vieler typischer Irving-Motive "In einer Person" einer seiner aufregendsten Romane seit Langem geworden ist. Ein immerhin 725 Seiten starkes, höchst ereignisreiches Werk, das mit außergewöhnlichen, mit geradezu barocker Erzähllust in ein Lebenstheater geworfenen Figuren aufwartet, die der Leserin und dem Leser - Irving ist einer der wenigen amerikanischen Schriftsteller, die von beiden Geschlechtern gleich gerne gelesen werden - noch lange nach der Lektüre durch den Kopf gehen, schwirren und spuken.

    Da ist zunächst die Erzählerfigur des Romans. Wie schon in "Garp" ist es auch hier wieder ein fiktiver Schriftsteller, der sein Leben, das seiner Verwandten und das seiner zahllosen Weggefährtinnen und Weggefährten in weitverzweigten Handlungssträngen rekapituliert. William, genannt Billy Abbott, ist so alt wie sein literarischer Erschaffer, lebt auch in Vermont, wächst auch nebst Mutter, die sich von ihrem ersten Mann noch vor der Geburt des Kindes scheiden ließ, mit einem Stiefvater auf, der den Sohn adoptiert und ihn mit der Welt der Literatur, des Theaters vor allem, vertraut macht.

    Wie John Irving selbst hat sich auch Billy Abbott von Jugend an dem Sport des Ringens verschrieben. Ringen ist wie das Schreiben für beide Männer eine Art Kampfansage. Wie der Autor verbringt auch sein literarisches 'Alter Ego' prägende Jahre als Student in Wien, später dann, in den wilden 70ern, in New York.

    Doch anders als der reale Autor, der so viel Erfolg hat, dass er seinen Job als Lehrer früh an den Nagel hängen konnte und fortan nur noch schrieb, kehrt Billy Abbott in reifen Jahren just an die Schule als Lehrer zurück, wo er als Schüler angefangen hatte. Und wo es seine Schüler heute - vor allem im persönlichen Umgang mit pubertärem Stürmen und Drängen - einfacher haben sollen, als er es damals hatte. An die Schule, wo sein Drama des Lebens begann. An die sogenannte "Favourite Academy" in einem fiktiven Kaff namens "First Sister", das dem jungen, ebenso neugierigen wie wissbegierigen Billy in den 50er-Jahren vor allem zweierlei bot: eine Bibliothek, wo die Leiterin ihn mit prägenden Werken von Charles Dickens - auch Irvings Lieblingsschriftsteller - und James Baldwin vertraut machte. Und eine Laientheatergruppe, die von seinem Großvater und seinem Stiefvater angeführt wurde, wo neben Ibsen - auch Irvings Lieblingsdramatiker - vor allem Shakespeare auf dem Spielplan stand. Und wo die Mutter als Souffleuse arbeitete.

    Der Titel des Romans, "In einer Person", ist ein Shakespeare-Zitat. Es stammt aus "Richard II", wo es im Original heißt: "Thus play I in one person many people, and none contented.” Womit wir beim Drama des Lebens sind. Und das besteht hier wie schon in Irvings früheren Büchern, hier aber ungleich totaler in Szene gesetzt, in der Suche nach einer eigenen, von gesellschaftlichen Konventionen losgelösten Sexualität.

    Ohne Tabus und trotzdem nicht voyeuristisch, detailfreudig und doch ohne Effekthascherei führt John Irving einer puritanischen Gesellschaft ein Szenarium vor Augen, in dem es vor allem um eins geht: das Ringen um Anerkennung bisexueller und transsexueller Liebesbeziehungen. Die Auflösung einer eindeutigen Geschlechtszugehörigkeit als Folge einer natürlichen, individuellen Entwicklung. Das Eingeständnis, zwei Geschlechter in sich gleichzeitig vereinen zu können – das ist das große Thema dieses Romans.

    "In einer Person" ist allerdings kein Thesen-, kein Aufklärungsroman. Das umfangreiche Figurenensemble hat weder eine Abschreckungs- noch eine Vorbildfunktion. Gerade deshalb geht einem das Buch in der Tradition eines traurigen Schelmenromans beim Lesen unter die Haut. Der Schriftsteller, den John Irving als seine Erzählerfigur erfunden hat, mit der er experimentiert, spürt von seiner Kindheit an, dass er sowohl Mädchen als auch Jungen, später dann Frauen wie Männer gleichermaßen anziehend findet. Brüste, wenn sie nur mädchenhaft klein sind, stimulieren ihn genauso wie der Abdruck eines Penis hinter dem Hosenschlitz.

    In einer anrührend erzählten Begebenheit erleben wir zum Beispiel, wie der sich erinnernde Erzähler beim Körperspiel mit der Tochter seines Geschichtslehrers nicht eigentlich ihren Körper begehrt, sondern den lose daliegenden, ausgezogenen BH, welchen er mopst und im weiteren Verlauf der Pubertät mit ihrer Erlaubnis auch sein eigen nennen darf und immer dann hervor holt, wenn er seine sexuelle Erregung unterstützt.

    Dass diese Mitschülerin, Elaine Hadley, ausgerechnet von Jacques Kittredge, den Starringer, den Billy Abbott begehrt, schwanger wird, führt zu folgenreichen Komplikationen. Das Thema Abtreibung ist für John Irving immer noch aktuell.

    Die Faszination für das Tragen von Kleidungsstücken aus der Frauengarderobe beobachtete Billy übrigens schon bei seinem Großvater. Der spielte in seinem Laientheater gerne weibliche Rollen – sogar die Nora bei Ibsen - in weiblicher Kostümierung. Den Weg in Billy Abbotts polysexuelles Leben unterstützt freilich vor allem die Signalfigur des Romans, die Leiterin der Bibliothek in First Sister, Miss Alberta Frost, mit ihren ausgesuchten Lektüreempfehlungen.

    Die mehr als doppelt so alte Verführerin stellt sich im Verlauf der Handlung als ehemaliger Albert Frost heraus, sie war zu Collegezeiten ein begehrtes Mannsbild und vor allem: ein guter Ringer. Ehe Miss Frost gefeuert wird, wird Billy Abbott von ihr/ihm auch ganz körperlich verführt. Irving schildert seine Sexszenen mit Gespür für die ihnen innewohnende Tragik und Komik zugleich. "In einer Person" ist als Ganzes eine Tragikomödie.

    Im letzten Drittel des Romans, dessen erzählte Zeit von den 50ern bis in unsere heutige Gegenwart reicht, verliert der Roman mit seinem breiten Erzählstrom und seinen vielen quicklebendigen Nebenflüssen, mit seinen starken Hauptfiguren und vielen auftauchenden und verschwindenden Nebenfiguren, seinen Sog. Das Verebben des Erzählstroms zugunsten einer Aneinanderreihung von Einzelszenen ist allerdings nicht mit einem Nachlassen der Kondition des Autors John Irving zu begründen. Das Kappen von Lebens- und Erzähladern hängt mit einer in diesem Roman auch szenisch umgesetzten tödlichen Bedrohung zusammen. Nicht alle Akteure haben wie Billy Abbott früh genug angefangen, Kondome beim Sex zu benutzen. Ein Schulfreund stirbt an Aids. Mütter von Kindern, die an den Folgen von Aids sterben, begehen Selbstmord.

    Die letzten, mitunter schmerzhaft zu lesenden Kapitel des Romans zeigen, dass John Irving nicht nur ein begnadeter Erzähler ist, sondern auch ein Autor, der die Lebens- und Todesumstände von Figuren, wie nur er sie erfinden kann, der genauen Recherche ist. "In einer Person" ist ein in jeder Beziehung bewegender Roman. Glänzend übersetzt von Hans. M. Herzog und Astrid Arz.

    Buchinfos:
    John Irving: In einer Person. Roman. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog und Astrid Arz. Diogenes Verlag, Zürich 2912, 725 Seiten, 24,90 Euro