Der Ausgangspunkt von Michel Jeans autofiktionalem ist ein Trauerfall. Die Beisetzung seiner Großmutter führte Jean 2004 zurück in seinen Herkunftsort am Lac Saint-Jean, fünf Autostunden nördlich von Québecs Hauptstadt Montreal. Jeans Großmutter Jeanette Siméon war dort 1904 als Kind einer Nomadenfamilie im Wald geboren worden. Später verlor sie durch Heirat ihren Status als Indigene und musste das Reservat verlassen. Die Familie wurde in zwei Teile zerrissen und vereinte sich erstmals wieder am Grab der Großmutter.
„In diesem letzten Augenblick, in dem sie ihr Gesicht noch einmal den Ihren zeigt, versammelt Jeannette Siméon ein letztes Mal die beiden Hemisphären ihres Lebens und zwei Welten um sich. Warum hat das Schicksal uns, ihre Kinder, auf diese Seite gestellt? Und nicht auf die, in der sie aufgewachsen ist? Was hat diesen Bruch ausgelöst? Welches Ereignis hat sie von dem Weg abgebracht, der ihr bestimmt war, dem Weg, dem der Rest der Familie gefolgt ist?“
Michel Jean nähert sich den Antworten auf diese Fragen aus zwei Ich-Perspektiven, als fiktive Rückschau der Großmutter und als autobiographische Selbstreflektion.
Landenteignungen, Entrechtung und „kultureller Genozid“
Wie brisant sein Thema ist, zeigt auch ein Detail der Editionsgeschichte des Romans: Der Titel „Atuk“, der indigene Familienname der Großmutter und zugleich das Wort für Karibu, war bei der ersten Auflage 2012 als nicht verkaufsfördernd verworfen worden. Als einer der ganz wenigen prominenten Journalisten indigener Abstammung war Michel Jean damals einer der ersten Autoren überhaupt, die einen persönlichen Blick auf den schwelenden Konflikt zwischen Indigenen und Mehrheitsgesellschaft, auf die Landenteignungen, die Entrechtung und den mittlerweile auch von Kanadas Regierung anerkannten „kulturellen Genozid“ warfen. Jean, Angehöriger der Nation der Innu, meint im Gespräch in Montreal:
„Ich gehöre zu den Innu, die in den Städten leben, die aber dennoch eine Sehnsucht nach dem haben, was man uns genommen hat. Ich hätte unsere Kulturtraditionen gerne selbst gelebt, hätte unsere Sprache gelernt. Aber das wurde mir genommen. Schreiben bedeutet für mich, mich dem wieder anzunähern. Die Literatur ist eines der wenigen Ausdrucksmittel, die uns bleiben. Es ist wichtig, dass die Autochthonen in der Öffentlichkeit sichtbar sind, auf welche Weise auch immer. Und dazu trage ich bei, ich schreibe Bücher.“
Nach sorgfältiger genealogischer und historischer Vorarbeit versetzt Michel Jean sich in die fiktiven Erinnerungen seiner Großmutter an ihre Eltern- und Großeltern, an das Nomadenleben, das Naturwissen, die Jagd- und Überlebensstrategien in den unermesslichen Weiten des Landes und an die schleichende Assimilierung durch die Mehrheitskultur. Auf der autobiographischen Ebene des Romans untersucht Jean selbstkritisch die eigene langjährige Weigerung, sich mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen. Daneben berichtet er von seinen Erfahrungen mit dem alltäglichen Rassismus.
Eine sehr gut komponierte und äußerst instruktive Geschichte
Als eine Gesetzesnovelle ihm ermöglicht, den Status eines Indigenen anzunehmen, steht Jean vor einer grundlegenden Entscheidung.
„Wenn man im Abstrakten, im Traum und in der Melancholie einer verschwundenen Welt verharrt, vermeidet man, eine Position zu sich selbst zu beziehen. Seit jeher laviere ich mich schon so durch. Heute wird mir die Frage gestellt. Sie ist konkret. Und ich muss darauf antworten. Willst du ein Indianer werden? Betrachtest du dich als Innu, Michel?“
Aus seiner Nostalgie gegenüber einer verschütteten Vergangenheit macht Michel Jean keinen Hehl, und manches Mal scheint der Autor in der emotionalen Einfühlung in seine Großmutter über das Ziel auch hinauszuschießen – etwa wenn er detailliert die erste Liebesnacht zwischen ihr und seinem Großvater beschreibt. Daneben fällt auch so manche sprachliche Ungeschicklichkeit des eigentlich versierten Québec-Kenners und Übersetzers Michael von Killisch-Horn ins Auge – etwa wenn er bei Windstille umständlich von der „Abwesenheit von Wind“ spricht oder er den Erzähler einen Automotor „einschalten“ lässt anstatt ihn wie gewöhnlich zu starten. Bei derlei Ungenauigkeiten hätte ein sorgfältiges Lektorat leicht Abhilfe schaffen können. Das ändert aber nichts daran, dass Michel Jeans „Atuk“ eine sehr gut komponierte, immer nah am Leben erzählte und überdies äußerst instruktive Geschichte über Kanadas fehlgeleitete Minderheitenpolitik und deren seelische und familiäre Folgen ist.
Michel Jean: „Atuk, sie und wir“.
Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn.
Wieser Verlag, Klagenfurt. 220 Seiten, 21 Euro.
Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn.
Wieser Verlag, Klagenfurt. 220 Seiten, 21 Euro.