Michael Köhler: Es war eigentlich nur ein Sommerurlaub in Andalusien geplant. Doghan Akhanli, türkischer Schriftsteller mit deutschem Pass, wollte mit seiner Lebensgefährtin in Granada ausspannen. Nach Ankunft am 16. August 2017 wollten sie auf den Spuren Lorcas die Gegend ansehen. Es reichte nur für einen Besuch des Lorca Museums. Da kam die spanische Polizei mit einem türkischen Haftbefehl und Handschellen. Wenige Tage später kamen der Literat frei, weil die deutsche Botschaft intervenierte.
Her Akhanli, sie mussten aber zwei Monate in Madrid bleiben bis ein spanisches Gericht das türkische Auslieferungsbegehren zurückwies. Ihre Erfahrung in Gefängnissen haben sie niedergeschrieben: "Verhaftung in Granada" ist gerade erschienen.
Der Vorwurf lautete angebliche Teilnahme an einem Raubüberfall, den eine linksextremistische. Terrorgruppe vor 27 Jahren in der Türkei begangen haben soll.
Herr Akhanli, sie sind in Handschellen nach Madrid gebracht worden?
Drei Mal willkürlich verhaftet
Doghan Akhanli: Ja, in Handschellen, und die Vergangenheit war plötzlich Gegenwart geworden und als ob alle Geschehnisse, die ich miterlebt habe, beobachtet habe, Zeuge war in der Vergangenheit, plötzlich in dieser Zelle in Granada komprimiert. Obwohl ich mir logischerweise erklären konnte, dass ich in Spanien bin, hier kann mir nicht so viel passieren, und nach der Gesetzgebung können sie mich nicht einfach in ein fremdes Land abschieben oder ausliefern, trotzdem konnte ich die Gefühle oder Trauma von mir, die ich in der Vergangenheit hatte, nicht kontrollieren.
Köhler: Es ist ein Buch geworden über Folter, Gewalt und Politik, Herr Akhanli. Sie sind, wenn ich es richtig weiß, schon mit 18 Jahren inhaftiert worden, nur weil Sie eine linksgerichtete Zeitung vielleicht getragen haben.
Akhanli: Genau.
Köhler: Sie sind dann 2010 länger in Haft gewesen, auch in der Türkei. Wie ist das, wenn man inhaftiert wird? Ich habe gerade einen befreundeten Künstler getroffen, der einige Tage in Kuba inhaftiert wurde, nur weil er als Fotograf im Jahr 2017 Aufnahmen gemacht hat. Wenn man plötzlich von der Straße weggeholt wird und unter Vorwand verhaftet wird, wie ist das?
Akhanli: Die erste Festnahme als 18-jähriger Junge und die letzte Festnahme in der Türkei 2010, aber auch die Festnahme in Spanien, diese drei Festnahmen haben eine ähnliche Besonderheit. Alle drei Festnahmen waren willkürlich und ich konnte auch nicht erklären, warum ich im Gefängnis bin. Anders als ich zur Militärzeit in der Türkei festgenommen wurde und sogar schwer gefoltert wurde. Das hatte einen Sinn. Ich war damals ein Kommunist und ich habe gegen das Militär gekämpft und ich wusste, wenn sie mich schnappen, foltern sie mich.
Köhler: Das war Mitte der 70er-Jahre?
!Akhanli:!! 80er-Jahre nach dem Militärputsch. Deshalb konnte ich mit diesen zwei schwierigen Festnahmen und Verhaftungen besser umgehen als mit der ersten und den letzten zwei Festnahmen, weil ich konnte wirklich nicht erklären, warum muss ich hier sein und vielleicht lebenslänglich da sein. Die Bedrohung war so groß und unerträglich, muss ich sagen.
In der Türkei herrscht "absolute Willkür"
Köhler: Sie leben seit über zwei Jahrzehnten in Deutschland, haben hier politisches Asyl erhalten. Wir sprechen in einem Moment, da alle großen Zeitungen von der Freilassung des "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel sprechen und schreiben, und in seiner Videobotschaft hat er gesagt, dass er die Gründe seiner Verhaftung ebenso wenig kennt wie auch die Gründe seiner Freilassung. Das heißt, in dieses Glück mischt sich auch immer ein Unbehagen rein, denn von unabhängiger Justiz und einem Rechtsstaat kann man doch da wohl kaum sprechen, oder?
Akhanli: Das ist ja ein Beweis, dass es in der Türkei keine unabhängige Justiz gibt. Erstens: Der Staatschef Erdogan hat am Anfang gesagt, obwohl es nicht erlaubt war, solange ich im Amt bin, kann Deniz Yücel nicht freigelassen werden, und er ist auch nicht freigelassen. Und nach seinem Befehl jetzt, weil er im Moment politisch in einer schwierigen Lage ist, hat er den Befehl gegeben, lassen Sie diesen Mann frei. Das hat mit Rechtsstaatlichkeit gar nichts zu tun, sondern absoluter Willkür, und das ist ein Beweis.
Köhler: Ich spitze mal zu. Würden Sie sagen, die Staatsanwaltschaft ist nur ein verlängerter politischer Arm der Regierungspartei?
Akhanli: Ja, absolut! Und wie grotesk der Prozess von Deniz Yücel ist, darüber kann man wirklich ein Lustspiel machen.
Köhler: Sagen wir eine Tragikomödie?
Akhanli: Ja, genau! Eine bittere Komödie. Wenn Deniz wirklich eine Romanfigur wäre, wirklich eine Theaterfigur wäre, das kann ein lustiges Spiel sein. Aber es ist nicht lustig. Die Staatsanwaltschaft verlangt 18 Jahre und ein Richter, obwohl die Staatsanwaltschaft 18 Jahre Strafe verlangt, lässt Deniz Yücel frei mit der Voraussetzung, dass er sofort das Land verlassen muss. Normalerweise soll man ja auch eine gesetzliche Auslandssperre erklären.
Köhler: Sie haben ein Buch geschrieben über Ihre Foltererfahrung, aber auch über Gewalt und Politik. Wir wissen in Deutschland, dass eine Opfergeschichte nur zu haben ist, wenn man auch eine Tätergeschichte schreibt. Muss die Türkei erst ihre eigene Gewaltgeschichte schreiben, um demokratisch zu werden, oder muss das jeder Staat?
"Dieses Land hat im Grunde seit 100 Jahren getötet"
Akhanli: Fast vielleicht jeder Staat, aber die Türkei hat eine interessante Gewaltgeschichte und Verdrängungsgeschichte und die Kontinuität der Gewaltgeschichte. Deshalb ist es absolut nötig, dass sich die Türkei mit ihrer historischen Gewalt unbedingt auseinandersetzen muss, damit sie sich in ein demokratisches Land verwandeln können. Die Türkei hat keinen anderen Weg. Wenn sie sich wirklich ändern wollen, müssen sie sich mit dem Genozid an den Armeniern auseinandersetzen und auch der gesamten willkürlichen Staatsgeschichte des Landes, weil dieses Land hat im Grunde seit 100 Jahren getötet und verfolgt und vernichtet nur seine eigenen Bürger.
Köhler: Ihr Buch handelt auch vom Verständnis, von Empathie, an manchen Stellen sogar von Verständnis für Ihre Folterer.
Akhanli: Ja.
Köhler: Macht es Sie wütend oder enttäuscht, wenn Sie jetzt hier bei mir gelöst sitzen, aber dann an die Türkei denken? Sind Sie dann wütend, enttäuscht? Wie ist das?
Akhanli: Enttäuscht, wütend und verletzt, alles auf einmal. Ich war sehr verletzt, als ich 2010 in der Türkei eingesperrt wurde, und in diesem Zeitraum ist auch mein Vater gestorben. Ich bin so tief verletzt und sogar hatte ich das Gefühl, dass die letzte Brücke zwischen mir und diesem Land gebrochen war. Später habe ich diese Verletzung überwunden. Und in Spanien, nachdem ich wieder zurückgekehrt bin nach Deutschland, da war die Wut größer als die Verletzung, aber auch eine Erleichterung, dass diesmal die Willkür nicht gesiegt hat, sondern sich gegen den öffentlichen Druck und den deutschen Druck gebeugt hat, dass ich wieder nach Deutschland kommen kann.
Wichtig, dass Merkel auch an andere Journalisten erinnert
Köhler: Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Freude über die Freilassung von Deniz Yücel auch ihre Sorge über die inhaftierten Journalisten in einem Satz gleich mit einfließen lassen. Sechs andere Journalisten sind zu lebenslanger Haft verurteilt worden, Ahmet Altan etwa, der ehemalige Chefredakteur der Zeitung "Taraf". 150 Journalisten, sagt man, sind in Haft. Sind das die Folgen des gescheiterten Putsches? Was denken Sie?
Akhanli: Ja, aber auch, dass Erdogan als Alleinherrscher dieses Land regieren möchte, und diese Machtgier von ihm bringt dieses Land in die Katastrophe. Und ich finde auch großartig, dass Frau Merkel ihre Freude über Deniz Yücel ausgesprochen hat, aber auch nicht vernachlässigt hat, dass es in der Türkei gerade 150 Journalisten, die immer noch im Knast sind. Das ist unerträgliches Unrecht, dass diese sechs Journalisten (Demokraten) lebenslängliche Haftstrafen bekommen haben.
Ich hatte auch Angst nach der Freilassung von Deniz, vielleicht vergisst man die anderen, und wenn die Bundeskanzlerin so geredet hat, dann habe ich Hoffnung doch für die deutsche Politik, für die deutsche Regierung, dass es ein weiteres Thema gibt, das sie mit der Türkei verhandeln müssen und sie unter Druck setzen müssen.
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