Christoph Heinemann: Was hat Sie dazu bewegt, dieses Buch zu schreiben?
Jean-Philippe Tousaint: Ich habe immer Gegensätze gemocht. Ein Buch mit dem Titel "Fußball" zu schreiben, das in literarischen Verlagen veröffentlicht wurde, der Edition Minuit in Frankreich und in Deutschland der Frankfurter Verlagsanstalt, darin besteht für mich ein auffälliger Kontrast zwischen der fast sakralen Literatur und dem profanen Fußball. Die Leute fragen sich, was kann ein Schriftsteller über Fußball sagen?
Heinemann: Nämlich was?
Toussaint: Ich habe versucht, ein Buch nicht aus der Perspektive eines Soziologen oder eines Experten zu schreiben, sondern als Schriftsteller. Für einen Schriftsteller kehrt ein Thema immer wieder: die Autobiografie, die Kindheit. Durch den Fußball habe ich erstmals an die Jahre meiner Kindheit erinnern können. Und erstmals kommt Brüssel vor. Dort bin ich geboren und dort lebe ich jetzt wieder. Der Fußball war dort allgegenwärtig: in der Schule, im Fernsehen. Fußball hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. Eine Erfahrung fast wie bei Marcel Proust.
Der Fußball verfügt über ein eigenes Zeitmaß
Heinemann: Zu Beginn Ihres Buches haben Sie geschrieben, der Fußball sei der Faden, der Sie noch mit der Welt verbinde. Inwiefern?
Toussaint: Als Schriftsteller kann man versucht sein, in einem eigenen Elfenbeinturm zu leben, isoliert von der Welt. Ich meine, dass die Schriftsteller auf die gegenwärtige Welt schauen müssen. Und mir ist klar geworden, dass der Fußball in der Mitte unserer Gesellschaft steht. Das betrifft jeden. Deshalb möchte ich als Schriftsteller versuchen, darüber etwas auszudrücken. Außerdem möchte ich die besondere zeitliche Dimension des Fußballs bestimmen. Der Fußball verfügt über ein eigenes Zeitmaß. Während man ein Spiel schaut, ist man vor Sorgen oder vor der Bedrohung durch den Tod geschützt. Man befindet sich in einem zeitlichen Kokon. Diese Zeit ist fußballspezifisch. Und als ich das festgestellt hatte, habe ich mir gesagt, ich möchte ein Buch über den Fußball schreiben.
Heinemann: Sie sprachen eben von dem Elfenbeinturm. Hat sich die Beziehung zwischen Intellektuellen und dem Fußball in den letzten Jahrzehnten verändert?
Toussaint: Albert Camus war sehr mutig, als er seine Leidenschaft für den Fußball eingestanden hat …
Heinemann: Das machte man damals nicht …
Toussaint: Nein, es herrschte damals Verachtung. Die Intellektuellen verachteten den Fußball. Heute ist das anders. Viele Intellektuelle geben heute zu, dass sie sich für Fußball interessieren. Es gibt allerdings auch viele, die sich weiterhin nicht dafür interessieren. Heute ist das nicht mehr riskant oder gefährlich, wenn man dazu steht. Da hat sich etwas entwickelt. Früher wurde es als vulgär angesehen. Ein Intellektueller durfte sich solche niederen Dinge nicht anschauen. Aber heute kann man ohne großes Risiko seine Leidenschaft für den Fußball bekennen.
Fußball im Radio ist für mich etwas sehr Literarisches
Heinemann: Sie haben das Profane des Fußball selbst relativiert, indem Sie den Fußball als "cosa mentale" bezeichnen. Inwiefern ist er das?
Toussaint: Hier kommt wieder der Schriftsteller zum Vorschein. Für mich hat das mit dem Vorstellungsvermögen zu tun, mit Traum, Esprit, mit dem Gehirn. Leonardo da Vinci sagte, bei Malerei handele es sich um eine `cosa mentale´, eine Sache des Geistes. Das gilt auch für die Literatur. Ich habe das auf alle Lebensbereiche ausgeweitet. Und das gilt auch für den Fußball: Ich schätze ihn besonders jenseits der Realität, nicht im Konkreten, sondern in der Art, wie er uns träumen lässt und uns in unserer Einbildung viel zuführt.
In meinem Buch schreibe ich mehrfach über meine Erinnerungen daran, wie ich Fußball im Radio gehört habe. Fußball im Radio ist für mich etwas sehr Literarisches. Man muss seine Vorstellungskraft einschalten. Man muss sich das Spielfeld erschaffen, die Farben der Trikots, die Spielzüge. Wenn man Fußball im Radio hört, entwickelt man sich viel mehr zum Schriftsteller als beim Zuschauen im Fernsehen.
Heinemann: Ein Appell, die Fußball-Europameisterschaft im Radio zu hören. Sie haben geschrieben, Fußball führe heute zu einem ironischen Nationalismus. Wieso ironisch?
Toussaint: Vor meinem Fernseher habe ich mich schon manchmal aufgeregt, wenn ich die belgische Mannschaft angefeuert habe. Ich habe geschrien und mich dann gefragt, darf sich ein Intellektueller so verhalten: aufspringen, die Spieler der gegnerischen Mannschaft beleidigen? Besonders anständig ist das ja nicht. Aber ich habe mir dann gesagt: Das ist nicht sehr ernst. Ich bin kein echter Nationalist. In meinen Gedanken gibt es nichts davon. Im Gegenteil: Ich bin ein überzeugter Europäer. Aber beim Fußball werde ich zum reinsten Fan der belgischen Mannschaft. Darin liegt Ironie. Dieses Recht nehme ich mir für die Zeit des Spiels.
Bedrohung durch den Terror besteht
Heinemann: Die Europameisterschaft musste leider unter hohe Sicherheitsvorkehrungen gestellt werden. Ändert die terroristische Bedrohung die Ausgangslage?
Toussaint: Diese Bedrohung besteht. Die demokratischen Gesellschaften sollten sich aber nicht terrorisieren lassen. Man sollte weiterhin tun, was man immer getan hat. Wenige Tage nach den Attentaten vom 13. November hielt ich mich in Paris auf. Und ich fand es sehr schön, dass drei Tage nach den Anschlägen so viele Menschen in den Straßencafés saßen. Diese Leute haben sicherlich an das Risiko eines Anschlags gedacht. Sie saßen dennoch dort.
Das war ein Akt der Courage, einfach so weiterzuleben, als bestünde die Bedrohung nicht. Das Beste, was wir tun können, um angesichts dieser terroristischen Taten Widerstand zu leisten, ist, unser Leben weiterhin so wie immer zu leben und die Unbeschwertheit beizubehalten. Auch wenn man das Risiko natürlich nicht unterschätzen sollte.
Heinemann: Welche Mannschaft geht für Sie als Favoritin in diese Europameisterschaft?
Toussaint: Belgien ist meine Herzensmannschaft. Die habe ich immer unterstützt. Erstmals verfügt diese Mannschaft bei dieser Europameisterschaft über sehr gute Chancen. Es wäre keine große Überraschung, Belgien im Halbfinale, sogar im Finale zu erleben oder dabei, wie die belgische Mannschaft die Meisterschaft gewinnt. Das wäre die Vorhersage aus meinem Herzen, die vielleicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen wird. Belgien konnte niemals große Titel gewinnen, Europa- oder Weltmeisterschaften. Das wäre das erste Mal, und ich wäre wirklich sehr glücklich.
Das Interview in französischer Originalversion können Sie hier nachhören.
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