Dirk-Oliver Heckmann: In diesem Jahr ist das Grundgesetz 70 Jahre alt geworden. Wer hätte gedacht, dass 70 Jahre später in Medien und Öffentlichkeit intensiv darüber diskutiert wird, ob eines der Grundrechte, die das Grundgesetz schützt, in Gefahr ist: die Meinungsfreiheit nämlich. Anlass waren mehrere Vorfälle. Zunächst hinderten linke Demonstranten den ehemaligen AfD-Gründer Bernd Lucke daran, in Hamburg seine Vorlesungen wieder aufzunehmen. FDP-Chef Christian Lindner beklagte eine Gefahr für die Meinungsfreiheit, weil ihm die Uni Hamburg einen Auftritt verwehrte; Sahra Wagenknecht von der Linken und Juso-Chef Kevin Kühnert aber nicht. Und auch der ehemalige Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière wurde in Göttingen daran gehindert, eine Lesung durchzuführen. Seitdem wird heftig debattiert: Ist die Meinungsfreiheit in Gefahr? Gibt es eine Verengung des politischen Diskurses in Deutschland? Die aktuelle Zeit und der aktuelle Spiegel haben das Thema auf die Titelseiten gehoben und auch wir im Deutschlandfunk haben darüber diskutiert, unter anderem mit Christian Lindner.
Wir können heute die Diskussion fortsetzen mit einem Beobachter der innenpolitischen Entwicklung, und zwar mit Navid Kermani, Schriftsteller, Publizist und habilitierter Orientalist. 2015 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und im Jahr 2015 hat er im Bundestag eine viel beachtete Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes gehalten, und da ging es natürlich auch um die Meinungsfreiheit. Guten Morgen, Herr Kermani.
Navid Kermani: Guten Morgen.
"Öffentliche Personen müssen auch öffentlich reden dürfen"
Heckmann: Herr Kermani, hätten Sie sich vorstellen können, dass fünf Jahre später ernsthaft diskutiert wird, ob die Meinungsfreiheit in Gefahr ist?
Kermani: Ich finde, das Hauptproblem ist nicht die Einstellung der Meinungsfreiheit, sondern eher, die gibt es teilweise. Man muss aber auch dafür sorgen, dass Politiker, öffentliche Personen auch öffentlich reden dürfen. Das muss man durchsetzen können, auch an den Universitäten, wenn es sein muss. Aber das größere Problem als Herr Lindner oder wer auch immer, das sind solche Fälle wie Lübcke. Damit will ich sagen, das größte Problem als die Einschränkung der Meinungsfreiheit ist die Enthemmung der Meinung, und das kommt mir in der aktuellen Debatte etwas zu kurz.
Heckmann: Jetzt wieder unterfüttert auch durch die neuen Drohungen gegen Cem Özdemir und Claudia Roth.
Kermani: Zum Beispiel, und das ist, glaube ich, ein Problem, das betrifft ja nicht nur Deutschland, dass einfach durch die technologische Entwicklung heute jeder immer alles sagen kann, was er will. Das führt natürlicherweise zu einer Verrohung. Der Mensch ist ein Tier, dessen Wildheit durch Zivilisation, durch Kultur, Religion, Sitte, Gesetz eingehegt wird. Aber wenn man menschlichen Trieben freien Lauf lässt, dann wird es dunkel, und Freiheit ist nicht, immer alles sagen zu dürfen. Zur Freiheit gehört, dass man für sein Wort auch zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn es andere verletzt. Das ist für mich als Schriftsteller auch ein tägliches Problem. Das nervt mich auch, weil ich zum Beispiel das Persönlichkeitsschutzrecht einhalten muss. Ich kann nicht alles schreiben. Aber im Netz kann man alles schreiben. Das ist ein riesiger öffentlicher Darkroom. Dieses Austoben ist natürlich widerlich und auch gefährlich und gefährdet die Demokratie, zu der eine freie, aber doch auch geregelte Öffentlichkeit gehört – siehe USA, siehe Brasilien, siehe Brexit, siehe auch Fälle wie Lübcke. Zwischen Öffentlichkeit und Anonymität ist ein Widerspruch und das geht nicht gut und das kann nicht gut gehen. Man soll alles frei sagen dürfen, aber man muss es auch unterschreiben. Man muss dazu stehen, was man sagt.
"Es gibt zunehmend Sprechverbote und Sprechregelungen"
Heckmann: Herr Kermani, Sie haben es gerade schon angedeutet. Politiker dürfen teilweise nicht an der Uni auftreten. Aktivisten protestieren gegen die Buchlesung eines ehemaligen Ministers. Die Frage ist ja in der Tat, ob dadurch wirklich die Meinungsfreiheit in Gefahr ist. Kann man das denn so sagen, oder gehen wir damit der Erzählung von Rechtspopulisten auf den Leim, die unaufhörlich behaupten, es gäbe so etwas wie eine Meinungsdiktatur?
Kermani: Ich finde auch, es gibt zunehmend Sprechverbote und Sprechregelungen. Die stören mich auch, an die halte ich mich auch nicht alle. Aber ich muss mich auch nicht daran halten. Es gibt diese Verengung dessen, was man sagen soll und wie genau man es sagen soll.
Heckmann: Wo gibt es diese Sprechverbote?
Kermani: Na ja, es gibt Sprachregelungen. Zum Beispiel an den Universitäten darf man nicht mehr sagen "Studenten", sondern man muss sagen "Studierende". Da will ich ein konkretes Beispiel nennen: Ich, wenn ich an eine Universität gehe, kann sagen, Studenten oder Studenten und Studentinnen, aber ein junger Wissenschaftler, der jetzt beginnen würde mit seiner Karriere, der hätte ein riesiges Problem, wenn er sich diesem falschen deutschen Wort "Studierenden" verweigert und der würde wahrscheinlich keine Karriere mehr machen können in Deutschland. Da beginnt es schon, problematisch zu werden, dass man bestimmte Sprachregelungen einfach mitmachen muss, wenn man in bestimmten Berufen ist. Nicht generell! Außerhalb dieser Betriebe geht das ja. Aber ich finde schon, das ist ein Problem, aber ich finde es auch nicht so gravierend wie vieles andere, was im Augenblick in Deutschland uns bewegt und was auch zu konkreten Taten führt oder auch in anderen Ländern zu einer Gefährdung des demokratischen Gemeinwesens.
Nicht einfach drauf losplappern
Heckmann: Jetzt ist es aber trotzdem auf der anderen Seite so: Es gibt eine Allensbach-Umfrage, die jetzt auch häufig zitiert wurde, wonach 63 Prozent der Deutschen sagen, man müsse aufpassen, zu welchen Themen man was sagt. Und die Shell-Jugendstudie wurde jetzt auch häufig zitiert. 68 Prozent der Jugendlichen sind der Meinung, in Deutschland dürfe man nichts über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden. Man könnte aber auch sagen, es ist ganz gut, dass es noch Tabus gibt?
Kermani: Ja, und ich finde das vollkommen richtig, dass man, wenn man sich öffentlich äußert, sich überlegt, was man da sagt und nicht einfach nur drauf losplappert. Das ist ja auch ein Problem der Medien, dass wir andauernd immer eine Meinung haben, immer Sendungen, in denen Leute irgendwie ihre Meinung sagen, ohne dass sie viel wissen darüber, dass irgendwie jeder zu allem befragt wird. Da finde ich, dass jeder, der sich öffentlich äußert, sich klar sein muss, das ist etwas anderes als am Küchentisch zu reden oder am Stammtisch zu reden. Insofern finde ich diese 63 Prozent, wenn man sich diese Umfrage auch genau anschaut, wie die Frage gestellt worden ist. Wäre sie ein bisschen anders gestellt worden, wäre auch eine ganz andere Zahl herausgekommen, über die dann aber leider keine Titel mehr veröffentlicht werden können.
Heckmann: Trotzdem sagen ja viele, der Diskurs ist eingeengt. Viele haben ein Gefühl, die sozialen Kosten, die seien zu hoch - das hat auch Christian Lindner in der vergangenen Woche bei uns im Deutschlandfunk gesagt –, in Form von gewaltigen Shitstorms im Netz beispielsweise. Haben Sie trotzdem auch Verständnis für diese Wahrnehmung?
Kermani: Ja, absolut! Diese Shitstorms, das ist ja das, was ich auch sage. Das ist ja alles ein Phänomen, dass Menschen anonym sich alles erlauben, alle Beleidigungen, und das natürlich vor allem für die Menschen, die an vorderster Front stehen, jetzt mal gar nicht so sehr die ganz berühmten Politiker oder ganz berühmten Autoren, sondern Lokalpolitiker, Lokaljournalisten, die sich dann schon überlegen, wollen sie sich das antun, wenn sie über ein bestimmtes Thema schreiben, wollen sie sich antun, dass sie Telefonterror bekommen, im Internet beleidigt werden, dass ihre Kinder bedroht werden. Das ist ein Problem, das sehe ich absolut. Aber ich finde, das ist kein Problem der Meinungsfreiheit, sondern eher ein Problem der Enthemmung, eines öffentlichen Diskurses, der sich an keine Regeln mehr hält. Ich selbst kann nun wirklich ein Lied davon singen, wie sich das anfühlt, wenn man da so beleidigt wird.
Im Internet einfach nicht mehr erreichbar
Heckmann: Sie werden ja auch von Islamisten beschimpft und bedroht. Sie stehen auf Todeslisten auch, sagten Sie gerade auch noch mal. Auch ein CDU-Abgeordneter hat den Plenarsaal verlassen, als Sie als deutsch-iranischer Staatsbürger im Bundestag über das Grundgesetz gesprochen haben. Wie gehen Sie damit um?
Kermani: Ich habe vor vielen Jahren beschlossen, dass ich einfach nicht mehr im Internet erreichbar bin. Es gibt schon viele Jahre keine E-Mail-Adresse mehr. Man kann vielleicht den Verlag anschreiben, aber das wird gar nicht an mich weitergeleitet, sondern man muss mir Briefe schreiben. Das war ein entscheidender Sprung. Seitdem ist das massiv zurückgegangen, denn derjenige, der Briefe schreibt, allein schon die Form, die analoge Form, die scheint, Menschen entweder davon abzuhalten, weil sie nicht sofort dem spontanen Reflex nachgeben können, oder scheint, auch etwas Zivilisierendes zu haben. Selbst Menschen, die kritisch auf Dinge reagieren – das ist ja auch völlig in Ordnung -, schreiben das in einem Ton, der jedenfalls okay ist, wo man antworten kann. Ich kann das nur jedem empfehlen. Das ist für Politiker wahrscheinlich nicht möglich.
Heckmann: Das heißt, Sie würden sagen, Herr Kermani, die sozialen Netzwerke, das Internet, die schaden mehr, als dass sie nutzen, was die Demokratie angeht?
Kermani: Ja. Sie sind jedenfalls ein Problem. Ich will das jetzt nicht abwägen, aber wenn ich dann noch sehe, wie autoritäre Staaten – ich komme gerade aus China -, wie die zeigen, was dann passiert, wenn dieser öffentliche Darkroom, wenn das Internet auch noch kontrolliert werden kann durch staatliche Instanzen, dann ist es natürlich endgültig ein Problem geworden. Aber ich will das auch nicht nur dem Internet anlasten. Ich bin ja auch kritisch genug. Das ist nicht nur ein Problem des Internets. Wenn Sie sich anschauen, dass die beiden Staaten, die 2003 unter massiven Lügen in den Irak-Krieg gezogen sind, heute von Nationalisten, von Populisten regiert werden, die mit der Wahrheit einen sehr ungenauen Umgang haben, dann ist das kein Zufall. Und die beiden Staaten, die damals den Krieg verweigert haben, werden immer noch relativ, sagen wir, von der politischen Mitte regiert. Auch solche Zusammenhänge gibt es. Wenn man die Lüge in den öffentlichen Diskurs einführt wie in England, wie in Großbritannien, wie in den USA, lange vor Trump, lange vor Johnson, dann wird diesem politischenDiskurs langfristig geschadet, wenn diese Lügner nicht zur Rechenschaft gezogen werden, wie es im Falle von Tony Blair und George W. Bush geschehen ist.
Demokratie besteht aus Streit
Heckmann: Die Innenpolitische Entwicklung in den USA ist auch vielsagend in der Hinsicht. – Ich möchte noch ein Beispiel von meiner Seite aus erwähnen. Ich hatte bei der Landtagswahl in Thüringen berichtet, die frischen Zahlen und Analysen von Infratest Dimap geliefert, und in dem Zusammenhang hatte ich gesprochen von der rechtspopulistischen AfD. Da hat auf Twitter ein Nutzer oder eine Nutzerin ohne Klarnamen gesagt, der Deutschlandfunk verharmlose die AfD. Wie groß ist denn die Gefahr, dass sich die demokratischen Kräfte gegenseitig an die Gurgel gehen, und die lachenden Dritten sind die Rechtspopulisten und die Rechtsextremen?
Kermani: Erst mal finde ich, dass Sie sagen dürfen und sollen, dass die AfD eine rechtspopulistische Partei ist, und ich finde, auch die Twitterin soll sagen dürfen, dass Sie das verharmlosen. Das ist ja der Streit. Zur Meinungsfreiheit gehört, dass Herr Höcke alles sagen dürfen soll und auch gegebenenfalls geschützt werden soll, dass er das öffentlich sagt, aber er muss sich dann auch Faschist nennen lassen dürfen. Das ist einfach so: Demokratie besteht aus Streit und wir müssen die Meinungsfreiheit weit, weit auslegen. Das tut oft weh, aber jede zu große Einschränkung der Meinungsfreiheit führt ins Verderben. Dann landen wir in autoritären Strukturen, die wir nicht haben wollen. Es tut weh und das muss man auch aushalten, aber man muss auch vor allem versuchen, das was ich auch versuche und wo ich immer auch gute Erfahrungen habe, natürlich die persönlichen Begegnungen zu suchen.
Das heißt, wenn Sie der gleichen Twitterin oder dem gleichen AfD-Abgeordneten, den Sie vielleicht kritisieren, persönlich begegnen – es ist ja mein Job als Reporter; ich gehe auf Menschen zu -, dann mache ich die Erfahrung, dass die gleichen Menschen, die mir vielleicht eine beleidigende Mail, wenn sie das könnten, schreiben würden, im persönlichen Gespräch, dass das fast immer möglich ist. Da rede ich mit Islamisten, habe mit Taliban gesprochen, ich gehe zur AfD und bin eigentlich doch jedes Mal überrascht, dass ein Gespräch trotz größter Meinungsunterschiede in der persönlichen Begegnung, wenn man nicht gerade gefilmt wird dabei, fast immer möglich ist und man sich dann immer sagen lassen muss, Sie sind ja nicht gemeint. Aber dann kann man ja auch sagen, warum man sich gemeint fühlt, wenn der Vorsitzende der Partei gegen "die Migranten", gegen "die Muslime", gegen "die Boatengs", neben denen man in Deutschland nicht wohnen will, hetzt.
Heckmann: Ganz kurz noch, Herr Kermani. 23,4 Prozent haben in Thüringen die AfD gewählt, trotz des Spitzenkandidaten Björn Höcke oder gerade wegen ihm. Aber man muss auch sagen, rund 75 Prozent haben es nicht getan. Jetzt sagen viele, diese 75 Prozent müssen gestärkt werden. Wie?
Kermani: Ich bin ja kein Politiker. Ich kann nicht sagen, wie sie gestärkt werden. Es ist auch nicht die Aufgabe der Medien, jetzt eine bestimmte Meinung zu stärken oder zu sagen, das sind jetzt unsere Leute. Aber natürlich ist das ein politischer Kampf, der aufgenommen werden muss. Ich finde, die Vorstellung von der AfD, eine Partei, deren Vorsitzender den Nationalsozialismus für einen Vogelschiss der deutschen Geschichte hält, muss natürlich demokratisch bekämpft werden, und da wünsche ich mir mehr Anstrengung. Aber das geht auch. Es gibt ja auch Beispiele, wo man es schafft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.