Wer, um alles in der Welt, ist Elena Ferrante? Der Journalist Nicola Bardola fühlt sich berufen, dieser Frage nachzugehen. Er hat ganz private Gründe.
"Meine Mutter hieß Elena. Sie wurde in der Schweiz, in Lugano, 1929 geboren. Ihre Mutter war eine Arigoni, und ihr Vater hieß Hoeffler. Seine Familie war aus dem Elsass in die Schweiz eingewandert. Seltsam, wie dunkel Mutters Herkunft in manchen Bereichen für mich geblieben ist. Allein schon ihre Nachnamen klingen geheimnisvoll. Und ihr Vorname – Elena – behält für mich seinen Zauber."
Schon im Vorwort nimmt Bardola in raunendem Ton eine eigentümliche Parallelisierung vor und stellt über den Namen seiner Mutter sich selbst, die Schriftstellerin und die Heldin ihrer Neapel-Tetralogie Elena, genannt Lenù, in eine Reihe. Seine einfühlsame Pose camoufliert die Zudringlichkeit, die sein gesamtes Unterfangen kennzeichnet. Aber er geht noch weiter.
"Es gibt weitere Besonderheiten in meinem Verhältnis zu Elena Ferrante: Wie sie habe ich von der Veröffentlichung des ersten Romans bis zur Veröffentlichung des zweiten zehn Jahre verstreichen lassen. Die Schwierigkeiten beim Schreiben weiterer Prosa nach dem Debüt ‚Lästige Liebe‘ von 1992 erinnern mich an meine eigenen."
Eine geifernde Recherche
Hier kommt die merkwürdige Hybris Bardolas endgültig zum Vorschein, die bereits im Possessivpronomen des Titels durchschimmert: "Elena Ferrante – Meine geniale Autorin". Der Verfasser schwingt sich zum Meister-Interpreten auf, der eine Meister-Erzählung zu bieten hat. Seine eigene schriftstellerische Arbeit mit der Ferrantes zu vergleichen, ist an und für sich schon vermessen. Aber jenseits dessen fällt an der Formulierung eine weitere Unschärfe auf: Bardola spricht von zehn Jahren, die zwischen Ferrantes Debüt und ihrem zweiten Roman vergangen seien.
Dass Elena Ferrante möglicherweise gar keine reale Person ist, sondern eine erfundene Figur, hinter der sich jemand verbirgt, der vielleicht unter einem anderen Namen eine Vielzahl von Büchern publizierte, spielt für Bardolas Enthüllungsgeschichte keine Rolle. Obwohl der Autor beteuert, genau das zu tun, was Elena Ferrante in ihren Essays fordert, nämlich sich nur im Rahmen ihrer Texte zu bewegen, spekuliert er munter über die Personen, die hinter dem Pseudonym stehen könnten.
Damit spinnt er das weiter, was der investigative Wirtschaftsjournalist Claudio Gatti im Oktober 2016 als Scoop inszeniert und in vier internationalen Zeitungen gleichzeitig veröffentlicht hatte: eine geifernde Recherche über die Vermögensverhältnisse derjenigen, die seit Jahren als mögliche Urheber genannt wurden. Hinter Elena Ferrante verberge sich die Übersetzerin Anita Raja, lautete sein Fazit. Der Name war ebenso wie der ihres Ehemannes, des Schriftstellers Domenico Starnone, mitnichten neu.
Unfreiwillig komisch
Neu war die Art des Übergriffs, und neu war auch die Aggressivität. Nicola Bardola greift weitere, seit langem in Italien diskutierte Vermutungen auf und bringt als Verfasserin der ersten drei Romane die neapolitanische Schriftstellerin Fabrizia Ramondino ins Spiel. Noch abenteuerlicher ist Bardolas Schlussfolgerung, Raja könne ihre Lektorin gewesen sein.
"Ein Vergleich der Porträtfotos von Fabrizia Ramodino und Anita Raja ergibt, dass Raja auf allen Fotos Ohrringe trägt, Ramondino hingegen nie; […]. Die vielen Ohrringe in den ersten drei Romanen von Elena Ferrante könnten eine Hommage, das verborgene Dankeschön an die vorzügliche, stets Ohrringe tragende Lektorin Anita Raja sein."
Tatsache, da ist ein Sherlock Holmes am Werk, der sogar nach Indizien fahndet! Nur dass die Beweisführung haarsträubend ist, denn Ohrringe sind der Schmuck von etwa 95 Prozent aller italienischen Frauen und zweifellos auch im Verlagswesen verbreitet.
Ich ist ein Anderer
Nicola Bardola bemüht sich in seinem Buch um ein Werkporträt und widmet sich ausführlich sowohl den Romanen als auch sämtlichen Essays Ferrantes. Das ist teils recht interessant, aber seine ausführlichen Zusammenfassungen und Deutungen laufen immer wieder auf bizarre Zirkelschlüsse zu. Er fällt moralische Urteile und wirft Ferrante vor, ab einem bestimmten Zeitpunkt ihre Bücher zu kommentieren. Oder er erläutert die Handlung des Romans "Die Frau im Dunkeln" über die Universitätsprofessorin Leda, die in einer Übersprungshandlung einem Mädchen die Puppe stiehlt und dabei ihren eigenen Lebenslügen auf die Spur kommt.
"Als Biograph eines Phantoms fühle ich mich Elena Ferrante selten näher als im Moment der Beichte Ledas, im Moment des Geständnisses, dass ihr akademischer Erfolg letztlich Brenda zu verdanken ist, dass sie das aber immer und allen verschwiegen hat. Die Passage scheint zu wahrhaftig, um erfunden zu sein. Man meint, aus jedem Satz die vielen Zweifel herauszuhören, die ihnen vorangegangen sind."
Welchem Begriff von Wahrheit oder Wahrhaftigkeit hängt Bardola hier an? Wie kommt er dazu, bestimmte Dinge als erfunden zu markieren, andere hingegen als wahr? Es geht doch schließlich um Fiktion, und auch Elena Ferrante ist Teil eines fiktionalen Universums.
Eine indiskrete Recherche
In dem Moment, in dem sie "ich" sagt, erzählt sie bereits wieder eine neue Geschichte, die nichts mit ihrer Person aus Fleisch und Blut zu tun haben muss. Erfindungen sind nun mal das Kerngeschäft der Literatur. Viel interessanter, als die vermeintliche Urheberin ans Licht zu zerren, wäre die Konstruktion an sich. Aber Nicola Bardola wird nicht müde, Empfehlungen zu geben.
"Verhält es sich aber andersherum, gäbe es tatsächlich die eine unabhängige Elena Ferrante, die von 1991 bis heute alle ihre Romane selbst geschrieben hat, dann wäre ihr Outing ein Gebot der Vernunft, wenn es darum geht, die lästigen Spekulationen über die Ferrante-Fabrik mit all den nachgewiesenen Ähnlichkeiten zwischen Starnone- und Ferrante-Texten zu beenden."
Insgesamt ist Bardolas Buch bei allen Bekundungen, Ferrante zu verehren, einfach nur ärgerlich. Nicola Bardola ist indiskret, nennt zu viele Namen, kolportiert Gerüchte, erfindet neue. Er geriert sich als Spezialist, schlachtet aber tatsächlich das Phänomen Ferrante aus. Im Schlusskapitel schießen seine Vermutungen dann endgültig ins Kraut.
Ihr Gesicht war wie verrutscht
Bardola brüstet sich damit, einen Abend mit der Historikerin Marcella Marmo verbracht zu haben, einer Professorin, die im Sommer 2016 durch einen Artikel des Philologen Marco Santagata als tatsächliche Elena Ferrante gekürt worden war, dies allerdings eher belustigt zurückgewiesen hatte. Durch einen Zufall sitzt Bardola nun dieser Frau gegenüber und stellt sie auf die Probe, indem er den Begriff eines zentralen Konzeptes von Ferrante erläutert, nämlich den der "smarginatura", einen Zustand des Außer-Sich-Seins. Dabei lässt er seinen Blick über die Tischgesellschaft schweifen und schaut dann auf seinen Teller.
"Ich führte den Sachverhalt in dieser Haltung noch kurz aus, wie in mich versunken. Ich hatte die Methode bei einer Therapeutin gelernt: Sie stellte während einer Sitzung eine besonders wichtige Aussage oder Frage, entschuldigte sich dann, sie müsse noch etwas im Computer eingeben. Auf dem Weg dorthin blickte sie in einen Spiegel […] und konnte das Gesicht des Klienten sehen, der sich in diesen Sekunden unbeobachtet fühlte. Nach einer kurzen Pause, in der Schweigen herrschte, hob ich also rasch den Kopf und blickte nach links zu Marcella. Was ich sah, beunruhigt mich bis heute: Sie schaute rechts neben sich, also in meine Nähe hinab. Ihr Gesicht war wie verrutscht."
Ertappt! So überführt man Bestsellerautorinnen, dessen scheint sich Nicola Bardola sicher zu sein. Aber was erlaubt sich dieser Mann? Kein Wunder, dass Elena Ferrante lieber anonym bleibt. Belästigungen dieser Art möchte sich niemand gefallen lassen.
Nicola Bardola: "Elena Ferrante – meine geniale Autorin"
Reclam Verlag, Stuttgart, 312 Seiten, 24 Euro
Reclam Verlag, Stuttgart, 312 Seiten, 24 Euro