Was ist das eigentlich, deutsch sein? Das würden wir uns immer wieder fragen, sagte Thomas Medicus, der für sein Buch "Nach der Idylle – Reportagen aus einem verunsicherten Land" quer durch Deutschland gereist ist. Man müsste wahrscheinlich andere danach fragen, die keine Deutschen sind, die wüssten dann unter Umständen viel schneller als wir selbst, was das typisch Deutsche sei.
Er selber würde sagen, das Regionale, Landschaftliche, "das ist bestimmend in Deutschland. Das ist ja auch ein großer Vorzug, diese föderale Vielfalt, die wir haben". In Deutschland käme es eher darauf an zu sagen "ich bin Thüringer, Badenser, vielleicht auch Eifeler oder ich komme aus dem Münsterland".
Was aber doch sehr Deutsch sei, sei die breite Kulturlandschaft, die sei etwas Einzigartiges. Das gehe in der Selbstwahrnehmung unter. Ein französischer Freund, der lange in Deutschland gelebt und gearbeitet hat und der musikalisch sei, habe mal gesagt: Egal wo er sich in diesem Land aufhalte, er könne sich in jeder noch so kleinen Stadt eigentlich immer ein Konzert anhören. Das habe den Freund an Deutschland sehr begeistert. "Die föderale Vielfalt hat eine ganz tiefe historische Dimension. Wenn wir all diese Residenzstädte nicht hätten, wo jeder kleine Fürst nicht sein Theater gegründet hätte, dann hätten wir diese Vielfalt nicht. Darauf baut unsere Kulturlandschaft immer noch auf".
"Wir haben zwei deutsche Bevölkerungen"
Der Titel seines Buchs heißt "Nach der Idylle – Reportagen aus einem verunsicherten Land". Auf die Frage, wann denn nach der Idylle gewesen sei, sagte Medicus: "Ich glaube, das war bis zum Jahr 2015, wenn man das mal als Zäsur sehen möchte, die sogenannte Flüchtlingskrise, das hat doch einen großen Einschnitt bedeutet. Ich glaube bis dahin und sogar noch etwas darüber hinaus haben wir uns mit dem ökonomischen Wohlstand zufriedengegeben".
Während der Recherchereise für sein Buch habe er eigentlich durchweg mit zufriedenen Menschen gesprochen. "Die Kehrseite war, dass man dann oft so einen untergründigen Groll aufspürte, und dachte: wo kommt denn diese Aggression her?". Wenn man nach Ostdeutschland gucken würde, würde man merken: "Wir haben zwei deutsche Bevölkerungen und die verstehen sich gar nicht so gut, wie wir das eigentlich bis 2017 gedacht haben". Jetzt würde man merken, dass es doch Bevölkerungsgruppen gäbe, die sich nicht beachtet fühlten. "Denen geht es vielleicht ökonomisch gar nicht schlecht". Die soziale Aggression und der ökonomische Status, den die Leute haben, hätten sich von einander gekoppelt, so Medicus. "Es kann einem gut gehen und man ist trotzdem aggressiv gegen die Kanzlerin und möchte nicht mehr mit den Volksparteien etwas zu tun haben, weil die ja gar nicht auf einen hören".
Thomas Medicus: "Nach der Idylle – Reportagen aus einem verunsicherten Land", Rowohlt Berlin 2017