Marit Kaldhol, geboren 1955 in Ålesund, war viele Jahre Lehrerin, bis 1983 ihr erstes Kinderbuch erschien.
Das Thema Tod oder Todesbedrohung spielt in all ihren Büchern eine entscheidende Rolle. In den 80er Jahren gehörte das Todesthema, vor allem Tod im Kinderbuch zu den Tabuthemen. Natürlich gab es auch damals schon einzelne Titel, aber es waren Ausnahmen im Vergleich zu heute und zu der Vielfalt, im Besonderen im Bilderbuch, das sich dem Thema auf unterschiedliche Weise nähert: Der Tod der anderen, der Tod der Großeltern, Tod eines Elternteils oder eines Geschwisterchens, Tod eines Freundes. Und sogar der eigene, meist krankheitsbedingte Tod wird nicht ausgeschlossen.
"Abschied von Rune" von Marit Kaldhol erschien 1986 in Deutschland und erhielt 1988 den DJLP. Ein Bilderbuch, das den Tod eines kleinen Jungen – er ist ertrunken - erzählt, aus der Perspektive der zurückgebliebenen Freundin, und Trauer und Erinnerung thematisiert.
Im Jahr 2012 erschien in Deutschland Marit Kaldhols Jugendroman "Allein unter Schildkröten", auch hier steht der Tod im Mittelpunkt der Geschichte, der Suizid eines jungen Mannes. Der Roman wurde 2013 von der Jugendjury für den DJLP nominiert.
Und auch der neue Roman "Zweet" aus dem Jahr 2017 spielt mit einer Todesbedrohung, da sich die Protagonistin, ein autistischer junger Mensch, verunsichert von der Hektik und den Vermummungen, der Schulevakuierung entzieht und auf dem Dachboden der Schule versteckt.
"Das war das etwas völlig Neues"
Marit Kaldhol, ein Kindstod im ersten Bilderbuch. "Allein unter Schildkröten" befasst sich mit Depression, die zu einem Suizid führt. Und "Zweet" zeigt, wie jemand durch eine Mobbing-Aktion so verunsichert und verängstigt wird, dass er in einer gefährlichen Situation falsche, und somit lebensbedrohliche Entscheidungen trifft. Der Tod im Bilderbuch, der Tod im Jugendroman. Wie war das mit diesem Thema in den 80er Jahren in Norwegen?
Kaldhol: Also, das war etwas völlig Neues, niemand hatte den Tod zuvor thematisiert, sagte man mir. Es gab natürlich einige Reaktionen, dass solche Bücher für Kinder zu schwer seien, trotzdem war es ein Erfolg, muss ich sagen. Und nach Erscheinen meines Buches haben einige Schriftsteller den Tod im Kinderbuch thematisiert. Ich denke, dass es was verändert hat.
Starker Konkurrenzkampf mit übersetzten Büchern
Wegmann: Somit ist die Situation heute in Norwegen auch eine andere? Es ist kein Tabuthema mehr?
Kaldhol: Nein, auf keinen Fall.
Wegmann: Wie stellt sich denn insgesamt die Situation der Kinder- und Jugendliteratur in Norwegen dar? Ist es ein großer Markt? Wird viel gelesen?
Kaldhol: Ja, es gibt einen großen Markt und es ist einfach, etwas zu veröffentlichen, aber es ist nicht einfach das auch zu verkaufen. Es gibt einen starken Konkurrenzkampf mit übersetzten Büchern. Ich stelle fest, dass weitaus weniger meiner Bücher verkauft werden, als zu der Zeit, als ich anfing.
Wegmann: Das heißt, es gibt viele übersetzte Titel auch in Norwegen?
Kaldhol: Ja, viel zu viele, vor allem aus englischsprachigen Ländern. Und meiner Meinung nach wirklich schlechte Literatur.
Wegmann: Wie ist die Situation für Autor*innen? Gibt es viele Lesungen?
Kaldhol: Ja, für die Kinderliteratur schon, das ist wirklich gut, und wir haben Stipendien und solche Dinge, und vor allem gibt es einen staatlichen Beschluss, ein Programm, eine bestimmte Anzahl Bücher für die öffentlichen Bibliotheken einzukaufen. Das rettet die Verleger.
Wegmann: Der Einkauf der öffentlichen Bibliotheken ist eine gute Möglichkeit, die Bücher somit zu den Zielgruppen zu bringen. Sprechen wir über Ihre Bücher.
Suizide unter Jugendlichen
"Allein unter Schildkröten" – die Geschichte beginnt als Tagebuch, über einen Zeitraum von etwa drei Monaten. Das Tagebuch bricht dann ab. Im zweiten Teil, nach dem Suizid, erfährt der Leser in Briefen die Gedanken und Gefühle der Eltern und Freunde. Eine ungeheuer berührende Geschichte über einen Jungen, der eine Freundin hatte, von Mutter und Stiefvater geliebt wurde, ein kleines Vaterproblem, aber das war nicht weiter ungewöhnlich, der sich für Umwelt und Tiere interessierte und mehr und mehr - nachvollziehbar im Laufe des Tagebuchs - an den Überlebenskampf der kleinen Babyschildkröten denkt. Gedanken wie: Sie müssen alleine zurechtkommen. Wie finden sie bloß ihren Weg? Nicht alle können überleben. Man spürt im Verlauf des Tagebuchs zunehmend Mikkes seinen Rückzug, seine kreisenden Gedanken und wie er mehr und mehr aus dem sozialen Gefüge rutscht, bis er schließlich nicht mehr zur Schule geht. Wie haben Sie sich mit dem Thema Depression beschäftigt?
Kaldhol: Zu der Zeit, als ich das Buch anfing zu schreiben, gab es viele Eltern, deren Kinder, junge Menschen, ihrem Leben ein Ende gesetzt hatten. Die Eltern erzählten im Radio und Fernsehen ihre Geschichten. Das hat mich sehr berührt. So begann ich das Thema zu recherchieren und nach und nach entwickelte sich die Geschichte.
Wegmann: Und war der Grund für den Suizid bei allen jungen Menschen Depression?
Kaldhol: Nein, gar nicht. Die Geschichte, die ich erzählt habe, bezieht sich auf eine der vielen, wo das sehr plötzlich passierte. Völlig unerwartet. Scheinbar völlig ohne Grund. Und es waren so viele Suizide und für alle so überraschend: intelligente junge Menschen, in der Schule erfolgreich, in allem gut. Es schien, als könnten sie ihrem Leben keine Bedeutung geben.
"Es ist der Mangel an Kommunikation"
Wegmann: In ihrem Buch heißt es am 10. Mai: "Die Dunkelheit wächst in meinem Bauch." Als Leser spürt man eine Gefahr, erkennt aber die Dramatik nicht. Niemand konnte die Einsamkeit Mikkes erkennen und wirklich einschätzen. Das heißt, der Leser versteht sehr gut die Position aller, die sich nachher Vorwürfe machen: Mutter, Vater, Stiefvater, die Freundin, die Freunde?
Kaldhol: Ja, sie sehen es nicht, sie verstehen es nicht, weil er nicht darüber gesprochen hat. Ich glaube, dass es der Mangel an Kommunikation ist.
Wegmann: Es gibt eine Erinnerung der Mutter an den 13. Geburtstag. Da hat sie die Dunkelheit und Finsternis des Jungen zum ersten Mal gespürt.
Kaldhol: Ja!
Wegmann: Die Briefe und Ansprachen an Mikke zeigen, wie sehr er geliebt wurde, wie er Teil einer Familie, einer Klasse war. Die Erinnerungen der anderen zusammen bilden für uns den äußeren Mikke ab, den wir eigentlich jetzt erst später richtig kennen lernen. Wählen Sie diese Form, um die die Vielschichtigkeit, aber auch die Undurchdringlichkeit eines Menschen zu zeigen?
Kaldhol: Ich glaube, die Tagebuchauszüge zeigen, dass er es selber nicht wusste, nicht wahrgenommen hatte, dass alle um ihn herum, ihn gerne hatten. Es zeigt auch seine fehlende Kommunikation. Aber sein Pessimismus erreicht einen bestimmten Punkt, wo ihm das Leben absurd und bedeutungslos vorkommt. Und darüber hat er nicht gesprochen. Wenn er es getan hätte, dann hätte jemand aus seinem Umfeld, aus seiner Familie, ihn korrigiert, ihm gesagt, dass sich das ändern wird. Weil das Leben ein sich wandelnder Prozess ist. Sein Gefühl von Einsamkeit hinderte ihn daran, über all das zu sprechen.
Wegmann: Somit ist ihr Roman auch ein Aufruf zum Miteinander, zur Kommunikation.
Kaldhol: Auf jeden Fall!
Wegmann: Die Mutter hat Angst, sein Gesicht zu vergessen. Ist es auch ein Buch, über die Wichtigkeit und den Wert der Erinnerung?
Kaldhol: Ja, sicherlich, aber vor allem habe ich das Buch geschrieben, um zu zeigen, dass Suizid kein Weg ist, sondern dass das Leben eine Bedeutung hat. Und dass es immer etwas gibt, dass deinem Leben einen Sinn geben kann, selbst wenn es mal dunkel und leer erscheint.
Wegmann: Es gibt einen Jungen mit Down-Syndrom, Sverre, er wurde hin und wieder von Mikke betreut, er ist der letzte, der in der Geschichte zu Wort kommt ihm Buch. Er schreibt etwas sehr Berührendes: "Sie sagen alle, dass du nicht mehr länger leben wolltest. Aber das glaub ich nicht." Ist er, Sverre, der Einzige, der die Sensibilität hat, intuitiv die Situation zu erfassen?
Kaldhol: Vielleicht. Auf jeden Fall danach. Aber alle ohne Ausnahme sind sehr überrascht über das, was geschehen ist.
Lesung aus "Allein unter Schildkröten"
Wegmann: Würden Sie sagen, dass wir achtsamer miteinander umgehen müssen, damit solche Situationen nicht passieren?
Kaldhol: Ja, das sind die Gedanken seines Stiefvaters, er schreibt: Ich hätte dir sagen sollen, dass ich dich liebe. Ich hätte dir das ein oder andere vorher sagen sollen, nicht nur eine schnelle Umarmung, sondern es dir mit Worten mitteilen sollen, ganz direkt. Wir leben in diesen so schnellen Zeiten, deshalb glaube ich, dass wir das Tempo drosseln sollten und uns Zeit nehmen sollten, uns zu sehen, und wirklich öfter aussprechen müssen, was wir füreinander empfinden.
"Ich wünsche mir Leser, die beim Lesen kreativ sind"
Wegmann: Sie haben für ihre Geschichten eine besondere Form gefunden, indem sie die verschiedenen Perspektiven nicht abwechseln oder verschränken, sondern nacheinander aufführen. So auch in "Zweet", dem aktuellen Roman. Man bleibt dadurch längere Zeit im Ungewissen über die Ereignisse und auch über die Haltung der Protagonisten. Die Geschichte wirkt mehr als bei klassischen Erzählformen wie ein Puzzle mit vielen leeren Stellen, und setzt sich erst nach und nach zusammen, sodass man das Gesamtbild erkennen kann. Wählen Sie die Form aus dramaturgischen Gründen?
Kaldhol: Ich bin mir dessen nicht so bewusst. Ich habe meine Schriftstellerlaufbahn als Lyrikerin begonnen. Und ich schreibe gerne immer nur kleine Bilder, kurze Szenen. Und ich weiß, dass ein Leser immer selber die Verbindungen in den Texten herstellt. So muss ich nicht so viele Worte benutzen. Ich wünsche mir Leser, die beim Lesen kreativ sind.
Wegmann: Da ist die nächste Frage fast mit beantwortet. Ein weiteres Merkmal ist Ihr lakonischer knapper Stil. Eine lyrische Prosa, reduziert auf das Wesentliche, das sofort auch in die Seele der Figur führt.
Lesung von "Zweet"
Wegmann: So beginnt "Zweet", der neue beeindruckende Roman von Marit Kaldhol über Mobbing, zarte erste Liebe und Schuld und die Frage, ob man ein Vergehen wieder gutmachen kann. Aus drei Perspektiven erzählt. Es beginnt mit Lill-Miriam, das haben wir gerade gehört, sie zieht uns in ein verstörendes Szenario. Was ist da los? In welcher Zeit in welcher Welt befinden wir uns? Deportationen? Eine Dsytopie? Später werden wir erfahren, dass das Mädchen vermisst wird, dass es ein Giftgasalarm war, der zur Evakuierung der Schule führte. Lill-Miriam, das spürt man sehr früh, ist besonders, hat eine große Liebe zu den Bienen, weiß sehr viel darüber, sogar Fachwissen, und findet, dass diese Tiere ein perfektes Leben habe: "Kurz, aber wichtig." Susan, durch die zweite Erzählerin erfährt man, was vorher geschah, die Mobbing-Geschichte am See, die Lill-Miriam fast das Leben kostete. Susan weiß, wo Lill-Miriam sich versteckt und wird jetzt von Schuldgefühlen heimgesucht. Die dritte Figur, Ruben hat das Mädchen gerettet, ist selber ein Außenseiter, Kubaner, und hat durch die schwierige Geschichte seines Vaterlandes und seinen Großvater gelernt, dass man nicht feige sein darf.
Eine Geschichte über den Abgrund, den Menschen in sich tragen? Ein Buch über unsichtbare Wunden? Über die Liebe, die Empathie als rettende Kraft?
Kaldhol: Wahrscheinlich alles drei. Ich wollte ein Buch schreiben über Zugehörigkeit als wesentliches Grundbedürfnis des Lebens: Zu einer Gruppe dazu zugehören, das fehlt all diesen Figuren. Aber die Bienen haben das. Sie sind sehr abhängig von ihrem sozialen Gefüge, sie passen aufeinander auf, und sie alle wissen, dass sie alleine nicht überleben können. Sie müssen Teil einer Gesellschaft sein. Und das ist die Parallele zu den drei Figuren im Buch. Sie sehnen sich danach, zu ihrer Gruppe zu gehören, aber es ist sehr schwer für sie, ihren Platz zu finden.
Wegmann: Und das ist der Grund, warum Lill-Miriam so fasziniert ist von den Bienen?
Kaldhol: Ja, vielleicht, jedenfalls sind die Bienen eine Sache von vielen, die sie fasziniert.
Spaß an der Sprachwissenschaft
Wegmann: Sie haben alle Fachbegriffe, die das Mädchen kennt, am unteren Seitenrand erklärt. Wollten Sie die Klugheit des Mädchens nicht schmälern durch Weglassung? Wollten Sie zeigen, dass das ein eigenwilliges, aber sehr kluges Mädchen ist?
Kaldhol: Ja, das auch, aber es hat auch was mit meinem Spaß an Sprache zu tun.
Ich versuche, junge Leser an schwierigere Worte heranzuführen. Außerdem macht es mir Spaß, die Bedeutung der Wörter herauszufinden. Es hat auch mit Sprachwissenschaft zu tun, die mir wichtig ist und mir Vergnügen bereitet. Und ich denke, ein neugieriger junger Leser hat auch Spaß daran, das kennenzulernen.
Wegmann: Zum Schluss noch mal Lill-Miriam, der Tag geht zu Ende, sie hat den ganzen Tag auf dem Dachboden der Schule alleine verbracht und spricht vom "Rundtanz – Der Tanz ist ein Signal. Die Erzählung für den Weg zurück."
Bienensprache, der Tanz, sie will zurück, sie hat keine Kraft. So endet die Geschichte offen und doch hoffnungsvoll. Oder liegt das an mir, weil ich will, dass sie gefunden wird?
Kaldhol: Ich denke, an einer anderen Stelle des Buches gibt es einen eindeutigen Hinweis auf das Ende, ob sie gefunden wird oder nicht, ob sie gerettet wird oder nicht. Natürlich wollte ich auch, dass sie lebt.
Wegmann: Auch möchte, dass sie überlebt: Eine sehr berührende Mobbing Geschichte, Marit Kaldhol, we are looking forward to your next novel.
Das war der Büchermarkt am Samstag. Ich bedanke mit bei der norwegischen Schriftstellerin Marit Kaldhol, die heute zu Gast in Köln.
Marit Kaldhol: "Abschied von Rune"
Ellermann Verlag, 26 Seiten, 12 Euro
Ellermann Verlag, 26 Seiten, 12 Euro
Marit Kaldhol: "Allein unter Schildkröten"
Mixtvision Verlag, 134 Seiten, 12,90 Euro
Mixtvision Verlag, 134 Seiten, 12,90 Euro
Marit Kaldhol: "Zweet"
Mixtvision Verlag, 204 Seiten, 12,90 Euro
Mixtvision Verlag, 204 Seiten, 12,90 Euro