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Schriftstellerin Ulrike Draesner
"Heimat zielt darauf, Grenzen abzubauen"

Der Begriff Heimat ist in Zeiten von Grenzschutzprogrammen, Flüchtlingspolitik und Brexit aktueller denn je. Der poetische Blick auf den Begriff zeige, dass Heimat nicht etwas Umgrenztes sein müsse. "In Heimat steckt das Bedürfnis nach Geborgenheit", sagte die Schriftstellerin Ulrike Draesner im Dlf.

Ulrike Draesner im Gespräch mit Michael Köhler |
Schriftstellerin Ulrike Draesner sitz auf einem Podium und spricht zum Publikum.
"Heimat ist nicht da, wo niemand anderes ist" - die Schriftstellerin und Dichterin Ulrike Draesner (imago/gezett)
Ulrike Draesner findet, dass Heimat ein paradoxes Kontrukt ist. "Ich fand immer sehr hilfreich, das Zitat von Ernst Bloch: 'Heimat ist da, wo noch niemand war.' Das heißt, eigentlich ist es etwas, was fantasiert wird, was herbeigesehnt wird, was nicht gegeben ist, irgendwie so ein Block, der in der Landschaft steht, und dann geht man rein und dann ist man dort. Sondern etwas, das gefüllt werden muss, das man sucht und immer wieder neu herstellt."
Viele Jahrzehnte ein nicht brauchbares Wort
Interessant sei, dass wir in einer Zeit lebten, in der der Heimatbegriff wieder aufkomme, nachdem er in der Zeit nach 1945 in vielen Jahrzehnten ein nicht-brauchbares Wort gewesen sei. "Und ich finde es spannend, weil sich darin ja ein Bedürfnis äußert, ein Bedürfnis nach Geborgenheit, nach Zuhause und heimisch sein, das man ernst nehmen sollte und ein Bedürfnis, das sich nach bestimmten Umwälzungsgründen äußert, mit denen wir alle konfrontiert sind."
Heimat sei etwas, das nach vorne lebt. Dabei sei Heimat nicht etwas Umgrenztes. "Ich glaube, dass man das gut greifen kann, wenn man an eine Zwiebel denkt. Heimat ist alle Zwiebelschalen, nicht nur eine." Heimat könne der eigene Körper sein, ein Zimmer, der Ort oder die Freunde. "Heimat ist nicht nur eines, sondern Heimat ist dieses Viele. Heimat ist nicht da, wo niemand anderes ist, dort kann niemand von uns überleben. Es ist ein mehrfacher Begriff in mehrfacher Schichtung", sagte Ulrike Draesner.
Im Deutschen extrem föderal angelegt
Der Blick zurück in die Geschichte sei nützlich, was den Heimatbegriff angehe, dabei müsse man den Begriff aber auch erweitern. "Was wir heute Globalisierung nennen, hat auch schon im Deutschen Reich mit den Kleinstaaten stattgefunden." So habe man die Kleinstaaterei in Deutschland aufgelöst, weil es dem Wohlergehen der Menschen nützlich gewesen sei. "Ein Heimatbegriff ist gerade im Deutschen extrem föderal angelegt und zielt darauf Grenzen abzubauen, Austausch zu fördern. Wir haben in Hunderten von Jahren die Erfahrung gemacht, dass das hilft. Man kann daraus einen Heimatbegriff ableiten, der Europa umfassend ist", sagte die Schriftstellerin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.