"Wir Schriftsteller sind ja sehr privilegierte Leute. Weil wir in unserem Leben etwas tun können, was in sehr vielen Berufen den Menschen nicht möglich ist. Nämlich Offenheit für die Vorgänge in der Welt in uns wach zu halten, die man in anderen Berufen gar nicht mehr aufbringen kann."
Die "Vorgänge" in der Welt. Für Ingeborg Drewitz war das der Frankfurter Auschwitzprozess, es waren die Wiederbewaffnung, das Berufsverbot und die Diskriminierung der Gastarbeiter. Die Rechtlosigkeit von Häftlingen oder die Strafverfolgung von Hausbesetzern. Als Privileg und Verpflichtung hat es die Autorin betrachtet, die Zeitläufe dicht zu umkreisen, mit Engagement und mit Worten. Weshalb sich dem, der heute in ihren Texten blättert, ein breites gesellschaftspolitisches Panorama öffnet: vier Jahrzehnte bundesrepublikanischer Geschichte.
Ingeborg Drewitz wird 1923 in Berlin geboren. Ihre Familie: kleine Leute. Vorfahren aus dem Osten, die irgendwann einmal mit einem Korb und einem Huhn am schlesischen Bahnhof ankamen. Der Vater, lange arbeitslos, tritt bei den Nazis ein. Die Mutter ernährt die Familie mühsam mit Klavierstunden.
Wer den Faschismus begreifen will, muss den Alltag begreifen, erkennt Ingeborg Drewitz nach 1945. Die Auseinandersetzung mit der Schuld der Deutschen als Nation wird eines ihrer Lebensthemen.
"Ich weiß, dass das für Jüngere sehr schwer ist zu akzeptieren, und ich meine auch, dass es nicht unsere Aufgabe sein kann, die Last unserer Generation, auf die nächste Generation abzuwälzen.
Das erste KZ-Drama der deutschen Nachkriegsliteratur
Wir haben einfach nur die Pflicht, davon zu sprechen, wie einmal der Faschismus in dieser Brutalität überhaupt tragfähig geworden ist und damit aufmerksam zu machen, für die immerwährende Gefährdung, dass sich so etwas wiederholen könnte."
Zu einer Zeit, als noch kaum Dokumente vorliegen, setzt sich Drewitz mit dem Holocaust auseinander. Ihr Stück "Alle Tore waren bewacht", geschrieben 1951, ist das erste KZ-Drama der deutschen Nachkriegsliteratur.
Andere arbeiten am Wirtschaftswunder. Drewitz an den Kriegs- und Nachkriegstraumata der Menschen, mit den Jahren zunehmend Frauen. Viele ihrer Erzählungen, alle ihre sieben Romane, spielen in Berlin.
"Ich habe diese Stadt quasi als mein Dublin begriffen, als die Stadt, in der die Krisen, die uns in diesem Jahrhundert erreicht haben, immer besonders deutlich geworden sind. Wer in dieser Stadt lebt, spürt wie verrückt und wie schön, wie zuweilen krank und wie doch immer wieder neu und mutig diese Stadt und die Menschen in dieser Stadt sind."
Schreiben in der Mittagspause
Ingeborg Drewitz heiratet und bekommt zwei Töchter. Zum Schreiben bleiben zwei Stunden am Tag, wenn die Kinder Mittagsschlaf halten.
"Zu schreiben und wenig zu verdienen, das war hart. Es war auch hart im Wertgefühl, weil es mich immer wieder selbst infrage gestellt hat. Und ich war also in diesen Jahren sehr oft da drauf und dran, Selbstmord zu machen."
Der einzige Ausweg: weiter schreiben. Und Sozialkritik umwandeln in Kulturpolitik. 1962 wird Ingeborg Drewitz Vorsitzende der in Berlin neu gegründeten Gedok, der größten deutschen Künstlerinnengemeinschaft. Sie zählt zu den Mitbegründern des Verbands deutscher Schriftsteller und Schriftstellerinnen und der VG Wort. Vielen ist sie als Literaturfunktionärin bekannter denn als Schreibende.
Dann aber, 1978, erscheint ihr autobiografischer Roman "Gestern war heute". Darin erzählt sie die Geschichte einer Berliner Arbeiterfamilie über ein ganzes Jahrhundert, aus der Perspektive von Frauen. Das Buch macht die Autorin auch international berühmt.
Frauenleben in all seiner Fülle
Ingeborg Drewitz wird nur 63 Jahre alt; sie stirbt am 26. November 1986 an Krebs. Ihr umfangreicher Nachlass, darunter 70.000 Briefe, ist noch längst nicht erschlossen. Der männlich dominierten Literaturkritik war und ist sie wegen ihres gesellschaftlichen Engagements oft nicht Künstlerin genug. Und Feministinnen haben ihr schon zu Lebzeiten vorgeworfen, ihre Frauenfiguren blieben einem traditionellen Rollenbild verhaftet. Sie selbst aber meinte:
"Ich habe mich bewusst für eine Familie, für Kinder entschieden, weil ich das Frauenleben in seiner Fülle auskosten wollte, und auch in seinen Schwierigkeiten, und dies in die Literatur einzubringen versucht habe."