Wie sieht der Weg des Lebens aus? Wir sammeln Bilder und Gefühle, aber welche werden bleiben? Welche sind für Franz Schubert geblieben? The Path of Life - Der Weg des Lebens hat der Tenor Ilker Arcayürek seine aktuelle CD mit Schubertliedern genannt, die am 5. März beim Label Prospero erschienen ist.
Sechs Stationen umfasst diese Reise - die auf dem Wasser beginnt.
Musik: Fischerweise D. 881
Voller Kraft und Tatendrang, Lebenslust und Wagemut ist dieser Fischer unterwegs. Die Arbeit gibt ihm Stärke, singt er, und die Stärke Lebenslust. Eine Lust, die vom Fischerboot aus auch einen kleinen Seitenblick auf die Hirtin an der Brücke erlaubt. Natürlich, denn es geht um’s - männliche - Jungsein, um die Liebe, in dieser ersten von sechs Lebensstationen, wie Ilker Arcayürek sie in insgesamt 18 Schubert Liedern beschreibt. Es werden folgen: Sehnsucht - Die Suche nach innerem Frieden - Resignation - Erlösung. Aber bis dahin ist noch ein Stück des Weges.
Ein trotziger Goethe
Die "Fischerweise" ist ein Gedicht von Franz Xaver Schlechta von Wschehrd, er war ein Schulfreund Franz Schuberts. Nach diesem ersten Hormonschub folgt eine stürmisch freche Anmache. "Ich woll‘ ich wäre Gold, Dir immer im Sold (...) Doch bin ich wie ich bin! Willst Bess‘re besitzen, so lass sie Dir schnitzen!"
Musik: Liebhaber in allen Gestalten, D. 558
Es war Goethe, der sich hier ein wenig trotzig zu Wort meldete. Ähnlich wie bei Schubert war auch Goethes Liebesleben nicht ohne Hindernisse. Schubert hat dessen drei Verse 1817 vertont, da war er knapp 20 Jahre alt und hatte schon seine ersten Sinfonien und Lieder komponiert. Schuberts Welt ist für den Tenor Ilker Arcayürek vertrautes Terrain: 2017 war sein Album "Schubert: Der Einsame" erschienen. Am Klavier, damals wie heute, der Brite Simon Lepper, einer der klügsten Liedbegleiter seiner Generation. Mit ihm hat Arcayürek jetzt diese neue Schubertreise unternommen, produziert im vergangenen Jahr, in Zürich.
Die Schweizer Metropole ist seit vielen Jahren der Wohn- und Lebensort des Tenors, geboren in Istanbul, aufgewachsen in Wien. Nach Zürich kam Ilker Arcayürek nachdem ihn bei einem Wettbewerb für Wiener Lied und Operettengesang der ehemalige Castingdirektor vom Opernhaus Zürich gehört hatte. Dieser engagierte den damals jungen Tenor vom Fleck weg für das Zürcher Opernstudio. Das war 2010 und der Beginn einer internationalen Karriere. Danach stand nicht nur das Opernhaus Zürich, sondern auch das Teatro Real in Madrid, die Bayerische Staatsoper und die Salzburger Festspiele im Tourneekalender von Ilker Arcayürek.
Sturm und Drang? Unbedingt!
Musik: Willkommen und Abschied, D 797
Arcayürek glüht im Liebesfeuer
Das Herz unseres Helden ist voller Glut. Er kann es kaum erwarten in der Nacht seine Liebste zu treffen, er besingt die Wonne getauschter Küsse und das Glück geliebt zu werden. Das alles in kraftvollen Dur-Akkorden. Aber dann kommen die Selbstzweifel. Neben seiner Liebsten liegend fleht er innerlich höhere Mächte an: "Ihr Götter! Ich verdient‘ es nicht!" Schubert nimmt jede dieser inneren Bewegungen in der Musik auf und Ilker Arcayürek glüht in diesem Liebesfeuer, er leidet, seufzt und fleht, dass man ihm fast helfen möchte. Nach diesem Liebestaumel heißt Station zwei: Sehnsucht. Vier Schubert Lieder hat Ilker Arcayürek für diesen Abschnitt ausgesucht. Hier lässt der Tenor seine Opernkraft, diese extrovertierte Bühnenpower beiseite. Sehnsucht ist ein Gefühl, das nach innen führt, in den Bereich des Ungesagten, des oft Verschwiegenen. Das erste Lied, dem wir hier begegnen, ist die Vertonung eines Friedrich Rückert Gedichtes: "Dass sie hier gewesen". Wenn Pausen jemals eine Bedeutung hatten in Musik und Lyrik, dann in diesem Text, in dieser Vertonung, in dieser Gestaltung.
Musik: Dass sie hier gewesen, D 775
"Dass sie hier gewesen" von Friedrich Rückert. Alleine für dieses Schubertlied in dieser Interpretation lohnt die Anschaffung der CD. Zurückhaltend, mit dezenter Gestaltung singt Ilker Arcayürek. Unangestrengt und natürlich wirkt sein Gesang. Fast wie ein Volkslied. Simon Lepper am Klavier ist da ganz bei ihm, unauffällig, aber keineswegs unsichtbar. Dieses Spiel mit der Pause, der so beredten Stille, ist noch in einer zweiten Rückertvertonung eingefangen. "Du bist die Ruh".
Musik: Du bist die Ruh, D. 776
Inspiriert durch einen Fotokünstler
Hier kommen die Hoffnung und der Wunsch zum Ausdruck, dass die Liebe erlebtes Leid, eine traumatische Erfahrung, heilen möge. Wenn die Liebe gelingt, dann tut sie dies auch. Ob unser Held hier Erlösung erfahren hat, wissen wir nicht. Es geht um Sehnsucht, Station zwei auf dem Weg des Lebens, wie ihn Ilker Arcayürek auf dieser CD besingt. Ein Bild des marokkanischen Fotokünstlers Achraf Baznani habe ihn dazu inspiriert, verrät der Tenor im CD Booklet. Folgerichtig enthält das aufwändig und ausführlich gestaltete Booklet auch Arbeiten von Baznani. Es sind Fotocollagen, die einen jungen Mann zeigen, der sich ähnlich wie Gulliver als Winzling in einer für ihn zu großen Welt wiederfindet. Mal liegt er eingerollt in einem Vogelnest, mal balanciert er über Holzpflöcke. Die Bilder wirken naiver als die Musik es ist.
Musik: Auf der Bruck, D. 853
Immer wieder setzen Ilker Arcayürek und Simon Lepper auch laute, bewegte Akzente auf ihrer Reise. Wie hier mit einem ungeduldig Liebenden, der drei Tage von seiner Liebsten getrennt war und nun seinem Pferd die Sporen gibt. Der Pianist Simon Lepper ist für Ilker Arcayürek ein langjähriger, vertrauter Liedbegleiter. Lepper studierte Musik am King’s College in Cambridge, bevor er sich an der Royal Academy of Music auf Kammermusik und Liedbegleitung spezialisierte. Heute lehrt er selbst dort. Er widmet sich auch zeitgenössischer Musik wie etwa mit der Geigerin Carolin Widman.
Musik: Die Sterne, D.939
Auf der Suche nach der inneren Ruhe begibt sich unser Held zunächst in die Natur. Wie hier unter’s Sternenzelt. Das ist vor allem für moderne Großstädter eine anachronistische Erfahrung und fast nur noch im Urlaub oder eben auf dem Land lebend nachzuvollziehen. In diesem Schubertlied ändert sich rhythmisch wenig, ein gleichbleibendes Motiv lullt uns ein. Da starrt einer in den Himmel, ein Pilger, einer, der Zeit hat seinen Gedanken nachzuhängen, was man selbst dann auch ein wenig tut. Bis uns das nächste Lied abrupt aus dieser Stimmung reißt. Schon wieder die ungeduldige Liebe? Kann die nicht mal warten, möchte man fragen. Erst Der Wanderer nimmt das Thema dieses Abschnitts, die Suche nach dem inneren Frieden, wieder in den Focus.
Musik: Der Wanderer, D. 489
Eine eigene Liederauswahl
Seit vielen Jahren ist Arcayürek nicht nur auf Opernbühnen sondern auch als Liedsänger unterwegs. Recitals gab er bereits in Barcelona, Birmingham, in der Wigmore Hall in London, sowie in Zürich und Heidelberg. 2016 wurde Arcayürek erster Preisträger des Internationalen Wettbewerbs für Liedkunst der Hugo-Wolf-Akademie Stuttgart. Schon 2015 war er Finalist beim "BBC Cardiff Singer of the World" Wettbewerb und wurde von BBC Radio 3 zum New Generation Artist bis Ende 2017 gewählt. Die Lieder von Franz Schubert gehören zu seinem festen Repertoire. Da ist Arcayürek Wiederholungstäter und bemüht, auch immer wieder neue Aspekte zu finden. The Path of Life bietet eine handverlesene Auswahl abseits der bekannten Zyklen. Weit und breit keine schöne Müllerin und auch kein Leiermann. Eine schöne Idee, die stellenweise aber bemüht wirkt. Die Suche nach der inneren Ruhe ist in dieser Liedzusammenstellung nicht überzeugend. Das tut den einzelnen Interpretationen keinen Abbruch, es zeigt nur, dass die Auswahl hier hätte passender sein können. Oder kürzer? Schuberts Melancholie ist bekannt, aber eigentlich ist ein Mensch seines Alters noch nicht auf der Suche nach innerem Frieden. Der Gedanke an die Endlichkeit des Daseins, der solche Fragen oft auslöst, ist noch viel zu weit weg.
Das gilt nicht für die Station der sehr stimmig gestalteten Sehnsucht. Und mit dem Text einer Frau beginnt – tatsächlich – der Abschnitt Resignation. Karoline Pichler war eine Wiener Schriftstellerin, hochgebildet und mit dem Regierungssekretär Andreas Pichler verheiratet. Zu den regelmäßigen Gästen in ihrem Salon gehörten Haydn und Mozart. Ihr Lied "Der Unglückliche" aus ihrem Roman "Olivier" aus dem Jahr 1821 hat Schubert noch im selben Jahr vertont. Bei Ilker Arcayürek gehört es zum Wegesabschnitt Resignation.
Musik: Der Unglückliche, D. 713 b
Könnte das nicht auch Sehnsucht sein?
"Der Unglückliche" artikuliert den Schmerz laut, wütend, aber auch traurig und leise. Wir erleben einen Helden, der die Geschichte seines Unglücks reflektiert. Da gibt tatsächlich jemand auf, sieht kein Licht mehr. Er resigniert. In dieser Phase werden sogar die Götter Griechenlands angerufen. Es sind Schillers Worte, die hier vergeblich die Musen suchen. Ja, hier ist ein Moment der Resignation eingefangen. Aber könnte es nicht auch Sehnsucht sein? Manche der hier versammelten Lieder könnten tatsächlich auch an einer anderen Stelle des Albums stehen. Denn es geht es nicht um eine Chronologie, sondern um Zustände des Lebens, wie man sie bei Schubert finden kann, zwischen 1817 und 1827.
Musik: Lachen und Weinen D. 777
"Lachen und Weinen". Die Stimme von Ilker Arcayürek beherrscht die schnellen Stimmungswechsel, ohne dabei dick aufzutragen. Sein Gesang ist wie ein Gespräch, das man mit einem achtsamen Gegenüber führt. Einer, dem man gerne zuhört, weil er leise formuliert. Solche Nuancen zeichnen oft ein gutes Gespräch aus.
Musik: Du liebst mich nicht, D. 756
Arcayürek zeigt Schuberts stilles Wesen
"Du liebst mich nicht". August von Platons Gedicht war hier die Vorlage für Schuberts Kummer. Dass die Platte The Path of Life insgesamt einen melancholischen Grundton hat, liegt in der Natur der Sache, besser gesagt: in Schuberts Wesen. Sein stilles Weinen, sein Kummer haben in dieser Aufnahme einen feinfühligen Interpreten gefunden. Der Tenor Ilker Arcayürek vermag sehr lange Bögen zu spannen, sein Zeitmanagement ist beeindruckend, er verfügt über die Fähigkeit warten zu können, Pausen zu gestalten, um dann wieder mit Leichtigkeit auch große Sprünge zu machen. Was am Ende bleibt? Erlösung.
Musik: Des Fischers Liebesglück, D. 933
Diese Lebensreise, die vergangenen Sommer in Kooperation mit dem Schweizer KulturRadio SRF2 in Zürich produziert wurde, endet wie sie begann: Auf und mit dem Wasser. "Fischers Liebesglück" nimmt allerdings nicht etwa Kurs auf das Jenseits. Im Gegenteil. Der Text von Karl Gottfried von Leitner beschreibt die sehr irdischen Genüsse, diesmal ihre Erfüllung, die uns genau darin auch Flügel verleihen und uns zumindest für einige Stunden oder Minuten fliegen lassen können. Wie diese Platte, The Path of Life, mit Simon Lepper und Ilker Arcayürek.