Der am 23. Oktober 2019 verstorbene Komponist Hans Zender gehörte zu den prägenden Persönlichkeiten des zeitgenössischen Musiklebens - nicht zuletzt als einer der Mitbegründer des Ensemble Modern. Fast zeitgleich kam seine vielleicht erfolgreichste Komposition gerade wieder neu auf den CD-Markt - in der lange vergriffenen Aufnahme mit dem Ensemble Modern: Franz Schuberts Liederzyklus "Die Winterreise" in einer Version Zenders, die mehr ist als eine Orchesterbearbeitung, nämlich - so der Untertitel - "eine komponierte Interpretation".
Musik: Schubert/Zender - "Gute Nacht" aus: "Die Winterreise"
Das Vorgehen ist für Zender nicht ganz untypisch: Als Dirigent hatte er mit dem musikalischen Erbe der Klassik und Romantik ständigen Umgang, zugleich mußte er aber auch gegen die Rituale und Routinen des Opern- und Konzertbetriebs ankämpfen. Im Symphoniekonzert nicht anders, als beim Liederabend, den Zender im Falle der "Winterreise" so beschreibt: "Zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal". Wo wir doch wissen, dass Schubert diese Lieder im engsten Freundeskreis vorgetragen hat und seine Freunde nicht wenig erschreckte: Ob der Verzweiflung, der Ausweglosigkeit, der Todessehnsucht gar, die sich darin aussprachen. Aber vermutlich auch, weil sie der Direktheit der Mitteilung nicht ausweichen konnten - anders als der heutige Hörer. Saal, Flügel, Frack - das schafft eben auch Distanz. Nicht anders übrigens, als das gepflegte Wohnzimmer daheim, mit Stereoanlage, vielleicht ein Glas Rotwein dazu und ein wenig Konversation.
Von Abgründen, in die jeder stürzen könnte
Damit könnte man sich allenfalls die unschöne Geschichte vom Leib halten, die Wilhelm Müllers Gedichte erzählen. Indessen, die Geschichte wird gar nicht wirklich "erzählt", sondern scheint lediglich in den Gedanken und Äußerungen des "lyrischen Ich" auf. Was vorgefallen ist, muss sich der Hörer oder Leser selbst erschließen. Es ist dies eines der wirksamsten Mittel epischer Literatur, hier angewandt auf die Lyrik: Bestimmte Informationen werden vorenthalten und im Text lediglich angedeutet, impliziert oder nachträglich berichtet. Wer es liest oder hört, wird zu eigener Gedankentätigkeit und damit zur Empathie angeregt. Das Ganze verschärft sich durch die musikalische Darbietung: Zum einen, weil das Publikum über den musikalischen Vortrag am körperlich-seelischen Erleben des "Protagonisten" teilhat, der eben dadurch, dass da nun ein Individuum auf der Bühne steht und stellvertretend "Ich" sagt, erst zum Protagonisten wird.
Es kommt also eine dramatische Komponente hinzu, und so ist es nicht überraschend, dass die "Winterreise" auch schon szenisch aufgeführt wurde. Und die Geschichte, die auf diese Weise teils erzählt, teils verkörpert wird: Sie spricht von Abgründen, in die jede und jeder stürzen könnte - entsprechende Ungunst der Umstände vorausgesetzt. Der Müllerbursche, dem im vorangehenden Zyklus, der "Schönen Müllerin", noch die Ehe mit der Müllerstochter und die Übernahme des Geschäftes in Aussicht steht, sieht hier nun plötzlich das Verlöbnis gelöst, seine Stelle gekündigt, als sich ein besserer, weil reicherer Bewerber findet. Damit wird er, mitten im Winter, zugleich arbeits- und obdachlos. Jede Sicherheit geht ihm verloren, er fällt ins Bodenlose. Die Geschichten heutiger Obdachloser - unter ganz anderen sozialen Voraussetzungen - hören sich immer noch ähnlich an.
Davon also wäre zu erzählen, wenn "Die Winterreise" auf dem Programm steht. Die notwendige Härte findet sich im Stück selbst. Die Differenz zwischen romantischer Vision und existentieller Härte schlägt sich nieder in den Sarkasmen von Text und Musik:
Musik: Schubert/Zender - "Die Wetterfahne" aus: "Die Winterreise"
Wie also gewinnt man das Existentielle wieder, das Text und Musik haben müssen? Natürlich kann eine starke Interpretation, auch mit Frack und Steinway, noch immer zu einer unmittelbaren Wirkung führen, die die historische Distanz quasi überrennt. Tiefer wird die Erfahrung aber vielleicht, wenn sie eben diese historische Distanz in Rechnung stellt: Die Nöte des Vereinsamten, Obdachlosen waren damals andere als heute. Die poetischen Bilder, auf die Text und Musik rekurrieren, sind einer ländlichen Umgebung entnommen, während Obdachlosigkeit heute vor allem ein städtisches Phänomen ist. Und was es bedeutet, in einer Köhlershütte Unterschlupf zu finden, kann nur der ermessen, der weiß, in welchem Elend die Köhler seinerzeit hausten.
Vom Rückgewinnen des sozialen Blicks
Ebenso mag die Musik, mit einem historischen Hammerflügel und in originaler Stimmlage musiziert, Härten und Sprödigkeiten produzieren, wo man sie nicht erwartet. Man wird, wie Zender ganz richtig konstatiert, eine solche Aufführung als "eine Verfremdung dessen, was wir gewohnt sind" erfahren. Und eben darum, so wiederum Zender, sei es, als sähe man ein Bild plötzlich "doppelt und dreifach, sozusagen von verschiedenen Seiten, aus verschiedenen Perspektiven."
Es verwundert darum etwas, dass Zender in seinem Einführungstext über die sogenannte "historische Aufführungspraxis" spottet, wobei er längst überholte Klischees von "Hammerklavieren, Kurzhalsgeigen und Holzflöten" bemüht. Es ging ja der Alte-Musik-Bewegung nie darum, ein vermeintlich "geheiligtes Original" zurückzugewinnen. Ihr Ausgangspunkt war vielmehr stets, dass es ein "Original" gar nicht geben könne: Vieles, bisweilen Entscheidendes, wie präzise Tempi, Dynamik, exakte Besetzung, Artikulation und Verzierungen war bis ins frühe 19. Jahrhundert den Interpreten überlassen. Genau diesen Freiraum nutzt die "Alte Musik", um den historischen Abstand von "einst" und "jetzt" jedesmal neu zu vermessen. Denn diejenigen, die da musizieren und improvisieren, sind ja allemal Menschen von heute.
Sie sind also, genau genommen, Zenders Geistesverwandte. Und nichts anderes versucht, mit anderen Mitteln, auch seine Bearbeitung der "Winterreise". Die Liedmelodien bleiben dabei im wesentlichen unangetastet, der Klaviersatz hingegen wird nicht nur instrumentiert, sondern eingreifend bearbeitet. Dabei öffnet Zender verschiedene historische "Hallräume": Auf der einen Seite das historisch Ferne, der, wie Zender sagt, "biedermeierliche" Streichquartettklang, hier zugleich Chiffre für Behaustheit, Wärme, Behagen, Intaktheit, zu erreichen nur mehr als rückwärtsgewandte Beschwörung.
Musik: Schubert/Zender - "Frühlingstraum" aus: "Die Winterreise"
Als zweites wäre die Verwurzelung in der Volksmusik zu nennen, die ja namentlich eines der "Winterreise"-Lieder, wenn auch in vereinfachender Bearbeitung, zum veritablen Volkslied gemacht hat: Den "Lindenbaum". An diese volksmusikalische Sphäre erinnern die Klänge von Akkordeon und Gitarre. Es sind genau die Klänge, mit denen Alban Berg ein Jahrhundert nach Schubert die Tanz- und Wirtshausmusiken in seiner Oper "Wozzeck" eingefärbt hat.
Musik: Schubert/Zender - "Der Lindenbaum" aus: "Die Winterreise"
Gemeint ist der Tod
Befindet man sich hier noch im Bereich des kulturell Vermittelten (und Vermittelbaren), des potentiell Sinnstiftenden, so bildet die Sphäre der Natur, der nackten Existenz auch klanglich die Antithese: Das Geräusch, für das das mit vier von insgesamt 25 Spielern stark besetzte Schlagzeug zuständig ist. Im Lied "Mut", einem letzten Aufbäumen des Individuums vor dem endgültigen Zusammenbruch, stemmt sich das Schlagwerk mit Windesgeheul der Singstimme entgegen, so dass sich der Gesang nur stockend, in mehrfachem Anlauf, entwickelt, gerade so, als würde der Sturm dem Sänger den Atem nehmen.
Musik: Schubert/Zender - "Mut" aus: "Die Winterreise"
Die einschneidensten Veränderungen seiner Schubert-Bearbeitung bringt Hans Zender in der zweiten Hälfte des Zyklus an, wo sich die Todesahnungen verdichten, Selbstmordgedanken laut werden. Das zwang ihn, wie er schreibt, "zu einer besonderen Gestaltung des Schlusses". Es beginnt mit dem scheinbar heiteren Intermezzo "Die Post". Der beinahe scherzhaft hingeworfene Satz: "Willst wohl einmal hinüberseh'n, / und fragen, wie es dort mag gehen" enthüllt in Zenders Bearbeitung seinen tragischen Doppelsinn. Nicht allein die Stadt ist gemeint, aus der der Müllerbursche geflohen ist, sondern das Jenseits.
Musik: Schubert/Zender - "Die Post" aus: "Die Winterreise"
Diese Spur zieht sich fort: Die choralartigen Akkorde des Liedes "Das Wirtshaus" lassen im vollstimmigen Bläsersatz ihre Nähe zu traditioneller Begräbnismusik erkennen - das "Wirtshaus" nämlich, die "unbarmherz'ge Schenke", die den armen Wanderer abweist, ist der Friedhof.
Finale Zuspitzung aus dem Geist ihrer Zeit
In den letzten drei Liedern lösen sich die musikalischen Zusammenhänge schließlich ganz auf, Schuberts Liedsatz erscheint in auseinandergerissenen Fetzen, oder in drei verschiedenen Tempi gleichzeitig oder in polytonalen Überblendungen: Die Orientierung in Zeit und Raum geht vollends verloren. Ist das etwa der Tod? Oder nur der endgültige Zusammenbruch eines Menschen?
Nachzutragen bleibt, dass die Aufnahme, 1995 entstanden, heute genauso frisch, klar, räumlich klingt, wie sie in Erinnerung war. Dass das Ensemble Modern dieses Projekt damals gemeinsam mit Hans Zender erarbeitet hat und die Darbietung mithin jene Authentizität beanspruchen darf, die bei Schuberts Original nicht mehr zu gewinnen ist. Und dass Hans-Peter Blochwitz zum Zeitpunkt der Aufnahme ein idealtypischer Schubert-Sänger war, begabt mit einer ausnehmend schönen, ausgeglichenen Tenorstimme, nachdrücklich beredt, doch ganz frei von Manierismen.
Musik: Schubert/Zender - "Der Leiermann" aus: "Die Winterreise"
Hans Zender
"Schuberts Winterreise - eine komponierte Interpretation"
Hans-Peter Blochwitz / Ensemble Modern / Hans Zender
Ensemble Modern Medien
"Schuberts Winterreise - eine komponierte Interpretation"
Hans-Peter Blochwitz / Ensemble Modern / Hans Zender
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