Manfred Götzke: Auch früher war früher alles besser. Kulturpessimismus ist ein 1.000 Jahre altes Phänomen, aber es ist nicht wegzukriegen, vor allem, wenn es um die Sprache und deren vermeintlichen Verfall geht. Auch das Institut für deutsche Sprache hat sich heute auf seiner Jahrestagung mit dem Sprachverfall beschäftigt und gefragt: Was ist Verfall, was Dynamik und was natürlicher Wandel? Unter dieser Fragestellung hat sich der Germanist Wolfgang Steinig von der Universität Siegen Texte von Viertklässlern aus vier Jahrzehnten genau angeschaut und untersucht: Schreiben Schüler heute wirklich schlechter als vor 40 Jahren? Herr Steinig, die Frage Ihrer Untersuchung, die ist natürlich provokativ. Was heißt denn schlecht für Sie?
Wolfgang Steinig: Das ist natürlich ein provokativer Einstieg, den ich da gewählt habe. Linguisten haben immer Probleme mit schlechter und besser, nicht? Was man in der Regel feststellen kann, ist, dass sich die Schriftlichkeit von Schülern verändert. Schüler schreiben heute einfach anders als in den 70er-Jahren. Was wir auf jeden Fall sagen können, ist, dass die Rechtschreibung sich wirklich verschlechtert hat. Allerdings – und das muss man dann immer sofort auch dazu sagen –, dieser Effekt ist sehr stark schichtspezifisch, das heißt, Kinder aus der sozialen Unterschicht, die machen enorm viele Fehler, sehr, sehr viel mehr Fehler als in den 70er-Jahren. Das heißt, die soziale Schere ist gerade bei der Rechtschreibung enorm auseinandergegangen.
Götzke: Woran liegt das denn ihrer Meinung nach?
Steinig: Da gibt es sicherlich viele Gründe dafür, auch ökonomisch driftet unsere Gesellschaft immer weiter auseinander. Da ist es dann auch, denke ich, kein Wunder, dass sich das auch in den Leistungen der Schüler spiegelt. Wir haben es mit einer Situation zu tun, wo das Gymnasium, also der Übertritt in das Gymnasium so unglaublich wichtig ist, dass vor allen Dingen Eltern, die den Wert des Gymnasiums richtig einschätzen, gewissermaßen als Eintrittskarte in ein besseres, finanziell abgesichertes Leben, die tun alles für ihre Kinder, damit die das schaffen. Und die Rechtschreibung ist halt ein ganz hartes Faktum, das oft genau eine Empfehlung für das Gymnasium verhindern kann. Wenn einfach zu viele Fehler in einem Text sind, dann sagt die Lehrerin, also das Kind ist vielleicht gerade noch Realschule oder Hauptschule, aber mehr ist nicht drin.
Götzke: Herr Steinig, jetzt haben Sie ja nicht nur Rechtschreibfehler gezählt in Ihrer Studie, Sie haben ja auch im weitesten Sinne die Qualität von Texten untersucht. Wie haben Sie das denn gemacht?
Steinig: Ja, wir haben also beispielsweise mit Computeranalysen den Wortschatzumfang analysiert. Und da hat sich herausgestellt, dass Texte aus 1972 im Vergleich zu Texten von 2002, dass da der Wortschatzumfang sehr stark angestiegen ist. Wiederum auch schichtspezifisch in einer höchst unterschiedlichen Weise, das heißt, die Kinder, die 2002 eine Gymnasialempfehlung bekommen haben und aus der oberen Mittelschicht kommen, die sind die Gewinner des Systems. Deren Texte sind interessanter zu lesen, der Wortschatz ist geradezu explodiert. Aber Kinder, die eine Hauptschulempfehlung haben, Eltern aus der Unterschicht, sozialen Unterschicht, kommen, da hat sich im Wortschatz nichts verbessert, stagniert auf niedrigem Niveau.
Götzke: Kann man grundsätzlich sagen, insgesamt schreiben die Kinder weniger korrekt, was die Rechtschreibung angeht, aber fantasievoller?
Steinig: Ja, vor allen Dingen also die Kinder aus höheren sozialen Schichten. Nicht, also das, die sind selbstbewusster geworden, das zeigen jetzt unsere allerneusten Daten, da haben sich auch die Textsorten teilweise verändert, da finden Sie jetzt also viel stärker kommentierende Texte, nicht? Die Kinder sind irgendwie freier geworden, Texte werden einfach variabler. Und ich denke, da spielt möglicherweise das Internet eine Rolle. Denken Sie an Kommentierungen im Internet, das ist sehr vielfältig geworden, Menschen schreiben klein, fehlerhaft, hauen irgendwelche Meinungen raus. Und das scheint langsam auch schon in die Grundschule einzudringen – langsam.
Götzke: Wir müssen vielleicht noch mal ganz kurz klären, wie Sie das untersucht haben. Sie haben einen Film gezeigt, 1972 den gleichen wie 2012, und dann sollten die Kinder einen Text dazu abliefern.
Steinig: Genau.
Götzke: Was waren so die größten Unterschiede, die Sie festgestellt haben, '72, 2002, 2012, was die Textarten angeht?
Steinig: Ja, also Texte aus dem Jahr 1972, die waren eher in einem nüchtern-berichtenden Modus geschrieben, die waren auch kürzer – nüchterner, kürzer, berichtender. 2002 wurden die Texte fantasievoller, kreativer, erzählerischer, sie bekamen also ... man fand sehr viel häufiger wörtliche Rede in den Texten, Spannungselemente wurden sprachlich gestaltet, also das hat sich enorm verbessert. Und jetzt, 2012, finden wir sehr viele kommentierende Texte. Da schreibt einfach ein Kind, ich fand den Film doof – ein Satz, fertig, ab.
Götzke: Sie haben das ja gerade schon angedeutet, das könnte ja möglicherweise tatsächlich mit Schreibkulturen zusammenhängen, die sich auch irgendwie über Facebook, Twitter, wo man ja vor allem auch kommentiert ...
Steinig: Ja, genau, ja, Kinder, Jugendliche, heute Erwachsene auch, leben heute in einer Zeit, wo wahrscheinlich so viel geschrieben wird wie noch nie zuvor. Man sieht überall Menschen mit allen möglichen Medien irgendwelche Tastaturen bedienen, die irgendetwas von sich geben und ins Netz schicken. Also das Schreibverhalten hat enorm angezogen.
Götzke: Der Titel Ihrer Tagung heißt "Sprachverfall?". Das Fragezeichen könnte man vielleicht streichen, aber vielleicht auch das Wort?
Steinig: Ja, völlig, also Sprachverfall, mit dem Begriff kann man gar nichts anfangen, das ist einfach ein unwissenschaftlicher Begriff, ich finde den einfach nicht passend, so einen Begriff, für eine wissenschaftliche Tagung.
Götzke: Also Kulturpessimismus ist nicht angezeigt?
Steinig: Das bringt uns sowieso nicht weiter. Was uns umtreibt – mich vor allen Dingen als Sprachdidaktiker umtreibt –, dass wir so wenig tun an unseren Schulen für Kinder aus sozial schwachen Familien.
Götzke: Die Schüler schreiben heute oft weniger korrekt, dafür aber spannender und fantasievoller, sagt der Germanist Wolfgang Steinig von der Uni Siegen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Wolfgang Steinig: Das ist natürlich ein provokativer Einstieg, den ich da gewählt habe. Linguisten haben immer Probleme mit schlechter und besser, nicht? Was man in der Regel feststellen kann, ist, dass sich die Schriftlichkeit von Schülern verändert. Schüler schreiben heute einfach anders als in den 70er-Jahren. Was wir auf jeden Fall sagen können, ist, dass die Rechtschreibung sich wirklich verschlechtert hat. Allerdings – und das muss man dann immer sofort auch dazu sagen –, dieser Effekt ist sehr stark schichtspezifisch, das heißt, Kinder aus der sozialen Unterschicht, die machen enorm viele Fehler, sehr, sehr viel mehr Fehler als in den 70er-Jahren. Das heißt, die soziale Schere ist gerade bei der Rechtschreibung enorm auseinandergegangen.
Götzke: Woran liegt das denn ihrer Meinung nach?
Steinig: Da gibt es sicherlich viele Gründe dafür, auch ökonomisch driftet unsere Gesellschaft immer weiter auseinander. Da ist es dann auch, denke ich, kein Wunder, dass sich das auch in den Leistungen der Schüler spiegelt. Wir haben es mit einer Situation zu tun, wo das Gymnasium, also der Übertritt in das Gymnasium so unglaublich wichtig ist, dass vor allen Dingen Eltern, die den Wert des Gymnasiums richtig einschätzen, gewissermaßen als Eintrittskarte in ein besseres, finanziell abgesichertes Leben, die tun alles für ihre Kinder, damit die das schaffen. Und die Rechtschreibung ist halt ein ganz hartes Faktum, das oft genau eine Empfehlung für das Gymnasium verhindern kann. Wenn einfach zu viele Fehler in einem Text sind, dann sagt die Lehrerin, also das Kind ist vielleicht gerade noch Realschule oder Hauptschule, aber mehr ist nicht drin.
Götzke: Herr Steinig, jetzt haben Sie ja nicht nur Rechtschreibfehler gezählt in Ihrer Studie, Sie haben ja auch im weitesten Sinne die Qualität von Texten untersucht. Wie haben Sie das denn gemacht?
Steinig: Ja, wir haben also beispielsweise mit Computeranalysen den Wortschatzumfang analysiert. Und da hat sich herausgestellt, dass Texte aus 1972 im Vergleich zu Texten von 2002, dass da der Wortschatzumfang sehr stark angestiegen ist. Wiederum auch schichtspezifisch in einer höchst unterschiedlichen Weise, das heißt, die Kinder, die 2002 eine Gymnasialempfehlung bekommen haben und aus der oberen Mittelschicht kommen, die sind die Gewinner des Systems. Deren Texte sind interessanter zu lesen, der Wortschatz ist geradezu explodiert. Aber Kinder, die eine Hauptschulempfehlung haben, Eltern aus der Unterschicht, sozialen Unterschicht, kommen, da hat sich im Wortschatz nichts verbessert, stagniert auf niedrigem Niveau.
Götzke: Kann man grundsätzlich sagen, insgesamt schreiben die Kinder weniger korrekt, was die Rechtschreibung angeht, aber fantasievoller?
Steinig: Ja, vor allen Dingen also die Kinder aus höheren sozialen Schichten. Nicht, also das, die sind selbstbewusster geworden, das zeigen jetzt unsere allerneusten Daten, da haben sich auch die Textsorten teilweise verändert, da finden Sie jetzt also viel stärker kommentierende Texte, nicht? Die Kinder sind irgendwie freier geworden, Texte werden einfach variabler. Und ich denke, da spielt möglicherweise das Internet eine Rolle. Denken Sie an Kommentierungen im Internet, das ist sehr vielfältig geworden, Menschen schreiben klein, fehlerhaft, hauen irgendwelche Meinungen raus. Und das scheint langsam auch schon in die Grundschule einzudringen – langsam.
Götzke: Wir müssen vielleicht noch mal ganz kurz klären, wie Sie das untersucht haben. Sie haben einen Film gezeigt, 1972 den gleichen wie 2012, und dann sollten die Kinder einen Text dazu abliefern.
Steinig: Genau.
Götzke: Was waren so die größten Unterschiede, die Sie festgestellt haben, '72, 2002, 2012, was die Textarten angeht?
Steinig: Ja, also Texte aus dem Jahr 1972, die waren eher in einem nüchtern-berichtenden Modus geschrieben, die waren auch kürzer – nüchterner, kürzer, berichtender. 2002 wurden die Texte fantasievoller, kreativer, erzählerischer, sie bekamen also ... man fand sehr viel häufiger wörtliche Rede in den Texten, Spannungselemente wurden sprachlich gestaltet, also das hat sich enorm verbessert. Und jetzt, 2012, finden wir sehr viele kommentierende Texte. Da schreibt einfach ein Kind, ich fand den Film doof – ein Satz, fertig, ab.
Götzke: Sie haben das ja gerade schon angedeutet, das könnte ja möglicherweise tatsächlich mit Schreibkulturen zusammenhängen, die sich auch irgendwie über Facebook, Twitter, wo man ja vor allem auch kommentiert ...
Steinig: Ja, genau, ja, Kinder, Jugendliche, heute Erwachsene auch, leben heute in einer Zeit, wo wahrscheinlich so viel geschrieben wird wie noch nie zuvor. Man sieht überall Menschen mit allen möglichen Medien irgendwelche Tastaturen bedienen, die irgendetwas von sich geben und ins Netz schicken. Also das Schreibverhalten hat enorm angezogen.
Götzke: Der Titel Ihrer Tagung heißt "Sprachverfall?". Das Fragezeichen könnte man vielleicht streichen, aber vielleicht auch das Wort?
Steinig: Ja, völlig, also Sprachverfall, mit dem Begriff kann man gar nichts anfangen, das ist einfach ein unwissenschaftlicher Begriff, ich finde den einfach nicht passend, so einen Begriff, für eine wissenschaftliche Tagung.
Götzke: Also Kulturpessimismus ist nicht angezeigt?
Steinig: Das bringt uns sowieso nicht weiter. Was uns umtreibt – mich vor allen Dingen als Sprachdidaktiker umtreibt –, dass wir so wenig tun an unseren Schulen für Kinder aus sozial schwachen Familien.
Götzke: Die Schüler schreiben heute oft weniger korrekt, dafür aber spannender und fantasievoller, sagt der Germanist Wolfgang Steinig von der Uni Siegen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.