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Schülerbefragung zu Mobbing
"Kinder mit finanziellen Sorgen sind häufiger betroffen"

Ausgrenzung, Hänselei oder körperliche Gewalt erlebten über 60 Prozent der Schulkinder, sagte Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung im Dlf. Kinder aus armen Familien seien stärker betroffen, wie eine Studie der Stiftung zeige. Deshalb müsse Kinderarmut viel konsequenter bekämpft werden.

Anette Stein im Gespräch mit Lena Sterz |
ARCHIV - 20.06.2012, Hamburg: Zwei Schüler gehen über den Hof einer Schule. (Zu dpa "Studie: Viele Kinder haben Angst vor Armut, Mobbing und Gewalt") Foto: Christian Charisius/dpa | Verwendung weltweit
Kinder und Jugendliche wünschen sich laut Studie auch, dass sie in Schule und von der Politik ernstgenommen werden, so Stein von der Bertelsmann-Stiftung (Picture Alliance / dpa / Christian Charisius)
Lena Sterz: Was Kinder und Jugendliche brauchen, darüber fachsimpeln Lehrkräfte, Eltern und andere Experten gerne mal – was sie wirklich wollen und was sie tagtäglich erleben, das haben jetzt Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erforscht. Sie haben mit dreieinhalbtausend Kindern und Jugendlichen darüber gesprochen, ob sie das Gefühl haben, sich politisch genug beteiligen zu können, wie viel Gewalt und Ausgrenzung sie erleben und ob sie sich Sorgen um die finanzielle Situation ihrer Familie machen. Die Ergebnisse sind teilweise erschreckend. Nähere Infos zur Studie hat Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung.
In der Studie heißt es, dass die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen im letzten Monat Gewalt in der Schule erlebt hat, aber dass das sehr von der Schulform abhängt. In welcher Schulform erleben Schülerinnen und Schüler am meisten Gewalt und Ausgrenzung?
Anette Stein: Die stärkste Erfahrung mit Gewalt haben tatsächlich die Grundschüler. Das ist zunächst mal ein überraschender Befund, erklärt sich aber wohl darüber, dass in dem Alter, in dem Grundschüler und -schülerinnen sind, einfach insgesamt auch ein körperbetonterer Umgang herrscht. Wenn man jetzt mal die Grundschulen außen vor lässt, muss man aber sagen: Es sind nach wie vor über 60 Prozent der Kinder, die in ihrer Schule entweder Ausgrenzung, Hänselei oder körperliche Gewalt erleben. Am geringsten ist das in Gymnasien, das sind aber trotzdem 55 Prozent, und am stärksten ist es dann in den Gesamt- und Sekundarschulen, gefolgt von Hauptschule und auch Realschule. Also insgesamt muss man sagen, ist es in allen Schulen so, dass es ein überraschend hoher Wert ist bezogen auf das Erleben von Ausgrenzung, Hänselei und körperlicher Gewalt.
"Vertrauenspersonen fehlen"
Sterz: Können Sie das irgendwie erklären, wie es zu diesen hohen Zahlen kommt?
Stein: Also gerade bei den Gruppeninterviews, die wir auch noch durchgeführt haben, haben insbesondere die Jugendlichen darauf hingewiesen, dass ihnen Vertrauenspersonen in ihrer Schule fehlen, und das kann bei den Grundschülern beispielsweise auch der Grund sein, weshalb sie sich, obwohl sie so viele Erfahrungen mit Ausgrenzung und Gewalt haben, insgesamt aber relativ sicher fühlen. Also im Durchschnitt hat jedes vierte Kind angegeben, dass es sich nicht sicher in seiner Schule fühlt, bei den Grundschülern ist der Wert aber relativ hoch, da scheint es eben offensichtlich Vertrauenspersonen zu geben. Und je älter die Kinder werden, desto weniger sagen sie auch, sie fühlen sich ernstgenommen und gehört in der Schule, und da wird es wohl einen Zusammenhang geben.
"Schulen benötigen Strukturen und Ressourcen"
Sterz: Vertrauenspersonen, sagen Sie, vermissen viele Kinder und Jugendliche in der Schule. Wer könnte so jemand sein? Was folgt daraus für Sie?
Stein: Also sowohl die Lehrer als auch die Mitschüler sind ganz entscheidend, um bei dem Thema Gewalt in der Schule dagegenwirken zu können. Das heißt natürlich umgekehrt, dass die Schulen, und zwar alle Schulen, auch tatsächlich Strukturen und Ressourcen benötigen, damit die pädagogischen Fachkräfte dort kompetent mit diesen Themen umgehen können. Denn es braucht zum einen Zeit und es braucht natürlich auch Wissen darüber, wie ich eigentlich damit vorgehe und dass ich frühzeitig eigentlich intervenieren muss oder dazwischen gehen muss, wenn ich was mitbekomme. Und überhaupt auch einschätzen kann: Ist das jetzt tatsächlich etwas, was unter Ausgrenzung, Gewalt oder Mobbing fällt, oder ist das etwas, was in einem alltäglichen Konflikt eher ist? Denn die gehören natürlich auch dazu, wo man aufeinandertrifft.
"Wir müssen Kinderarmut viel konsequenter bekämpfen"
Sterz: In der Studie steht außerdem, dass Kinder und Jugendliche, die besonders oft Gewalt und Ausgrenzung erleben, sich auch besonders häufig Sorgen machen um die finanzielle Situation ihrer Familie. Wie erklären Sie sich diesen Zusammenhang?
Stein: Ja, es ist ganz offensichtlich so, dass also die Kinder, die in Familien leben, die finanzielle Sorgen haben, viel häufiger von Ausgrenzung und Gewalt betroffen sind als Gleichaltrige ohne diese Sorgen. Die fühlen sich auch viel häufiger nicht sicher, und zwar sowohl in der Schule als aber auch in der Nachbarschaft und zu Hause. Und das heißt zunächst mal: Wir müssen Kinderarmut viel konsequenter bekämpfen und auch vermeiden, denn ganz offensichtlich hat es ja was mit Bildungschancen und Entwicklungschancen auch da zu tun. Der Grund dafür liegt im Hinblick auf die Geldsorgen einfach darin, dass es auch teilweise nicht möglich ist, wie die anderen irgendwie teilhaben zu können. Also wenn die Freunde irgendwo hingehen, was Geld kostet, dann müssen sich viele Kinder, die eben zu Hause nicht genügend Geld haben, davon verabschieden. Also sie sind einfach nicht dabei, sie können nicht teilhaben.
Sterz: Das fängt zurzeit schon wahrscheinlich beim Freibad an, das 2,50 Euro kostet, wo man dann nicht teilhaben kann.
Stein: Ja, das fängt beim Freibad an, beim Kino, also wirklich bei all den Dingen, die für viele andere Kinder ganz normal sind und ganz normal zum Leben dazugehören. Und es gibt aber einen Teil der Kinder in unserer Bevölkerung, für die geht das gar nicht.
"Mit Teilhabegeld gezielt gegen Armut vorgehen"
Sterz: Haben Sie da eine politische Forderung, die daraus hervorgeht – so etwas wie Kindergrundeinkommen schaffen?
Stein: Die Bertelsmann Stiftung hat ein Konzept für faire Teilhabechancen für alle Kinder und Jugendlichen entwickelt, wir nennen es das Teilhabegeld. Das ist auch, ähnlich wie die Kindergrundsicherung, eine sozusagen neue finanzielle Leistung, die einen großen Teil der bisherigen Familienförderung zusammenführt und sie einfacher machen soll und unbürokratisch. Wir schlagen allerdings vor, dieses Teilhabegeld zunächst mal allen Kindern und Jugendlichen zu gewähren und dann mit steigendem Einkommen der Eltern abzuschmelzen, und zwar, um wirklich gezielt gegen Armut vorgehen zu können. Wir haben in der Politik ja eigentlich seit Jahrzehnten immer wieder den Versuch gestartet, Kinderarmut zu verhindern durch alle möglichen Leistungen. Wir müssen aber konstatieren: Es hat sich überhaupt nichts verändert in den letzten Jahren. Und das heißt, wir müssen uns wirklich gezielter gegen Armut einsetzen und finanzielle Förderung des Staates vor allen Dingen dorthin bringen, wo eben Kinder in Familien leben, die wirklich finanzielle Not haben.
"Kinder können unterscheiden, was sie dringend brauchen und was nicht unbedingt"
Sterz: Was sich ja verändert hat, ist die Wahrnehmung von Armut oder die Frage, wo fängt Armut an? Dazu fand ich ein Zitat aus der Studie sehr interessant: Da heißt es, eine 14-Jährige habe gesagt, früher hätten die Leute ja auch überlebt ohne ein Tablet oder ein Laptop – aber trotzdem gehören solche technischen Geräte ja für viele heute zu einer normalen Kindheit dazu, oder?
Stein: Das ist richtig. Das Interessante aber in unserer Studie ist, dass die Kinder und Jugendlichen sehr gut unterscheiden können zwischen den Dingen, die sie tatsächlich brauchen – um auch dazuzugehören und teilhaben zu können –, und den Dingen, wo sie sagen, das muss jetzt nicht unbedingt sein.
Sterz: Haben Sie da Beispiele? Was brauchen Kinder und Jugendliche unbedingt?
Stein: Also was sie unbedingt brauchen oder was sie zumindest angeben, ist beispielsweise einen Raum zu Hause, in dem sie ungestört Hausaufgaben machen können. Das haben sehr viele angegeben. Und viele haben das auch, also ein sehr hoher Anteil der Kinder ist sowieso sehr gut versorgt in Deutschland, das zeigt auch die Studie noch mal, es gibt aber eben einen Teil der Kinder, die haben das nicht. Und das bedeutet natürlich auch für die Schule und fürs Hausaufgaben machen, dass sie dort deutlich eingeschränkter sind.
23.09.2018 Marl Schulkind 6 Jahre , erste Klasse , macht Hausaufgaben am Schreibtisch mit Zahlen und Silben im Schulheft Denken und Rechnen Uebung Zahlen schreiben , Radieren *** 23 09 2018 Marl Schulkind 6 years first grade doing homework at the desk with numbers and syllables in the exercise book. Thinking and calculating. Exercise. Writing numbers. Erasing
Einen eigenen Raum für Hausaufgaben wünschen sich laut aktueller Studie viele Kinder, sagt Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung. (Imago Images / biky)
Sterz: Aber lassen Sie uns noch mal zurückkommen auf das Thema Tablet, Laptop, Smartphone. Was haben da die Kinder und Jugendlichen gesagt? Ist das notwendig?
Stein: Also es hat bei dieser Frage ganz deutlich einen Unterschied zwischen den Altersgruppen gegeben, und die jüngeren Kinder, die Achtjährigen, von denen hat ein großer Teil kein Handy. Und die Hälfte derer, die kein Handy haben, sagen auch, sie brauchen auch keins, sie brauchen das nicht, sie wollen das auch nicht, während bei den Älteren, also bei den 14-Jährigen, fast alle ein Handy haben und auch von allen gesagt wird, sie brauchen das. Und das deckt sich, glaube ich, wirklich tatsächlich mit den Realitäten: Wenn Kinder oder Jugendliche älter sind, können sie ohne ein Smartphone eigentlich überhaupt nicht mehr am sozialen Leben teilnehmen. Also viele Treffen, Verabredungen finden darüber statt, die ganze Kommunikation mit Gleichaltrigen bis hin zu ja auch Kommunikation mit der Schule. Das ist aber bei den jüngeren Kindern eben nicht so und die Studie zeigt eben, dass Kinder sehr wohl da unterscheiden können, was sie tatsächlich wirklich dringend brauchen, um dabei sein zu können bei den anderen, oder wo sie auch sagen, na ja, da kann ich auch drauf verzichten, das wäre zwar nett, aber muss jetzt nicht unbedingt sein.
"Kinder wollen von Schule und Politik ernstgenommen werden"
Sterz: Ein anderes großes Thema in der Studie ist ja die Frage, ob Kinder und Jugendliche sich ausreichend an Entscheidungen beteiligt fühlen. Laut Ihrer Studie sieht nur rund ein Drittel der 14-Jährigen für sich ausreichende Mitwirkungsmöglichkeiten in Schule, aber auch in Gesellschaft im Allgemeinen, bei den Achtjährigen ist es jeder Zweite beziehungsweise jede Zweite. Wie könnte eine größere Beteiligung da aussehen, was wünschen sich Kinder und Jugendliche?
Stein: Kinder und Jugendliche wünschen sich, dass sie sowohl in der Schule als auch von der Politik ernstgenommen werden. Sie beklagen sich im Augenblick, dass ihnen kaum zugehört wird und dass sie auch wenig mitgestalten können. Und das heißt tatsächlich, dass in diesen beiden Bereichen sich grundlegend etwas ändern muss. Wir müssen Kinder und Jugendliche ernstnehmen, Politik muss auch dafür sorgen, dass die Bedarfe und auch die Interessen von Kindern gehört und auch berücksichtigt werden. Ohne das werden wir auch keine gute Kinderpolitik machen können. Kinder- und Jugendpolitik kann letztendlich nur funktionieren, wenn wir Kinder und Jugendliche auch selber befragen, was sie brauchen. Das zeigt auch wieder unsere Studie, denn Kinder und Jugendliche haben da Dinge thematisiert, die Erwachsene gar nicht im Blick haben oder zu denen sie auch gar nichts sagen können.
"Junge Menschen selbst befragen, was sie brauchen"
Sterz: Es ist ja schon was Besonderes, dass Sie jetzt dreieinhalbtausend Kinder und Jugendliche befragen konnten. Was würden Sie sich wünschen, wenn es in Zukunft um die Erforschung von Kindern und Jugendlichen geht?
Stein: Wenn wir wollen, dass Kinderarmut tatsächlich in Zukunft vermieden werden kann, dann müssen wir zunächst mal fragen: Was brauchen Kinder und Jugendliche, um heute aufwachsen zu können? Wir wissen das in Deutschland nicht. Im Augenblick ist es so: Wir nutzen Statistiken, die wir von Erwachsenen haben, rechnen das klein, tun so, als ob Kinder kleine Erwachsene sind und davon bekommen sie dann so einen Prozentteil. Und das funktioniert nicht: Wir brauchen eine neue Form der Sozialberichterstattung, bei der auch junge Menschen selbst befragt werden, was sie brauchen, und darauf aufbauend sollte Politik dann gezielt gegen Armut vorgehen und eben auch finanzielle Unterstützung gezielter gegen Armut einsetzen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.