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Schülerschwund an deutschen Internaten
Eltern lassen "weniger leicht los"

Bereits vor den Missbrauchsskandalen hätte bei den Internatsschulen ein "Umbruchprozess" begonnen, betonte der Vorsitzende des Verbandes katholischer Internate, Christopher Haep, im DLF. Der Schülerschwund habe sowohl mit dem Ausbau der Ganztagsbetreuung als auch mit einem veränderten Verhalten der Eltern zu tun.

Christopher Haep im Gespräch mit Sandra Pfister |
    Der Schatten einer Familie, die sich an der Hand hält.
    Gesteigerte Flexibilitätsanforderungen seien ein Grund für Eltern zu sagen: "Die wenigen Jahre, die wir unsere Kinder bei uns haben können, wollen wir sie auch tatsächlich bei uns haben", erläutert Christopher Haep. (picture alliance / dpa / M. C. Hurek)
    Sandra Pfister: "Deutsche Schüler stürmen britische Privatschulen", hat unlängst eine große deutsche Wochenzeitung getitelt. Sie meint britische Internate. Internate also auf der Insel profitieren in großem Stil von der Bildungspanik deutscher Eltern. Deutsche Internate allerdings offenbar nicht. Im Gegenteil, vielen deutschen Internaten kommen die Schüler abhanden.
    Besonders deutlich wurde das vor wenigen Tagen an der Odenwaldschule. Sie muss, 105 Jahre nach ihrer Gründung, schließen, weil sie zu wenig Anmeldungen hat. Nun kann man sagen, ist ja kein Wunder, die Missbrauchsskandale haben das Image vieler Internate zerstört. Ist das die ganze Erklärung?
    Darüber reden wir mit Christopher Haep, dem Vorsitzenden des Verbandes Katholischer Internate und Tagesinternate. Guten Tag, Herr Haep!
    Christopher Haep: Guten Tag, Frau Pfister, ich grüße Sie!
    "Weniger Anmeldung in der fünften bis siebten Klasse"
    Pfister: Herr Haep, es sind vor allem reformpädagogische, aber auch christliche Internate, die im Moment Schüler verlieren. Wie stark ist der Schwund?
    Haep: In Zahlen lässt sich das im Augenblick noch schwierig ausdrücken. Es ist allerdings so, dass wir tatsächlich in einem Umbruchprozess stehen, allerdings auch bereits seit Jahren, längst vor der Missbrauchskrise ist dieser Umbruchsprozess in Gang gekommen. Es ist so, dass wir verzeichnen, dass es weniger Anmeldungen im Bereich der fünften bis siebten Klasse gibt in vielen Internaten deutschlandweit. Das bezieht sich auch weiß Gott nicht nur auf die reformpädagogischen und die konfessionellen Internatsschulen, sondern ist überhaupt ein Trend, den wir in der Internatsszene beobachten.
    Pfister: Das heißt, Sie meinen, es hat viel weniger mit den Imageproblemen seit den Missbrauchsskandalen zu tun als mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung?
    Haep: In Einzelfällen, was eine einzelne Internatsschule anbelangt, mag es durchaus sein, dass dort tatsächlich auch ein Schwund zu verzeichnen ist aufgrund von Missbrauchsfällen und einer Missbrauchsvergangenheit. Aber die Situation muss ausgesprochen differenzierter betrachtet werden.
    Wir haben es zu tun in Deutschland mit einem flächendeckenden Ausbau an Ganztagsbetreuungseinrichtungen, und das ist die Ursache dafür, dass in den Internatsschulen in ganz Deutschland tatsächlich weniger Schüler in den unteren Jahrgangsstufen angemeldet werden. Eltern sehen an der Stelle immer weniger die Notwendigkeit, das ist ja auch verständlich, Internate anzusteuern, wenn sie vor Ort Betreuungs- und Begleitungslösungen für ihre Jungen und Mädchen vorfinden.
    Pfister: Internate werden teilweise überflüssig, weil die staatlichen Schulen ihr Ganztagsangebot verbessert haben. Das wäre eine Situation, die sich für die Internate auch nicht schnell drehen lässt, oder sehen Sie da irgendeine Anpassung, mit der die Internate sich wieder attraktiver machen könnten?
    Haep: Na ja, das ist das Spiel des freien Marktes. Hier wird es ganz massiv darauf ankommen, dass beobachten wir in der Bildungslandschaft ja in den letzten Jahrzehnten auch immer wieder, inwiefern es den Internatsschulen gelingt, durch gute Konzeptionen, durch gute pädagogische Programme sich neu aufzustellen und der entstandenen Konkurrenz sozusagen auch entgegenzutreten und die Menschen davon zu überzeugen, dass sie eine gute Alternative sind.
    "Ansteigende Nachfrage nach Plätzen in den oberen Klassen"
    Pfister: Sind Eltern vielleicht auch anhänglicher als früher und lassen ihre Kinder nicht mehr so gerne so früh gehen?
    Haep: Ich glaube schon, dass es auch Veränderungen in den Familiensystemen gibt und im Bild auf die Familie und Veränderungen im Elternverhalten. Die allgemeinen Mobilitätsanforderungen, die auf viele Familien zugekommen sind, die allgemeinen Flexibilitätsanforderungen, die auf viele Familien zugekommen sind, sind, glaube ich, mit ein Grund dafür, dass Eltern sagen, die wenigen Jahre, die wir unsere Kinder bei uns haben können, wollen wir sie auch tatsächlich bei uns haben. Und deswegen lässt man weniger leicht los.
    Wir verzeichnen ja jenseits der Frage des Schwundes in der fünften bis siebten Klasse umgekehrt zur neunten, zehnten, elften Klasse in vielen Internatsschulen in Deutschland ein starkes Ansteigen der Nachfrage nach Internatsplätzen, was dafür sprechen würde, dass Familien tatsächlich sich dafür entscheiden, ihre Kinder eben in einem späteren Alter, wenn die reifer und mündiger geworden sind auf Internate zu geben.
    Pfister: ... oder auch schwieriger. Oder auch erziehungsschwieriger.
    Haep: Das mag in Einzelfällen zutreffen, vor allen Dingen in der späteren Mittelstufe. In der achten, neunten Klasse wird das der Fall sein, aber der allgemeine Trend zeigt uns doch und die Erfahrungen, die wir mit Familien machen, dass Jugendliche, die sich in der zehnten, elften Klasse für Internate entscheiden, doch größtenteils mit einer positiven Eigenentscheidung diesen neuen Lebensschritt wagen. Sie suchen die Gemeinschaft in den Internaten mit anderen Gleichaltrigen oder sie wollen die größere Angebotsstruktur von Internatsschulen nutzen, als man es häufiger vorfindet in den öffentlichen Schulen.
    "Internatsschulen müssen sich öffentlich stärker mitteilen"
    Pfister: Gleichwohl gibt es einen deutlichen Unterschied im öffentlichen Bild der Internate. Ich hab eingangs von Großbritannien gesprochen, da gelten Internate oft als Kaderschmieden für die Elite. Wenn man an das Bild deutscher Internate denkt, dann denkt man häufig an erziehungsschwierige Kinder, die dorthin mehr oder weniger abgeschoben werden. Müssen die Internate da nicht insgesamt auch was an diesem Image drehen?
    Haep: In der Tat ist das so. Und ich glaube, da müssen die Internatsschulen aufpassen, sie müssen sich aufstellen und das, was sie an positiven pädagogischen Programmen praktizieren, viel stärker in der Öffentlichkeit auch mitteilen, viel stärker öffentlich machen, viel stärker an ihren Profilbildungsprozessen arbeiten und akzentuieren, was sie sozusagen abgrenzt von der Heimerziehung.
    Pfister: Was sagen Sie Eltern, die, um auf den Anfang des Gesprächs zurückzukommen, sagen, die Missbrauchsfälle machen uns so misstrauisch, dass wir da vielen Internaten nicht mehr trauen? Was sagen Sie diesen Eltern?
    Haep: Eltern sollen sich die Internatsschulen sehr genau angucken. Ein Pauschalverdacht über alle Internatsschulen sollte auf keinen Fall erhoben werden. Und viele Internatsschulen, das beobachten wir ja deutschlandweit, das wird durch unabhängige Stellen ja inzwischen immer wieder mitgeteilt, viele Internatsschulen haben sich aufgemacht und hervorragende Schutzkonzepte für ihre Einrichtungen entwickelt und eine neue Kultur der Achtsamkeit und Wertschätzung implementiert seit vielen Jahren schon. Präventionskonzepte sind entstanden, Mitarbeiter sind speziell geschult worden, sodass man immer wieder auch sagen kann, zum Teil scheinen Internate sich da wirklich auf einen neuen und wirklich guten Weg gemacht zu haben.
    "Pauschalverdacht über alle Internatsschulen sollte auf keinen Fall erhoben werden"
    Und Eltern sollen sich diese Situation genau anschauen. Sie sollen viel in einen starken Kontakt mit den Verantwortlichen vor Ort treten, sie sollen mit Pädagogen vor Ort, sie sollen mit Jugendlichen vor Ort sprechen, sie sollen sich über die Programme informieren lassen, um einen möglichst intensiven Eindruck zu bekommen, wie die Situation in der jeweiligen Internatsschule da ist.
    Pfister: Das war Christopher Haep, der Vorsitzende des Verbandes katholischer Internate, zu der Frage, warum deutsche Internate derzeit einen deutlichen Schülerschwund verzeichnen. Danke Ihnen, Herr Haep!
    Haep: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.