Seit Jahren ist die Zahl an Schulabbrechern konstant hoch, sie liegt bei über 50.000 - rund sechs Prozent der Jugendlichen. Dem Schulabbruch geht meistens das Schwänzen des Schulunterrichts voraus, oder, wie es Forscherinnen und Forscher nennen: Schulabsentismus. Was als harmloses Schwänzen der einen oder anderen Schulstunde beginnt, entwickelt im ungünstigsten Fall eine Eigendynamik, der sich der Jugendliche kaum noch entziehen kann.
Zu den Risikofaktoren für Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss gehören laut einer Studie ein bildungsfernes Elternhaus, ein schlechtes Schulklima sowie eine geringe Bereitschaft von Lehrkräften für Fortbildungen und Kooperation. Und dann gibt es noch die Förderschulen, die drei Viertel der Schülerinnen und Schülern ohne Hauptschulabschluss verlassen. Auch sie fließen in die Statistik ein.
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Gibt es den typischen Schulabbrecher?
Einen typischen Werdegang zum Schulabbrecher gibt es nach Ansicht von Experten nicht. Bildungsforscherinnen wie Raphaela Porsch von der Universität Magdeburg unterscheiden vier Typen von Abbrecherinnen:
Sogenannte Schulversager fallen schon früh durch Leistungsprobleme auf, müssen Klassen wiederholen, stammen eher aus bildungsfernen Familien, wobei die Eltern häufig selbst die Schule abgebrochen haben. Entsprechend niedrig ist auch ihre Motivation. Den Schulmüden sind ihre Noten egal. Sie stören den Unterricht und werden dafür auch häufig bestraft.
Sogenannte Außenseiter zeigen gute Leistungen, können sich aber nicht in das System Schule integrieren und sind kaum in Schulaktivitäten eingebunden. So bezeichnete Rebellen haben schlechte Noten und sind verhaltensauffällig. Entsprechend hoch sind ihre disziplinarischen Verstöße. Sie stammen häufig aus sozial benachteiligten Familien.
Welche anderen Ursachen spielen beim Schulabbruch eine Rolle?
Wenn Schülerinnen und Schüler die sogenannte Regelschule, die Hauptschule, Realschule, Gesamt- oder Sekundarschule und das Gymnasium ohne Abschluss verlassen, steckt dahinter meist mehr als nur ein individuelles Problem. Wie entscheidend die Herkunft für den Schulerfolg ist, überrascht weniger: ein bildungsfernes oder nicht unterstützendes Elternhaus stellt einen Risikofaktor dar.
Interessant ist aber, welchen Einfluss die Schulen auf den Lernerfolg ihrer Schülerinnen und Schüler haben. So wirkt sich ein schlechtes Schulklima mit Disziplin- und Gewaltproblemen negativ aus, analysiert Bildungsforscherin Raphaela Porsch von der Universität Magdeburg. Auch die Unterrichtsqualität und die Bereitschaft der Lehrerschaft für Fortbildungen und Kooperation spielten eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt scheint auch die Schulgröße eine Rolle zu spielen: An größeren Schulen ist die Rate der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher tendenziell höher, wie eine Studie aus Sachsen-Anhalt zeigt.
Förderschulen: Lernen ohne Schulabschluss
In die Zahlen der Schulabbrecher fallen aber auch die Schülerinnen und Schüler an Förderschulen hinein. Erschreckende 75 Prozent von ihnen verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss, das zeigten zumindest Daten aus sieben Bundesländern. Nach Ansicht des emeritierten Bildungsforschers Klaus Klemm müsste das nicht sein. Von den Förderschülern, die im Rahmen der Inklusion an Regelschulen unterrichtet werden, schafften nämlich knapp die Hälfte einen Schulabschluss.
Wer Teil einer Gruppe sei, die den Schulabschluss natürlich erreichen könne, habe andere Ausgangsbedingungen für schulisches Lernen als jene, die von vornherein wüssten: „Wir kriegen keinen Schulabschluss und landen auf dem zweiten Arbeitsmarkt, in irgendwelchen Hilfseinrichtungen, und nicht in richtigen Berufen“, sagt Klemm. "Da gibt es keine Zugpferde, die die anderen mitziehen."
In einigen Bundesländern, etwa in Sachsen-Anhalt, können Schülerinnen und Schüler einen Schulabschluss an Förderschulen bislang nur in Ausnahmefällen erwerben.
Welche Konsequenzen hat ein Schulabbruch für Schüler und Gesellschaft?
Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss haben fast keine Chance, einen regulären Ausbildungsplatz zu bekommen, ihre Perspektiven sind gering, sagt Bildungsforscher Klaus Klemm. Je nach Lage auf dem Arbeitsmarkt seien sie diejenigen, die ihren Job als erste wieder verlieren.
Mehr als zweieinhalb Millionen junge Menschen in Deutschland zwischen 20 und 35 Jahren haben nach dem Berufsbildungsbericht 2023 keine Berufsausbildung. Sie fallen in die Kategorie der Geringqualifizierten. Im vorletzten Jahr kamen fünf Geringqualifizierte auf eine offene Stelle, die keine spezifische Qualifikation erfordert, lautet ein Bericht des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB).
Bildungsarmut kann zu Krankheit und Einsamkeit führen
Die Folgen sind dramatisch: Nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, auch auf dem Partnerschaftsmarkt haben Geringqualifizierte geringe Chancen, sagt die Soziologin Jutta Allmendinger am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin. Die Einsamkeit dieser Bevölkerungsgruppe sei zudem viel höher, sie seien gesundheitlich größeren Belastungen ausgesetzt und es gebe auch einen Zusammenhang zwischen der Lebenserwartung und der Bildung.
Darüber hinaus belasteten schlechte Bildung und fehlende Berufsabschlüsse die öffentlichen Haushalte um bis zu 1,5 Milliarden Euro pro Altersjahrgang durch geringere Steuereinnahmen, Ausgaben für Arbeitslosengeld und Sozialleistungen, hat die Soziologin in Untersuchungen ermittelt.
Welche Maßnahmen wirken einem Schulabbruch entgegen?
Jede Schule braucht ein verbindliches Regelwerk, nach dem sich alle Lehrkräfte richten. Darin sind sich Experten einig. Die Schule sollte zudem möglichst frühzeitig intervenieren, spätestens wenn die Fehlzeiten mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftreten: Warum fehlt der betreffende Schüler? Geht es um Leistungsprobleme, ist der/die Schüler/in nicht gut in die Klasse integriert? Hausbesuche durch Klassenlehrer sind dann angezeigt, wenn ein Kontakt zum Schüler nicht anders hergestellt werden kann oder wenn die Eltern nicht kooperieren.
Können Schule, Eltern und niedrigschwellige Hilfesysteme wie die Schulsozialarbeit nichts ausrichten, sind kommunale Erziehungsberatungsstellen oder psychologische Beratungsstellen der nächste Schritt. Möglicherweise müssen auch Polizei oder das Jugendamt eingebunden werden.
Wenn Schülerinnen und Schüler mit Drogenkonsum, Ängsten oder Depressionen zu kämpfen haben, kann eine ambulante oder stationäre Betreuung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie helfen, damit die Betroffenen aus dem "riesigen Problemberg" wieder herausfänden, sagt der Psychotherapeut Martin Knoll vom Landesklinikum LVR Essen.
Erfolgreiche Einzelprojekte wie das Programm „Produktives Lernen in Schule und Betrieb“ in Sachsen-Anhalt oder das Hamburger Projekt „Jeder Schultag zählt“ sind für manche Schulverweigerer der Rettungsanker. Gleichzeitig liefern solche Programme wertvolle Erkenntnisse darüber, was sich verändern muss, damit alle die Schule erfolgreich abschließen: Individuelle Betreuung in kleinen Klassen, vertrauensvolle Schüler-Lehrer-Beziehungen sowie eine stärkere Berufsorientierung, „sodass sie sehen, was sie in der Schule lernen, brauchen sie im späteren Berufsleben“, bringt es Bildungsforscher Klaus Klemm auf den Punkt.
tha