Die Corona-Pandemie hat den gelernten Schulalltag auf den Kopf gestellt. Doch die erzwungenen Veränderungen haben nicht nur Nachteile, sagt die Expertengruppe "Corona und digitale Bildung" - eine Rückkehr zur alten Normalität hält sie für falsch. Die Gymnasiallehrerin Sibylle Heinemann ist Mitglied der Gruppe des Münchener Kreises und erklärt, wo sie Verbesserungen der bisherigen Routinen sieht, die auch nach Corona aufrechterhalten werden sollten.
Sibylle Heinemann: Nun, also die alte Realität war natürlich ganz klar geprägt von Präsenzunterricht. Jeden Morgen kommen wir als Lehrer in die Schule und betreuen alle unsere Gruppen hier in der Schule bis weit in den Nachmittag. Wir arbeiten mit verschiedenen Unterrichtsformen, natürlich nicht mehr nur im Frontalunterricht, sondern in Partner- und Gruppenarbeiten, in Projektarbeiten, wir spielen Theater zwischendurch und versuchen in diesem Alltag die Schüler fachlich in unseren Fächern mitzunehmen, aber natürlich auch pädagogisch. Und diese alte Realität wurde natürlich im März auf einmal von heute auf morgen auf den Kopf gestellt.
"Von heute auf morgen auf digitalen Unterricht umgestellt"
Thekla Jahn: Sie mussten viel ausprobieren, deutschlandweit haben das alle Lehrer versucht. Wie sieht denn jetzt die neue Normalität bei Ihnen in Bayern aus?
Heinemann: Natürlich kamen wir zunächst aus einer Situation, ganz schnell umstellen zu müssen von heute auf morgen, vom Präsenzunterricht auf eine Art von digitalen Unterricht. Da gab es natürlich mehrere Phasen: Wir hatten eine Zeit, wo wir wirklich die Schüler alle zu Hause betreut haben, dann kamen die Abiturienten wieder rein, die waren dann hier in der Schule, und wir haben sie vorbereitet auf das Abitur, was sie ja ganz normal schreiben konnten, wo wir auch wirklich sehr stolz drauf sind, dass das geklappt hat. Und ja, jetzt in dieser Zeit vor den Ferien sind wir in einer Phase, wo ein Teil der Schüler zu Hause an einem Arbeitsauftrag arbeitet und von den Lehrern digital betreut wird und auf der anderen Seite eine Präsenzunterrichtsgruppe hier in der Schule mit einer kleinen Gruppengröße von bis zu 15 Schülern maximal. Ja, so werden wir dieses Schuljahr nun ausklingen lassen.
"Alle genießen kleine Gruppen"
Jahn: Wir haben in einem
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von uns gehört, dass Lehrer aus Bremen es ganz wunderbar fanden, diese kleinen Gruppen, die in der neuen Normalität Realität geworden sind. War oder ist das für Sie auch so, dass Sie diese kleinen Gruppen schätzen gelernt haben und hinüberretten wollen?
Heinemann: Also, das muss man sagen, das ist ganz generell bei allen, die ich gefragt habe, auch bei den Schülern so. Alle genießen es, in diesen kleinen Gruppen zu arbeiten, die Schüler sagen auch, wir können uns jetzt nicht mehr wegducken in der großen Gruppe, sondern wir werden tatsächlich jetzt alle gefragt. Das ist bei 30 Kindern innerhalb von 45 Minuten natürlich schwierig. Und diese neue Realität, die wird von allen sehr geschätzt. Ich habe auch von Kollegen gehört, die gesagt haben, es wird mehr diskutiert, es kommt jeder zu Wort, du kannst sehr viel individueller natürlich auf jeden Schüler und seine Schwierigkeiten eingehen. Und das kann ich sehr gut nachvollziehen, wenn die Kollegen aus Bremen das sagen, das ist hier auch so.
"Mit den Schülern in sehr regem Austausch"
Jahn: Das Feedback, die Feedbackkultur, ist das etwas, das Sie mitnehmen wollen in das nächste Schuljahr?
Heinemann: Ja, das muss man sagen, das habe ich ganz persönlich sehr geschätzt, dass wir jetzt neue Kommunikationswege geschaffen haben in dieser Zeit. Das hat natürlich gedauert, wir sind als Schule kein Start-up, das dauert seine Zeit, bis wir solche Strukturen schaffen, aber die haben wir inzwischen. Ich persönlich genieße das wirklich sehr, dass ich mit den Schülern in sehr regem Austausch bin, die mir auch persönlich schreiben und ich ihnen auch ein persönliches Feedback über ihren Leistungsstand geben kann, aber sie auch einfach persönlich betreuen kann. Das ist eine Dimension, die ich vorher in dieser intensiven Form nicht hatte. Und das wäre einfach wunderbar, wenn wir das beibehalten könnten.
Natürlich gibt das auch, das habe ich selber an mir gemerkt, ich arbeite dazu viel zu lange auch am Tag, das ist natürlich ein Problem, was in Unternehmen schon lange der Fall ist, wenn es um das Thema New Work geht zum Beispiel, dass man eben schauen muss, dass man seine Arbeitszeiten begrenzt. Alle diese Dinge, die in der freien Wirtschaft schon üblich sind, die müssen wir diskutieren hier in der Schule, aber das macht auch Spaß. Auch die Schüler haben Lust daran, das zu diskutieren und zu sagen: Wir würden gerne diese Kommunikationsformen aufrechterhalten und wir würden gerne dafür auch einen Rahmen schaffen, dass das dann auch funktioniert.
Soziale Medien "in eine rechtssichere Form überführen"
Jahn: Ich vermute, Sie meinen, dass Sie mit Ihren Schülern chatten oder simsen oder mailen oder möglicherweise in WhatsApp-Gruppen oder Facebook-Gruppen sind?
Heinemann: Genau, das ist natürlich auch so, das muss man natürlich auch in eine rechtssichere Form überführen, deswegen war das durchaus am Anfang in sehr vielen Schulen, die noch keinen eigenen Server hatten, über den Kommunikation laufen konnte, eine große Diskussion. Hier in Bayern ist dann im Laufe der Krise Teams zum Beispiel erlaubt worden, ermöglicht worden in einem rechtssicheren Rahmen. Und das ist jetzt auch die Plattform, die wir gerade neben Nebis auch nutzen, um mit den Schülern zu kommunizieren. Und das sind dann tatsächlich Chatverläufe, die man mit den Schülern hat, oder es sind auch Klassenchats, in denen Fragen gestellt werden, die dann alle sehen und auch alle beantworten können. Dadurch ergibt sich dann auch ein ganz anderes Miteinander.
Jahn: Das heißt, soziale Medien schätzen Sie in der neuen Normalität als ein Mittel des Unterrichts?
Heinemann: Ganz genau. Man hat natürlich auch in bestimmten Fächern, wenn ich jetzt an mein W-Seminar, das ist ein Seminar, wo man eine Arbeit schreibt, natürlich auch eine ganz bestimmte Einzelbetreuung. Und die kann ich natürlich jetzt auf diesem Wege sehr viel einfacher noch als per E-Mail durchführen. Und das ist wirklich auch in Kombination mit Videokonferenzen, die wir jetzt ja auch machen können, natürlich eine ganz andere Dimension.
"Alle Schüler mitnehmen"
Jahn: Also eine intensivere Kommunikation und das in kleineren Gruppen. Das hört sich jetzt im Augenblick bei Ihnen so an, als ob Sie sagen, die neue Realität, die ist eigentlich ganz schön. Können Sie denn alle Kinder mitnehmen? Sie sind jetzt an einem Gymnasium, möglicherweise sieht das an anderen Schulformen anders aus, Starnberger See ist auch ein Areal, wo Kinder leben, die möglicherweise gute Unterstützung auch von zu Hause haben, deswegen digital leichter lernen. Kann man alle Kinder mitnehmen in dieser neuen Realität oder wird es da nicht Bildungsverlierer noch deutlicher geben als bislang?
Heinemann: Ja, natürlich gab es da am Anfang auch durchaus die Kollegen, die zu den Schülern geradelt sind und ein Paket abgegeben haben. Das muss dann natürlich in der Anfangsphase sehr schnell auf einem ganz traditionellen Wege erst mal laufen, aber natürlich ist das ein großes Handlungsfeld.
Ich denke, das wird auch wichtig sein, wenn wir starten können im nächsten Schuljahr, dass man auch solche Dinge einüben kann hier gemeinsam in der Schule, wie funktioniert dann dieses digitale Arbeiten, um eben möglichst viele Schüler mitzunehmen. Aber es wird auch nötig sein, alle auszustatten und Angebote zu bieten, wie eben Schüler damit arbeiten können – nicht nur die Schüler wahrscheinlich, auch die Eltern. Und natürlich ist diese Situation von Schulform zu Schulform unterschiedlich, und jede Schulform arbeitet natürlich daran, diese speziellen Probleme aufzuarbeiten, aber natürlich bleibt es so ein bisschen als Fragezeichen, ob wir das wirklich schaffen.
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