Sandra Pfister: Vor den Sommerferien sind sie noch da, nach den Sommerferien bleibt ihr Platz in der Schule leer –Schülerinnen, die im Urlaub zurück in den Iran, Afghanistan, Ex-Jugoslawien oder in die Türkei geschickt werden. Nicht zum Sonnenbaden, sondern, weil sie entweder dem westlichen Einfluss entzogen werden oder bestraft werden sollen oder zum Heiraten. Sie werden manchmal zwangsverheiratet. Wie viele Mädchen das betrifft, ist unklar, ein paar Tausend, schätzen Beratungsstellen. Wie kann man den jungen Frauen helfen? Wir reden mit Bettina Gütschow von der Organisation "Wüstenrose", die in München zum Thema Zwangsheirat berät.
Bettina Gütschow: Also wir reden über Familien, die aus verschiedenen Ländern kommen, und es handelt sich dabei um traditionell geprägte Familien, zum Beispiel aus Afghanistan, aus dem Irak, aus der Türkei, aus dem Iran, aus dem Kosovo und andere Länder, die eine relativ konservative Gesellschaftsstruktur haben. Wobei es ist wirklich zu beachten, das betrifft auf keinen Fall alle Menschen aus diesen Ländern, es gibt auch aus diesen Ländern ganz moderne Leute, die das nicht betrifft. Also man muss da sehr differenziert hinschauen.
Selten klare Frühwarnzeichen
Pfister: Unser Fokus geht ja jetzt in die Schule. Da gehen die jungen Frauen ja vorher hin. Was könnte den Lehrern oder Lehrerinnen oder was könnte ihren Mitschülern vorher auffallen? Gibt es da irgendwelche Frühwarnzeichen?
Gütschow: Ja und nein. Also was man manchmal beobachtet hat, war, dass eine Schülerin ein verändertes Verhalten an den Tag gelegt hat, zum Beispiel sie wurde stiller, sie war eine gute Schülerin, und sie hat plötzlich immer schlechte Noten geschrieben, sie ist öfter krank oder so, wobei diese Veränderungen können natürlich auch vollkommen andere Ursachen haben. Wenn man solche Veränderungen hat, dann, denke ich, ist es immer gut, wenn Lehrerinnen, und vor allem, die, die sie am besten kennen, die Schülerin, mal versuchen, mit ihr zu reden und zu schauen, ob sie so viel Vertrauen aufbauen können, dass die Schülerin sagen kann, was sie wirklich beschäftigt.
Pfister: Oder auch zum Beispiel, wenn sie keinen Sport mehr machen dürfen, ist wahrscheinlich auch so ein Anzeichen.
Gütschow: Das sind noch mal andere Anzeichen. Da ist es eher so, dass die Eltern dann immer mit Krankschreibung kommen. Also es ist eher so, also ich kenne zum Beispiel ein Mädchen, die hat dann in der Schule gesagt, dass sie das Kopftuch nicht mehr tragen will. Sowas sind schon ganz deutliche Anzeichen.
Gütschow: Schülerinnen können sich ans Jugendamt wenden
Pfister: Sie als Organisation, sie gehen ja auch in die Schulen, Sie reden mit den jungen Mädchen. Was raten Sie denen denn, an wen die sich wenden sollen?
Gütschow: Es ist so, wir gehen in verschiedene Formen in die Schulen, wir machen unter anderem Workshops in Schulen. Wenn ich dann von unserer Arbeit erzähle, wird es immer ganz still und die hören zu, und ich sage ihnen immer, das ist vielleicht wichtig, dass ihr die Informationen habt, denn ihr kennt vielleicht andere Leute, die diese Probleme haben, und dann könnt ihr erzählen, dass es uns gibt und gemeinsam mit diesen Leuten zu uns kommen. Wir sagen ihnen natürlich auch, dass das Jugendamt auch helfen kann und dass man sich sowieso, wenn man Schwierigkeiten hat, auch ans Jugendamt immer wenden kann.
Pfister: Raten Sie ihnen auch, sich an die Lehrer zu wenden?
Gütschow: Ja, das ist auch eine Möglichkeit. Ich glaube, was den Schülerinnen und Schülern ganz besonders wichtig ist, ist, dass auf keinen Fall mit ihren Eltern geredet wird. Das ist einer der wichtigsten Punkte überhaupt, denn die Gefährdung für die würde total steigen, wenn die Eltern wissen, dass über die Familienprobleme mit dritten Leuten geredet wird.
Pfister: Also dann würden die die sanktionieren oder sagen, –
Gütschow: Genau.
Pfister: – okay, mit der fahren wir jetzt mal ein bisschen früher nach Hause, in Anführungszeichen, um die dem zu entziehen.
Gütschow: Das könnte passieren. Ich meine, es könnte auch erst mal ganz einfach passieren, das ist ja nicht immer gleich, dass die ins Heimatland mit denen fahren und die da dalassen wollen, also eine Verschleppung, sondern es kann auch sein, dass die an dem Abend ein bisschen stärker verprügelt werden als sonst.
Onlineberatung Sibel
Pfister: Welche Rolle spielen denn die Mitschüler, denen sowas ja vielleicht auch auffällt?
Gütschow: Die Mitschülerinnen, das kann sein, dass die es zuerst erfahren und dass unter den Mädchen dann miteinander geredet wird, das ist ja ein Grund, warum wir über unsere Arbeit erzählen, weil wir vermuten, dass die vielleicht diejenigen sind, die es am allerersten erfahren, und wenn die dann sagen, ich weiß, da gibt es so eine Stelle, wo man sich Hilfe holen kann oder vielleicht: Wir gehen da zusammen hin oder wir rufen da zusammen an, dann ist das auf jeden Fall natürlich eine gute Sache. Ich möchte jetzt hier auch noch zwei Möglichkeiten nennen, wo man sich auch noch Hilfe holen kann: Man kann das auch im Internet tun, wenn man bei Google Onlineberatung – in einem Wort geschrieben – und dann Sibel – so wie der Vorname – eingibt, dann kann man dort Onlineberatung erhalten. Das sind ganz kompetente Frauen, die alle Fragen beantworten.
Pfister: Das ist sicher ein wichtiger Hinweis. Ich stelle mir die ganze Zeit die Frage, was können Sie denn wirklich bewegen, dass eine überzeugte Familie sich davon abhalten lässt, ihre Tochter zu verheiraten oder in ein Land zu bringen, wo sie eher konservativen Einflüssen ausgesetzt ist. Das ist doch sehr unwahrscheinlich.
Gütschow: Ja, also wir haben auch nur wenige Fälle, wo die Eltern dann ihre Ansichten geändert haben. So ist unsere Erfahrung auch. Also das ist tatsächlich sehr selten. Deswegen sagen die betroffenen Schülerinnen ja auch zu uns: auf keinen Fall mit meinen Eltern reden, das bringt sowieso nix. Insofern ist es so, was wir machen können, ist, dass wir die jungen Frauen informieren und ihnen sagen, es gäbe die Möglichkeit, auch die Familie zu verlassen, und damit wären sie sozusagen aus dem Druck, vielleicht diesen Cousin heiraten zu müssen, obwohl sie gar nicht wollen, heraus. Allerdings wir sind uns auch darüber im Klaren, dass die Entscheidung für die jungen Frauen, die Familie zu verlassen, eine sehr, sehr harte Entscheidung ist, und wir merken das auch in den Beratungen, dass wenn diese Frauen Zeit haben, sie sich das länger überlegen und natürlich hin- und hergerissen sind zwischen einem selbstbestimmten Leben auf der anderen Seite und dem Kontakt und den Bindungen zur Familie, die denen auch wichtig sind, selbstverständlich.
Pfister: Die lieben ja auch ihre Eltern.
Gütschow: Genau.
Möglichkeit der Inobhutnahme
Pfister: Sie lieben ihre Familien, sie haben ja nicht nur Angst vor ihnen, sondern sie werden komplett von diesem ganzen Verband abgeschnitten. Aber Sie reden dann im Extremfall von einer sicheren Wohnung oder von einer geheimen Wohnung.
Gütschow: Ja, also wenn die jungen Frauen sich entscheiden, ihre Familie zu verlassen, und sie sind unter 18, regelt das das Jugendamt, dann kann sie sich ans Jugendamt wenden und sozusagen um Inobhutnahme, so heißt das, bitten. Das Jugendamt entscheidet dann, wo sie untergebracht werden. Da viele von diesen Familien sehr viel suchen, wenn die Töchter weg sind und man auch nicht weiß, ob das mit Bedrohungen verbunden ist, entscheiden die meisten Jugendämter, dass sie sie in anonyme Inobhutnahmestellen unterbringen, die einfach noch mal sicherer sind als Inobhutnahmestellen, die man auch im Internet googeln kann.
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