In Mecklenburg-Vorpommern geht die Schule am Montag wieder los. Weitere Länder folgen kurz darauf. Das Ziel ist aus Sicht der Kultusministerkonferenz der "Regelbetrieb". Aber wie realistisch ist das – angesichts regional wieder steigender Corona-Fallzahlen? Der Präsident des Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, hält weder Schulen noch Politik für ausreichend vorbereitet auf die "Szenarien", die sich beim Schulstart eventuell ergeben würden.
Derzeit habe der Lehrerverband den Eindruck, dass der Gesundheitsschutz sehr stiefmütterlich behandelt werde, sagte Meidinger. Auch gebe es in Schulen beispielsweise die Vorgabe, dass Lerngruppen stärker isoliert werden sollten und dass häufiger gelüftet werden müsse. Dies scheitere aber in der Praxis häufig schon daran, dass Fenster ab dem ersten Stock aus Sicherheitsgründen nicht richtig geöffnet werden könnten. Außerdem sei die digitale Ausstattung häufig mangelhaft, kritisierte Meidinger. Da nütze es auch nichts, wenn Lehrerinnen und Lehrer die Sommerferien für Fortbildungen in diesem Bereich genutzt hätten.
Das Interview mit Heinz-Peter Meidinger in voller Länge.
Sandra Schulz: Sie haben sich gerade zum Schuljahresende im bayerischen Deggendorf als Schulleiter ja in den Ruhestand verabschiedet. Aber Sie wissen bestimmt noch, was los ist am Robert-Koch-Gymnasium. Büffelt das Kollegium dort jetzt in den Ferien Digitalisierung?
Heinz-Peter Meidinger: Wir hatten an meiner eigenen Schule das Glück, eine wirklich digital gut aufgestellte Schule zu haben, eine tolle Ausstattung. Insofern ist jetzt an meiner Schule die Fortbildungspflicht nicht so dringlich. Wir haben komplett umgestellt auf Videokonferenzen in der Zeit der Schulschließung und das hat auch gut geklappt. Aber in der Tat haben wir natürlich nach wie vor viel zu tun, um tatsächlich dann, wenn es wieder notwendig sein sollte, Fernunterricht möglichst effektiv zu gestalten.
Schulinterne Fortbildung von unten nach oben
Schulz: Wenn wir bundesweit auf die Lage schauen, wie haben die Kollegen dort die Situation genutzt? Sind jetzt überall in Deutschland, wo die Ferien jetzt schon zu Ende gehen, Workshops gelaufen zu Unterricht per Videokonferenz und den Themen, die da anliegen?
Meidinger: An vielen Schulen ist so was gelaufen, übrigens hauptsächlich von unten nach oben. In den Kollegien haben sich die Kolleginnen und Kollegen, die Lehrkräfte, die da schon weiter waren, dann stark eingesetzt, auch schulintern oft, ihre anderen Lehrkräfte der Fachschaften fortzubilden und mitzunehmen. Zentral ist da gar nicht so viel gelaufen. Aber man muss immer sagen: So eine Fortbildung hat natürlich vor allem dann Sinn, wenn man weiß, welche Technik steht zur Verfügung. Eine Fortbildung zu machen, ohne dass an der eigenen Schule ein funktionierendes WLAN ist, ohne dass eine entsprechende Ausstattung da ist, Breitband und so weiter, eine entsprechende Betreuung der Geräte, macht natürlich oft wenig Sinn. Die bewegt sich dann im luftleeren Raum.
Schulz: Wir haben ja auch Schätzungen, die die ersten Schulschließungen betreffen, wonach 10 bis 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler überhaupt nicht erreicht worden sind. Das wäre dann jetzt auch unverändert?
Meidinger: Es gibt dafür das Programm des Bundes. Teilweise gibt es auch Länderprogramme dazu, für 500 Millionen Leihgeräte zu beschaffen für Schüler, die zuhause keine Chance haben, einen Computer zu benutzen. Das Programm ist jetzt angelaufen. Ich finde es auch gut, dass die Schulleitungen die Leihgeräte verteilen sollen, weil die wissen am besten, wo Schüler das brauchen. Ob das ausreicht und ob das tatsächlich dann gerade in Mecklenburg-Vorpommern nächste Woche schon da ist, ob die Geräte schon verteilt werden können, da mache ich mal ein ganz großes Fragezeichen.
Altes Konzept mit Abstandsregeln im Unterricht kann nicht mehr greifen
Schulz: Sie haben generell Anfang der Woche Sorge geäußert, Zweifel, die Schulen seien nicht gut vorbereitet. Woran liegt das?
Meidinger: Es liegt an verschiedenen Dingen. Das eine ist: Wir haben ja - der Wunsch ist bei uns allen da - die Ankündigung, es soll wieder in den Normalbetrieb gehen. Das heißt, das alte Hygienekonzept mit Abstandsregeln im Unterricht kann nicht mehr greifen. Da brauchen wir einen Ersatz, und schon da hapert es. Da gibt es ganz vage Vorgaben. Lerngruppen sollen jetzt stärker isoliert werden. Es soll öfter gelüftet werden. Wenn man jetzt in die Praxis schaut, wenn Schulen jetzt schauen, wie setzen sie das um, dann erkennen wir, dass das oft an der Praxis scheitert. Wir können beispielsweise Fenster nicht richtig öffnen. Ab dem ersten Stock dürfen die nur einen spaltweise geöffnet werden aus Sicherheitsgründen. Wir haben in der gymnasialen Oberstufe ein Kurssystem. Da kann man überhaupt keine Lerngruppen isolieren. Das ist das eine und das andere ist, darüber haben wir gerade geredet, dass die digitale Ausstattung nach wie vor mangelhaft ist, dass die Mittel des Digitalpakts an die Schulen nur tröpfchenweise gelangen. Beides zusammen macht mich pessimistisch, ob wir für beide Szenarien gut aufgestellt sind.
Schulz: Das sind sicherlich alles gewichtige Probleme. Jetzt sind wir mit Ihnen heute Morgen ja verabredet als Präsident des Lehrerverbandes. Diese schlechte Vorbereitung, liegt die auch an den Lehrerinnen und Lehrern?
Meidinger: An den Lehrerinnen und Lehrern liegt sie – ich bin durchaus auch selbstkritisch. Es gibt Dinge, wo man sagen muss, da müssen wir uns mehr auf die Hinterfüße stellen. Aber an diesen beiden Geschichten, glaube ich, sind die Lehrkräfte wirklich unschuldig.
"Wir wollen alle mehr Normalität"
Schulz: Ich kam jetzt auf die Idee, weil aus der Lehrerschaft viel zu hören ist, was alles nicht geht. Müsste nicht auch der Beitrag darüber kommen, was geht und was möglich ist?
Meidinger: Ich habe schon gesagt, wir wollen alle mehr Normalität, und eigentlich wünschen wir uns natürlich alle einen Vollbetrieb an Schulen zurück. Was allerdings wichtig ist, ist diese Balance zwischen Gesundheitsschutz und Bildungsauftrag, und da haben wir doch den Eindruck, dass der Gesundheitsschutz – und da geht es nicht nur um den Gesundheitsschutz von Lehrkräften, sondern da geht es um den Gesundheitsschutz aller, die in Schulen sind, übrigens auch derjenigen, die zuhause sind, die Eltern oder die Risikopersonen im elterlichen Haushalt. Da haben wir den Eindruck, dass der zurzeit stiefmütterlich behandelt wird. Während am Anfang ganz schnell die Schulen geschlossen worden sind, da war man sehr schnell, vielleicht zu schnell, da konnten wir uns gar nicht richtig vorbereiten auf die Phase danach, ist jetzt der Wille da zu öffnen, koste es was es wolle, und da, glaube ich, ist es auch richtig, warnend zu sagen, da müssen wir aufpassen. Es gibt natürlich schon dringliche Bedingungen in der Schule und außerhalb.
Schulz: Herr Meidinger, der Gesundheitsschutz, das ist ja das Thema logischerweise dieser Pandemie. Aber das Gefühl, dass die Lehrerschaft auch wieder dafür brennt oder darauf brennt, vor der Klasse zu stehen, haben Sie das?
Meidinger: Ich habe nur glückliche Gesichter gesehen damals, als nach der Schulschließungsphase wieder (allerdings eingeschränkt; es waren dann ja nur halbierte Gruppen) Lehrer und Schüler sich in den Schulen getroffen haben. Ich glaube, kein Lehrer möchte zuhause sitzen und aus der Ferne Schule betreiben. Das ist ja gar keine richtige Schule. Wir wollen wieder, aber wir wollen es unter verantwortbaren Bedingungen.
"Es war die Politik, die gesagt hat, jetzt macht mal"
Schulz: Es ist natürlich überhaupt nicht leicht, jetzt darüber zu sprechen ohne falsche Pauschalisierungen. Trotzdem kommen wir ohne Pauschalisierungen nicht aus. Es ist ja diese Zahl ins Auge gesprungen, wonach 20 Prozent der Lehrer absehbar sich als Zugehörige der Risikogruppe bezeichnen und deswegen zuhause bleiben. Solche Zahlen sind aus der Ärzteschaft nicht bekannt, aus anderen systemrelevanten Berufen. Wieso bei den Lehrern?
Meidinger: Auch da, glaube ich, geht der Vorwurf fehl. Es waren ja nicht die Lehrer, die gesagt haben, wir wollen uns jetzt selber entschuldigen als Risikopersonen, sondern seinerzeit hat der Staat gesagt, wir können nicht auf die Schnelle erkennen, wer ist Risikoperson und nicht, und dann haben sie diese Regelung gemacht, Lehrkräfte über 60 und welche mit Vorerkrankungen, und die mit Vorerkrankungen auch erst mal, ohne dass ein Attest vorlag. Das hat sich ja komplett geändert. Mittlerweile sind Lehrer über 60 in den meisten Bundesländern nicht mehr allgemein als Risikopersonen anerkannt. Es müssen ärztliche Atteste vorgelegt werden wie sonst auch. Ich glaube auch, dass die Zahl 20 Prozent im neuen Schuljahr deutlich niedriger liegt. Wir haben noch keine genauen Zahlen, aber ich schätze eher um die zehn Prozent. Niemand hat was dagegen als Lehrer, dass er zum Facharzt geht. Es war die Politik, die gesagt hat, jetzt macht mal.
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