Archiv


Schuld und Sühne

Er war - laut Anklage - der Drahtzieher im blutigen Bürgerkrieg in Sierra Leone: der ehemalige Präsident Liberias Charles Taylor. Am kommenden Montag wird der Prozess gegen ihn in Den Haag fortgesetzt. Für die Opfer des Krieges ist die Gerichtsverhandlung eine Frage von Gerechtigkeit.

Von Alexander Göbel |
    Ich treffe Tommy auf einem Acker in der Nähe von Kenema, eine Tagesfahrt östlich von Freetown. Er pflanzt Süßkartoffeln. Tommy ist Mitte 20, mit seinen Krücken versinkt er im sandigen Boden.

    "Die Rebellen haben mich erwischt. Wir rannten um unser Leben. Ein paar meiner Freunde wurden erschossen. Mich haben sie gefangen genommen. Ich wollte nicht als Soldat für sie kämpfen. Ich wollte zur Schule gehen. Da haben sie mir mein rechtes Bein abgeschnitten."

    Das war vor zehn Jahren. Tommy hat den Bürgerkrieg von Sierra Leone überlebt - und arbeitet heute mit rund 80 Männern und Frauen seines Dorfes zusammen, denen Arme, Hände oder Beine fehlen. Verwundet von den Macheten der Rebellen, die Anfang der 90er-Jahre Jagd auf Diamanten machten - und Hunderttausende Menschen.

    Long Sleeve or short Sleeve - langer Ärmel oder kurzer Ärmel: Das haben sie uns immer gefragt, sagt Tommy. Er deutet auf Handgelenke und Ellenbogen. Andere Milizen waren auf den "Ruffle Draw" spezialisiert: Die Opfer mussten eine Losnummer ziehen; auch Tommy.

    "Ich hatte die Wahl: Erblinden - das war die Eins - dann bekam man flüssiges Plastik ins Auge; oder sie würden mir das rechte Bein oder den linken Arm abschneiden; oder, wenn man die Vier zog, wurde man direkt erschossen. Darauf hatte ich damals gehofft, ehrlich. Aber ich habe die Zwei gezogen."

    Tommys rechtes Bein wurde mit einer Axt abgeschlagen. Sie war stumpf - so wurde der Schmerz noch größer. Ich zittere, während ich das Mikrofon einpacke. Vielleicht liegt es am Regen.

    Freetown, die Hauptstadt, eigentlich malerisch gelegen am Atlantik. Ich gehe zu Fuß durch die verdreckte Innenstadt. Bis heute fallen sie auf, die jungen Menschen im Rollstuhl oder auf Krücken, mit frisch verbundenen Stümpfen an Armen und Beinen. Noch immer sind viele Gebäude zerstört, manche Straßen kaum befahrbar, Strom und fließendes Wasser kaum vorhanden.

    Der Krieg beginnt 1991. Verbündete von Liberias Präsident Charles Taylor greifen zwei Dörfer im Grenzgebiet zwischen Liberia und Sierra Leone an. Taylor braucht Geld für seinen eigenen Krieg im Nachbarland. Es ist die Stunde der "Revolutionary United Front" (RUF). Die Rebellen wollen die sierra-leonische Regierung loswerden und brauchen Waffen. Taylor kann sie liefern, hat beste Verbindungen zu Waffenhändlern aus der ehemaligen Sowjetunion - und schielt dabei auf die großen Diamantenvorkommen im Osten von Sierra Leone. Davon erzählt auch der Hollywood-Blockbuster "Blood Diamond" mit Leonardo Di Caprio.

    Der Krieg als Schwarzes Loch - elf Jahre herrschen Brutalität und die Gier nach Macht und natürlichen Ressourcen. Allein die "January Six Invasion", der Angriff der Rebellen auf Freetown am 6. Januar 1999, fordert mehr als 40.000 Tote. Jabati Mambou ist zu dieser Zeit 15 Jahre alt. Sein Leben ändert sich um 7:45 Uhr abends.

    "Die Soldaten haben alle Jungs aus dem Haus gezerrt und in einer Reihe aufgestellt. Ich war der Erste. Sie befahlen mir, meine rechte Hand auf den Boden zu legen. Dann kam einer mit einer Axt - und schlug sie ab; einfach so."

    Erst 2002 hat das Grauen ein Ende. Die Vereinten Nationen schicken die bislang größte Blauhelmtruppe. Doch Sierra Leones Gesellschaft ist längst aus den Fugen geraten. Zwei Drittel der rund fünf Millionen Menschen können heute weder lesen noch schreiben, ebenso viele sind jünger als 25 Jahre, und die meisten von ihnen ohne feste Beschäftigung.

    Freetown ist voll von frustrierten jungen Männern, die nie etwas anderes gelernt haben, als Waffen zu benutzen. Eine verlorene Generation, die dringend für den Wiederaufbau des Landes benötigt würde. Auf dem heruntergekommenen Campus des "Fourah Bay College" treffe ich John Abu-Kpawoh. Er studiert Umwelttechnik und gehört zur Elite seines Landes.

    "Du kannst die Spuren des Krieges noch heute sehen. Er ist ja erst seit ein paar Jahren vorbei. Die sichtbarsten Opfer sind die 'Amputees'. Aber da sind auch die Frauen, die zum Geschlechtsverkehr mit ihren Söhnen gezwungen wurden, oder die Kindersoldaten. Es ist nur folgerichtig, dass jetzt auch Mister Taylor dafür verantwortlich gemacht wird, damit hier endlich Versöhnung beginnen kann. Ich selbst bin Zeuge, dass diese Dinge während des Krieges geschehen sind."

    Wahrheit, Verantwortung, Versöhnung: große Worte, hohe Erwartungen. Die Menschen suchen nach Antworten, nach ihrer verloren gegangenen Würde. Die will ihnen das UN-Sondergericht für Sierra Leone zurückgeben. Hauptangeklagter ist Charles Taylor - verhaftet 2006, nach seiner missglückten Flucht aus dem Exil in Nigeria.

    30.000 Seiten Anklageschrift, elf Anklagepunkte: Rekrutierung von Kindersoldaten, Vergewaltigung, Mord, Zwangsarbeit, kurz: Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dass diese Gräueltaten geschehen sind - daran besteht kein Zweifel. Doch die Anklage muss beweisen, dass sie Taylor unmittelbar anzulasten sind.

    Natürlich ist Taylor nicht allein für den Krieg in Sierra Leone verantwortlich. Aber Foday Sankoh, Rebellenführer der RUF, starb im Gefängnis und entging seinem Urteil. Andere mutmaßliche Schlächter sind untergetaucht oder wurden notgedrungen für tot erklärt. So wird der Prozess gegen Liberias Ex-Präsident Taylor zum Symbol - zur Messlatte für Gerechtigkeit. So nennt es Peter Andersen, Sprecher des Sondergerichts in Freetown:

    "Lange Zeit war es in dieser Region so, dass Menschen mit viel Macht keine Strafe fürchten mussten. Sie waren unberührbar. Und genau das ändern wir mit dem 'Special Court'. Es ist egal, wer du bist, du kannst verurteilt werden; auch als Staatsoberhaupt. Wir machen wichtige Fortschritte im Kampf gegen die Straflosigkeit in diesem Land."

    Die ganze Region hat Angst vor Charles Taylor. Daher findet der Prozess nicht im schicken Prozessgebäude von Freetown statt, sondern in Den Haag. Für viele ist das unverständlich, und da reicht es ihnen auch nicht, wenn sie die Verhandlung, wie in den ersten Prozesstagen, auf der Videoleinwand im Sondergericht in Freetown begleiten können. Sie haben das Gefühl, dass das Recht noch immer nicht zurückgekehrt ist nach Sierra Leone.

    Nach der Anklage ist nun ab kommendem Montag Taylors Verteidigung an der Reihe - und sie ist gut vorbereitet. Zwei Wochen - oder länger - will Taylor höchstpersönlich aussagen, als Kronzeuge alle Schuld von sich weisen. Jabati Mambou, der junge Mann, der im Bürgerkrieg seine rechte Hand verloren hat, will in Den Haag dabei sein und Taylor in die Augen schauen - wenn er das Geld für den Flug auftreiben kann.

    "Ich will ihn sehen, aber ich könnte nicht mit ihm sprechen. Ich hoffe, dass er mindestens 150 Jahre hinter Gitter muss - so wie dieser amerikanische Finanzhai, der kürzlich verurteilt wurde. Das bringt mir meine Hand nicht zurück, aber ich würde spüren, dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt."

    Aber im Verfahren gegen Taylor könnte es durchaus sein, dass der Angeklagte am Ende freigesprochen wird. Das entscheiden die Richter. In Sierra Leone will das niemand laut sagen, noch nicht einmal denken. Wenn Taylor verurteilt wird, will Großbritannien ihm eine Zelle freimachen. Für den Fall eines Freispruchs gibt es noch keinen Plan B. Es ist, als nehme Taylor Sierra Leone ein zweites Mal in Geiselhaft - als zwinge er das ganze Land, schon wieder den Atem anzuhalten.