Je mehr die moderne Wissenschaft den Menschen als ein durch Gene, Umwelt, das Unbewusste und Hirnfunktionen bedingtes und bestimmtes Wesen erkennt, desto fragwürdiger wird die These, dass der Mensch für all sein Tun verantwortlich sei. Und auch wenn wir bereit sind, Verantwortung zu tragen oder zu übernehmen, fragt es sich in einer komplexen Gesellschaft, in der fast niemand mehr die Folgen seines Tuns überblickt, wer letztlich für menschengemachte Ereignisse und Katastrophen, die viele betreffen, die Verantwortung trägt. Wie steht es unter diesen Bedingungen um die Freiheit des Menschen, seine Verantwortung für andere und seine Selbstverantwortung, und was bedeutet es, angesichts einer zunehmenden Verantwortungslosigkeit noch nach Schuld und nach Sühne zu fragen?
Konrad Paul Liessmann, Professor für Philosophie an der Universität Wien, Autor zahlreicher Bücher und Wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech eröffnete mit diesem Essay das 18. Philosophicum, das heute zu Ende geht.
Konrad Paul Liessmann, Professor für Philosophie an der Universität Wien, Autor zahlreicher Bücher und Wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech eröffnete mit diesem Essay das 18. Philosophicum, das heute zu Ende geht.
Wer heute noch von Schuld und Sühne spricht, macht sich verdächtig. Und dies nicht nur, weil Fjodor Dostojewskis berühmter Roman, der diese Formel zu einer fast alltagssprachlichen Wendung werden ließ, aktuell eher unter dem Titel "Verbrechen und Strafe" zu finden ist. (…)
Ist aber von Schuld und Sühne die Rede, geht es nicht nur um übertretene Gesetze und dafür vorgesehene Sanktionsmöglichkeiten. Bei Schuld geht es um mehr und anderes, als um ein gesellschaftlich nicht akzeptiertes Verhalten. Schuld: Das kann all das meinen, für das man schuldig im Sinne einer Urheberschaft ist. Schuld kann aber auch das bedeuten, was man einem anderen schuldet, was man, im übertragenen und wörtlichen Sinn zurückzahlen muss. Schon Nietzsche hatte darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff der Pflicht, dass das moralische Sollen, seinen Ursprung in der ökonomischen Schuld hat: Jemand hat das Recht, etwas, das er mir gegeben hat, zurückzufordern. Dieser Forderung nachzukommen, ist meine Pflicht. Wer Schulden hat, der schuldet jemandem etwas, und er lädt weitere Schuld auf sich, wenn er diese Schulden nicht begleichen kann. Schuld kann aber auch bedeuten, dass wir an jemandem schuldig werden können, in dem wir sein Leben oder seine Lebenschancen beeinträchtigen. Schuld kann man in mannigfacher Form auf sich laden, absichtlich und unabsichtlich, und es gehört zu den großen Einsichten der griechischen Tragödie - man denke an König Ödipus - dass der Mensch auch schuldlos schuldig werden kann.
Frage nach Schuld und Sühne
Letztlich geht es bei der Frage nach der Schuld darum, inwieweit der Mensch als Urheber seiner Handlungen begriffen werden kann, für die er vor anderen und vor sich selbst einstehen muss. Deshalb meint auch Sühne mehr, als nur die Abgeltung einer Schuld, oder die Strafe, die jemandem für ein unerwünschtes Verhalten auferlegt wird. Sühne steht nicht nur in einer formalen Beziehung zu einer Tat - indem etwa nach einem angemessenen Strafrahmen gesucht wird -, sondern in einer inhaltlichen: Wie kann, nach dem etwas getan, und diese Tat als falsch und verwerflich erkannt wurde, noch reagiert werden? Wie kann auf die Frage: Warum hast du das getan? noch geantwortet werden?
Bei der Frage nach Schuld und Sühne geht es in einem fundamentalen Sinn um die Frage der Verantwortung. Allerdings: Der Begriff der Verantwortung unterliegt aktuell einem inflationären Gebrauch, der manchmal daran zweifeln lässt, ob mit diesem Begriff überhaupt noch sinnvoll operiert werden kann. Verantwortung wird heute so gerne übernommen wie abgeschoben, Verantwortung wird manchmal ungefragt beansprucht, aber auch problemlos an andere delegiert, und man kann sich des Eindrucks mitunter nicht erwehren, dass es durchaus als chic gilt, Verantwortung auch prinzipiell abzulehnen. Trotzdem gilt "verantwortungslos" noch immer als eine negative Eigenschaft, und wer wofür eigentlich verantwortlich ist oder gemacht werden kann, ist nicht nur in der Politik eine mitunter ziemlich offene Frage.
Der moderne Mensch, vor allem der aufgeklärte und selbstkritische Europäer, scheint gerne Verantwortung zu übernehmen. Anders gesagt, er fühlt sich für vieles, eigentlich für fast alles verantwortlich. Ob es sich um das Weltklima oder den Krieg im Irak handelt, um die Sprachprobleme von Migranten oder die Zustände in Zentralafrika, ob es um die Bildung der Mädchen oder die Gewaltbereitschaft der Knaben, um die Lungen der Raucher oder den Leibesumfang von Pubertierenden geht, um die Auseinandersetzungen in der Ukraine oder den Zölibat in der katholischen Kirche, um das Glück der Wenigen und das Unglück der Vielen - die Verantwortung, so scheint es, liegt bei ihm. Für alles nimmt er die Schuld auf sich - wenn nicht als Person, so doch als Teilhaber an einer Kultur, die sich angeblich schuldig gemacht hat und von der er sich, indem er deren Schuld benennt, auch schon wieder distanziert. Der moderne Mensch ist geradezu ein Verantwortungskünstler und Schuldverschiebungsstratege.
Die Verantwortung liegt immer woanders
Wer andere großzügig von der Verantwortung entlastet, spricht diesen allerdings ab, für sich selbst die Verantwortung übernehmen zu können. Und in der Tat machte sich heute jeder einer falschen politischen Ansicht verdächtig, der auf die Idee käme, zum Beispiel aggressive Jugendliche, schlecht integrierte Muslime oder drogenabhängige Junkies für ihre Lage selbst verantwortlich zu machen. Nein, die Verantwortung liegt immer woanders, nie bei den Akteuren. Gibt es Probleme mit der Integration, fehlt es an einer Willkommenskultur; randalieren Jugendliche am Bahnhof, hatten sie eine schwere Kindheit; verspielt jemand sein Vermögen an der Börse, wurde er schlecht beraten; scheitert jemand in der Schule, waren die Lehrer eine Katastrophe; studieren zu wenig Frauen technische Physik, hat die Gesellschaft versagt. Was gilt eigentlich der Wille des Einzelnen in solch einer Welt verschobener Verantwortlichkeiten?
Leben wir also schon nach dem Ende der Verantwortung? Im Begriff „Verantwortung“ steckt die Antwort. Und jede Antwort impliziert eine Frage. Sich verantworten bedeutet in einem ganz ursprünglichen Sinn, auf eine gestellte Frage antworten zu können oder schärfer: antworten zu müssen. Wo, aus welchen Gründen auch immer, keine Frage gestellt werden kann oder gestellt werden darf, gibt es keine Verantwortung. Verantwortung setzt immer einen Fragesteller und einen Befragten voraus. Menschen, die großmäulig Verantwortung übernehmen, ohne gefragt worden zu sein, sollte man deshalb mit Vorsicht begegnen. Umgekehrt gilt aber auch: Man soll sich hüten, von jemandem Verantwortung einzufordern, den man entweder nicht fragen kann oder sich nicht zu fragen getraut.
Wer also trägt Verantwortung, wer kann Verantwortung einfordern, wer kann für wen und unter welchen Bedingungen Verantwortung übernehmen? Prinzipiell sind Menschen, die Handlungen setzen, die wiederum Folgen zeitigen, verantwortlich in dem Sinn, dass wir diese Handlungen und Folgen ihnen zurechnen und sie als Urheber derselben auffassen. Allerdings konstituiert nicht jede Urheberschaft auch eine Verantwortlichkeit. Nicht jeder, der etwas tut, ist dafür immer auch verantwortlich zu machen. Wir kennen zahlreiche Fälle, in denen wir wohl sehen, dass Menschen etwas tun, es uns aber nicht in den Sinn käme, diese für die Folgen ihrer Taten zur Verantwortung zu ziehen - etwa bei Unmündigen, bei Unzurechnungsfähigen, bei Handlungen, die einem Zufall entspringen, bei Unglücksfällen. Wir gehen in der Regel davon aus, dass Verantwortlichkeit nur dort gegeben ist, wo jemand souverän, bewusst und gezielt eine Handlung setzt, über deren Konsequenzen er sich zumindest im Prinzip im klaren ist. Es kann erwartet werden, dass er die Folgen seines Handelns hätte abschätzen können.
Freiheit ist Grundlage von Verantwortung
Eine grundlegende Voraussetzung für die Zurechnung von Verantwortung ist also die Freiheit, sind Selbstbewusstheit und Selbstbestimmtheit einer Handlung. Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer im Zustand der Unfreiheit und Unmündigkeit befinden, können keine oder nur eine abgestufte Form der Verantwortung übernehmen. Das ist übrigens auch der Grund dafür, warum jemand, der sich seiner Verantwortung für sein Handeln entledigen will, alles daran setzen wird, für den Zeitpunkt seiner Handlung oder überhaupt generell seine Unfreiheit zu behaupten. In der Regel bedeutet dies, die Verantwortung an jemand anderen zu delegieren. Wie plausibel, verständlich und nachvollziehbar wir solche Behauptungen im einzelnen Fall auch immer finden mögen: Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir in dem Moment, in dem wir solche Erklärungen akzeptieren, auch die Unfreiheit des Handelnden unterstellen. Er hört auf, für uns ein souveräner und gleichberechtigter Gesprächs- und Aktionspartner zu sein, der uns Rede und Antwort stehen könnte. Wir können uns einem solchen Menschen gegenüber dann nur noch fürsorglich, paternalistisch, therapeutisch oder ignorant verhalten.
Unter welchen Bedingungen wir Verantwortung für unser eigenes Handeln tragen und vor wem wir dieses verantworten müssen, ist die eine Frage. Die andere Frage ist aber die nach den Bedingungen, unter denen wir Verantwortung für das Handeln anderer Menschen übernehmen wollen oder übernehmen können. Die in der Politik und im sozialen Leben immer wieder angesprochenen Verantwortungsträger sind ja nicht in einem ausgezeichneten Sinn für ihre Handlungen verantwortlich, sondern sie sind durch diese Handlungen für das Leben und die Lebensmöglichkeiten anderer Menschen verantwortlich. Was kann dies bedeuten? Die Übernahme von Verantwortung für andere hat eine ganz spezifische Voraussetzung: Macht. Nur wo ein Machtverhältnis existiert, kann jemand Verantwortung für andere übernehmen, weil Macht bedeutet, Dinge zu tun, von denen andere Menschen in einem gravierenden Sinn betroffen sind. Wer nicht die Macht hat, etwas zu tun, dem ein anderer ausgeliefert ist, kann dafür auch keine Verantwortung übernehmen. Von dem spätantiken Stoiker Epiktet stammt der alle Ethik fundierende Satz: „Das eine steht in unserer Macht, das andere nicht.“ Nur dort, wo etwas in unserer Macht steht, hat die Rede von Freiheit und Verantwortung einen Sinn, nur dort, wo andere Menschen unserer Macht unterworfen sind, erwächst aus dieser Macht auch Verantwortung für diese Menschen. Das mag hart klingen: aber wir können in einem sozialen Sinn nicht von Verantwortung sprechen, ohne nicht auch die Machtfrage zu stellen.
Mit Macht kommt auch Verantwortung
Diese Macht kann allerdings in unterschiedlicher Weise strukturiert sein. Es kann eine Macht sein, die aus einem nahezu naturwüchsigen Gefälle zwischen Menschen erwächst: Die Macht der Eltern über ihre Kinder und die daraus abzuleitende Verantwortung der Eltern für diese Kinder war lange das dafür paradigmatische Beispiel. Es kann eine Macht sein, die aus der Differenz situationsspezifischer Sachkompetenz erwächst: Die Kompetenz des Piloten etwa gibt ihm Macht über seine Passagiere, aber auch die Verantwortung für diese. Es kann eine Macht sein, die Resultat eines Abkommens, eines Vertrages ist: Jemand kann Kompetenzen an einen anderen abgeben, sich damit in dessen Macht begeben, dafür übernimmt dieser die Verantwortung zum Beispiel für das Leben und die Sicherheit des anderen. Nicht nur das mittelalterliche Lehens- und Vasallenprinzip folgte dieser Logik, auch der moderne Staat wurzelt in einem Verzicht der Bürger auf Macht zugunsten einer gewählten Regierung, die mit der Macht eben auch die Verantwortung übernimmt; und schließlich kann die Macht über Menschen auch gegen deren Willen errungen werden - aber auch der Aggressor übernimmt mit der Macht die Verantwortung für diejenigen, die er sich unterworfen hat. Und wenn nicht diese selbst, so hoffen wir doch, dass zumindest die Geschichte irgendwann einmal diese Verantwortung auch einklagen wird. Dies ist allerdings alles andere als einfach. Wie die nun wieder aufgeflammten Debatten um die Frage, wer denn nun eigentlich die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trage, zeigen, muss man gerade in der Politik auch mit einer Kette von verhängnisvollen Entscheidungen rechnen, die eindeutige Schuldzuschreibungen nicht immer möglich machen.
Man könnte dies auch als Paradoxon formulieren: Verantwortlich handeln können nur Einzelne. Aber Einzelne sind nicht für alles verantwortlich. Es gibt auch die Zuständigkeiten von Organisationen, Kollektiven, Institutionen, Gesellschaften, die einer eigenen Dynamik gehorchen. Wo aber verläuft die Grenze zwischen dem, was in den Verantwortungsbereich der Menschen fällt, und dem, was an Institutionen welcher Art auch immer delegiert werden muss? Wir leben ja, wie es so schön heißt, in einem Zeitalter der Individualisierung. Individualisierung bedeutet aber generell die zunehmende Verlagerung von Verantwortlichkeit in den Bereich des Einzelnen. Vieles, was gegenwärtig unter Stichworten wie Privatisierung, Eigenverantwortung oder Autonomisierung verhandelt wird, folgt genau diesem Prinzip.
Delegation der Verantwortung
Verantwortlichkeiten, die bislang bei der organisierten Gesellschaft lagen, von dieser repräsentativ wahrgenommen und kontrolliert wurden, werden nun an den Einzelnen delegiert - das reicht von der Schulbildung über die Sozialversicherung bis zur Pensionsvorsorge. Dort, wo der Einzelne tatsächlich die Macht und die Möglichkeiten hat, diese Aufgaben zu übernehmen, bedeutet dies in der Tat einen Zugewinn an Freiheit. Für begüterte Menschen etwa, die aus Verantwortungsgefühl ihren Kindern die beste Ausbildung bieten wollen, ist die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Bildungsangeboten, die sie dann auch bezahlen, auswählen zu können, besser, als auf eine öffentliche Schule angewiesen zu sein, die aus den Steuergeldern aller finanziert und deshalb auch allen zugänglich sein muss. Verantwortlich fühlen sich diese Menschen dann nur noch ihren Kindern gegenüber. Dies bedeutet aber, dass der Gedanke, dass eine Gesellschaft als solche Verantwortung für die Ausbildung ihres Nachwuchses übernehmen muss, an Bedeutung verliert.
Die Delegation von Verantwortung an Einzelne ist aber nur dort sinnvoll, wo diese auch in der Lage sind und in diese gesetzt werden, die damit notwendig verbundene Macht auch auszuüben. Natürlich könnte man der Auffassung sein, dass in einer freien Gesellschaft jeder selbst auch für seine Sicherheit verantwortlich sei - dann könnte man zwar die Polizei auflösen, aber sicher wären nur mehr diejenigen, die sich einen privaten Sicherheitsdienst leisten könnten. Objektiv zynisch ist es deshalb, Menschen dort mit Verantwortung auszustatten, wo sie keine Möglichkeit haben, diese auch wahrzunehmen. Weder gibt man den Passagieren die Verantwortung für die Flugzeuge, in denen sie fliegen, noch den Patienten die (volle) Verantwortung für die Operationen und Therapien, denen sie unterzogen werden. Gerade das letzte Beispiel und die mit diesem oft verbundene Rede vom „mündigen Patienten“ zeigt allerdings, wie schmal der Grat sein kann, auf dem man sich zwischen Übernahme und Abwehr von Verantwortung mitunter bewegen muss. So sehr es begrüßt werden kann, dass der Einzelne nicht hilflos einer Medizin ausgeliefert ist, die er nicht versteht, so problematisch wäre es, die behandelnden Ärzte mit dem Hinweis auf Patientenwünsche von aller Verantwortlichkeit, die ihnen aus ihrer Sachkompetenz nun einmal erwächst, zu entbinden. Gehört es tatsächlich, um ein anderes, drastisches, aber nicht inaktuelles Beispiel zu wählen, tatsächlich zur Verantwortlichkeit des Individuums, den Zeitpunkt und die Art seines Todes selbst zu bestimmen? Das rechte Maß im Zuordnen von Verantwortlichkeiten zu finden, stellt eine immense Herausforderung an eine Zeit dar, in der die traditionellen Zuordnungsschemata ins Wanken geraten sind.
Wer hat Schuld an bedrohlichen Entwicklungen?
Man kann die Augen nicht davor verschließen, dass der Wohlfahrtsstaat klassischen Zuschnitts mit einer gewissen patriarchalischen Überfürsorglichkeit tatsächlich viele unnötige Formen von Unmündigkeit und Abhängigkeit erzeugt hat, und lange war man vielleicht zu schnell bereit, für individuelle und kollektive Probleme und Krisen einfach „die Gesellschaft“ verantwortlich zu machen; man kann seine Augen aber auch davor nicht verschließen, dass unter programmatischen Schlagworten wie Eigenverantwortung und Autonomie Menschen auch um jene Hilfe und Unterstützung gebracht werden können, die sie aus guten Gründen von der Gemeinschaft, in der sie leben, erwarten dürfen. Es ist gegenwärtig auch eine Tendenz unübersehbar, die sich durch eine einfache Formel veranschaulichen ließe: Vorteile an sich ziehen, Nachteile delegieren. Oder: Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren. Die Macht, die etwa dem internationalen Finanzkapital durch die Entwicklung des letzten Jahrzehnts objektiv zugewachsen war, entsprach in keiner Weise dem Maß der sozialen Verantwortung, das daraus hätte erwachsen müssen. Die Krisen der letzten Jahre zeigen, dass gerade die hoch bezahlten sogenannten Verantwortungsträger ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, aber auch nicht zur Verantwortung von jenen gezogen werden können, die dann die Folgen zu tragen haben.
Wer keine Macht hat, kann niemanden zur Verantwortung ziehen. Wer keine Macht hat, kann weder Verantwortung übernehmen noch diese an andere delegieren. Das betrifft insbesondere die Frage, für welche Formen von Ohnmächtigkeit eine Gesellschaft oder Gruppen einer Gesellschaft die Verantwortung übernehmen können oder übernehmen müssen. Inwiefern sind wir - wer ist übrigens wir? - tatsächlich für eine gerechte Verteilung der Güter dieser Erde, für eine intakte Natur oder für eine lebenswerte Zukunft verantwortlich? Wer trägt tatsächlich die Schuld für jene bedrohlichen Entwicklungen, die wir euphemistisch als Klimawandel bezeichnen? Der einzelne Autofahrer? Die Industrie? Eine mobilitätsbesessene Gesellschaft? Die Frage nach der Urheberschaft und der damit zusammenhängenden Verantwortung ist gerade im Bereich der Ökologie gleichbedeutend mit der Frage: Wer wird darunter leiden? Wer wird für die Folgekosten aufkommen? Wem werden wir etwas schulden, weil es unsere Schuld war? Und wer übernimmt die Verantwortung für jene Weichenstellungen etwa im Bereich der biomedizinischen Technologien, deren Folgen erst in Jahren oder Jahrzehnten umfassend zu spüren sein werden?
Von der "Permanenz echten menschlichen Lebens"
Als der Philosoph Hans Jonas im Jahre 1979 unter dem Titel "Das Prinzip Verantwortung" seine "Ethik für die technologische Zivilisation" vorlegte, glaubten viele, dass damit tatsächlich jenes Prinzip gefunden sei, das den Fortbestand der menschlichen Gattung auf diesem Planeten sichern könnte. Denn der aus diesem Prinzip Verantwortung abgeleitete Imperativ lautete bei Hans Jonas: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden". Hans Jonas hatte mit diesem Imperativ versucht, die Zukunft selbst, die Natur und die ungeborenen Generationen zum Gegenstand unseres Verantwortungsbereiches zu machen. Keiner dieser Kandidaten hat allerdings selbst die Macht, uns zu dieser Verantwortung zwingen zu können - weder die Zukunft, noch die ungeborenen Generationen, noch die Natur kann mit uns in einen Kampf um die Verantwortung treten. Das Prinzip Verantwortung kann nur als eine aus Einsicht und Sorge selbstauferlegte Pflicht verstanden werden oder es kann uns von Menschen aufgenötigt werden, die plausibel und mit Macht ausgestattet als Stellvertreter der Zukunft, der Natur, der Tiere und der ungeborenen Generationen auftreten und in deren Namen sprechen. Woher aber wissen diese Anwälte der Zukunft, was die zukünftigen Generationen wirklich wollen werden? Es ist keine auferlegte, sondern eine angemaßte Verantwortung damit verbunden, die wie jede Anmaßung auch ihre zweifelhaften Seiten hat.
Die Formulierung des Imperativs der Verantwortung durch Hans Jonas macht uns aber noch auf ein anderes Problem aufmerksam: Er sprach von der "Permanenz echten menschlichen Lebens" als Leitfaden unseres verantwortungsbewussten Handelns. Was aber ist echtes menschliches Leben? Die Formen und Verhältnisse, in denen Menschen zumindest bislang gelebt haben, lassen keinen eindeutigen Schluss zu, dass es einen weltweiten Konsens darüber geben könnte, was diese Echtheit auszeichnen soll. Die dramatischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizin und Biotechnologie - denen ja Hans Jonas' Reflexionen galten - sorgen überdies dafür, dass uns diese Fragen in immer neuen Varianten gestellt werden. Sind Embryonen schon echtes menschliches Leben? Werden genetisch veränderte oder technisch optimierte Menschen noch echtes menschliches Leben sein? Oder gehört der unbändige Forschungsdrang, mit dem Ziel, die technische Kontrolle über Geburt und Tod und über die genetische, physische und psychische Ausstattung des Menschen zu erlangen, nicht erst recht zur Echtheit menschlichen Lebens? Die Risiken, die wir zurzeit mit diesen Forschungen und ihren industriellen Anwendungen eingehen, sind beträchtlich. Ob und vor wem wir diese je zu verantworten haben werden, ist allerdings offen.
Verantwortung setzt Freiheit voraus
Wer die Macht scheut, soll also von Verantwortung nicht sprechen. Wer will, dass wir für das, was wir tun, auch verantwortlich gemacht werden können, muss die Macht haben, uns zu zwingen, Rede und Antwort zu stehen. Und umgekehrt gilt: Wenn wir wollen, dass jemand für das, was er tut, verantwortlich ist, müssen wir ihn zwingen können, uns Rede und Antwort zu stehen. Dort, wo wir den Anspruch haben, freie Wesen zu sein, sollten wir die Verantwortung für unser Tun nicht bei anderen suchen. Dort, wo es gilt, für andere Verantwortung zu übernehmen, sollte dies weder aus reiner Machtgier durch die einen noch aus reiner Bequemlichkeit durch die anderen geschehen; vor allem aber sollte man darauf achten, dass man sich beim Übernehmen von Verantwortung nicht übernimmt. Dort aber, wo mit großer Geste freiwillig Verantwortung für andere übernommen wird, sollten wir mehr als vorsichtig sein. Die Bevormundung des Menschen durch Instanzen, die suggerieren, nur sein Bestes zu wollen, indem sie ihm die Fähigkeit absprechen, selbst Entscheidungen zu treffen und für deren Folgen einzustehen, infantilisieren den Menschen nicht nur; sie beschneiden nicht nur seine Freiheit; sie nehmen ihm auch die Würde. Wer von Kindesbeinen an lernt, dass nie er selbst, sondern immer Andere für das eigene Verhalten verantwortlich gemacht werden können, bleibt nicht nur an diese Kindesbeine gefesselt. Er ist dann auch darauf angewiesen, dass für ihn die Verantwortung übernommen wird.
Verantwortung setzt Freiheit voraus. Und Freiheit impliziert immer auch ein Risiko. Auch das Risiko zur Selbstschädigung. Zur Selbstverantwortung gehört auch die Möglichkeit zu einem Handeln, das andere mitunter verantwortungslos finden können. Nur sollte man dann auch die Kraft und den Mut haben, dafür einzustehen - mit allen Konsequenzen. Genau um diese Form der Verantwortung ging es dort, wo früher einmal von Schuld und Sühne die Rede war.