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Schuldenlast und Wachstumssorgen

Zwar zieht in den USA das Wirtschaftswachstum langsam wieder an, doch der Arbeitsmarkt erholt sich bislang nicht. Und schon wächst die Angst vor der nächsten Krise - ausgelöst nicht mehr von privaten, sondern von öffentlichen Schulden.

Von Eva Bahner |
    Der Hafen von New Orleans gehört sicherlich nicht zu den größten in den USA, spielt aber eine bedeutende Rolle für die amerikanische Industrie. Gummi und Stahl aus China, Japan und auch Brasilien kommen hier im Süden der Vereinigten Staaten an, gelangen – auf dem Wasser oder auf der Schiene – in den Mittleren Westen und werden dort zu Reifen und Autoteilen verarbeitet.

    In einem normalen Jahr, erklärt Marketing-Chef Robert Landry, passiert ein Fünftel der 25 Millionen Tonnen Stahl, die die Amerikaner jährlich importieren, den Hafen von New Orleans. Stahl sei der Umsatzbringer, mache 40 Prozent der Erlöse des Hafens aus.

    Doch das vergangene Jahr war alles andere als normal. Die Rezession traf auch den Hafen mit voller Wucht, die Nachfrage nach Stahl brach ein, lediglich 1,5 Millionen Tonnen Stahl kamen hier an – zwei Drittel weniger als sonst.

    Seit Beginn dieses Jahres zögen die Stahlimporte wieder an, wenn auch nur leicht, sagt Landry, und auch Gummi und Holz würden wieder stärker nachgefragt. Sicher, der Ölteppich, den BP vor seinem Hafen im Golf von Mexico hinterlassen hat, bereitet auch Hafenmanager Landry Sorgen, aber insgesamt gehe es zum Glück wieder langsam aufwärts mit Amerikas Wirtschaft.

    Das Wachstum zieht wieder an, seit Mitte des vergangenen Jahres bereits. Vorbei ist die Rezession damit aber noch nicht. In den Vereinigten Staaten entscheidet darüber der Konjunkturausschuss des Nationalen Büros für Wirtschaftsforschung, und dieser hat das offizielle Ende der Rezession, die im Dezember 2007 begann, noch nicht verkündet. Die Datenlage sei zu unsicher, so die Begründung. Ein Beleg dafür, wie fragil der Aufschwung noch ist. Und dennoch zeigt sich Martha Starr, Wirtschaftsprofessorin an der American University in Washington D.C. zuversichtlich:

    "Wir sehen, dass sich die Industrie langsam erholt, dass Unternehmen wieder Leute einstellen, dass Verbraucher wieder anfangen zu konsumieren. Es gibt viele positive Signale, aber der Arbeitsmarkt ist noch immer ziemlich schwach und es wird eine Weile dauern, bis wir die Arbeitslosenrate wieder herunterbekommen."

    Anders als in Deutschland, wo viele Arbeitsplätze dank des Instruments der Kurzarbeit gerettet werden konnten, ist die Arbeitslosenrate in den USA in der Rezession auf knapp zehn Prozent hochgeschnellt – und verharrt dort seit Monaten.

    Starr: "Im amerikanischen Konjunkturzyklus ist es üblich, dass die Arbeitslosigkeit schnell ansteigt und langsam sinkt. Selbst mit einem komfortablen Aufschwung wird es wohl noch ein paar Jahre dauern, bis die Arbeitslosenrate wieder unter sechs Prozent fällt."
    Für die Amerikaner bedeutet das, mit der höchsten Arbeitslosigkeit seit 25 Jahren leben zu müssen. Noch immer sind 15 Millionen Menschen auf Jobsuche, die Stellen, die Monat für Monat geschaffen werden, reichen nicht aus.
    Auch Jeff Vogt vom größten amerikanischen Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO macht sich Sorgen, dass die knapp zehn Millionen Jobs, die während der Krise verloren gegangen sind, nicht so schnell wiederkommen. Ob sie überhaupt wiederkommen, ist fraglich, meint Wirtschaftsprofessorin Starr:

    "Viele Stellen, die in der Krise verschwunden sind, stammen von der Überhitzung auf dem Immobilienmarkt und im Finanzsektor. Einige sind also für immer verloren, Jobs im Handwerk, zum Beispiel im Transportwesen, Tätigkeiten, die mit dem Bau eines Eigenheims zu tun haben. Die Frage ist also, welche neuen Branchen sind in Sicht, und das ist immer die große Frage am Anfang eines Konjunkturzyklus."

    Grüne Technologien, Gesundheit – die Vorstellungen über neue innovative Wirtschaftszweige sind noch vage. Der Arbeitsmarkt ist in den USA zum Gradmesser der konjunkturellen Erholung geworden. Die Angst vor einem "Jobless Growth", einem Aufschwung ohne Arbeit, mit dem die Amerikaner bereits Anfang der 90er-Jahre Erfahrung gemacht haben, greift um sich. Und so werden die Forderungen nach weiteren staatlichen Stützungsmaßnahmen immer lauter:

    "Das Konjunkturpaket, das die Regierung Obama geschnürt hat, war viel zu klein; viele Wirtschaftswissenschaftler waren der Ansicht, es müsste doppelt so groß sein gemessen an der amerikanischen Wirtschaftsleistung. Außerdem basierte ein großer Teil auf Steuerersenkungen, die die Wirtschaft nicht wirklich ankurbeln. Wir brauchen etwas Ehrgeizigeres, und zwar sofort."

    Und in der Tat bekommen Arbeitnehmervertreter wie Jeff Vogt derzeit Unterstützung von Ökonomen wie Paul Krugman, Nobelpreisträger aus dem Jahr 2008, und anderen Keynesianern, die bereits die akademische Grundlage lieferten für das 800-Milliarden-Dollar-schwere Konjunkturprogramm, das US-Präsident Barrack Obama zu Beginn seiner Amtszeit auf den Weg brachte.

    Anders als in den europäischen Wohlfahrtsstaaten wird die hohe Arbeitslosigkeit in den USA nicht durch Sozialprogramme abgefedert, sie schlägt sich unmittelbar in der Verbraucherstimmung nieder - fatal für eine Wirtschaft, die, anders als die europäische, zu 70 Prozent von der Binnennachfrage abhängt, von der Kauflaune der Konsumenten also.

    Auch Krugmans Lehrer, der erfahrene Handelstheoretiker Jagdish Bhagwati, derzeit Professor an der Columbia University in New York, spricht sich für weitere Maßnahmen zur Konjunkturankurbelung aus – auch wenn diese an Grenzen stoßen: Die USA sind hoch verschuldet.

    Bhagwati: "Die Amerikaner haben ein Schuldenproblem wie alle, aber sie haben es auch geerbt von der Regierung Bush. Und auch wenn die Vereinigten Staaten nicht so angreifbar sind wie andere Staaten, es ist natürlich keine einfache Situation. Aber dennoch müssen wir noch mehr Geld ausgeben, sonst gehen wir den Bach runter. Wir müssen die Binnennachfrage wiederbeleben auf keynesianische Art. Wir sind uns schon bewusst darüber, dass das in Zukunft neue Probleme mit sich bringen wird. Aber wir haben keine Wahl, wir müssen es jetzt tun. Um den Rest kümmern wir uns dann später."

    Eine Meinung, die in den USA für Kontroversen sorgt. Zunächst waren es die Rettungsgelder für die großen Banken und Autobauer, die den Zorn rechtskonservativer Amerikaner schürten. Nun ist es neben der Gesundheitsreform auch die laxe Haushaltspolitik des US-Präsidenten, die einer breiten Protestbewegung in den USA neue Nahrung gibt:

    Sarah Palin, ehemalige Vize-Präsidenschaftskandidatin der Republikaner, ist das populäre Aushängeschild der rechtskonservativen Tea-Party-Bewegung, die im Wahljahr 2010 die Stimmung gegen die Demokraten im Kongress und die Regierung Obama anheizt. Eine lose Bewegung, die immer mehr Zulauf bekommt, von frustrierten Arbeitslosen ebenso wie von Mitgliedern der weißen Mittelschicht – vereint in einem ausgeprägten Misstrauen gegenüber dem Staat. Das nötige ideologische Unterfutter bei Wirtschaftsthemen liefert unter anderen die Lobby-Organisation Freedom Works. Ihr Chef Matt Kibbe:
    "Das Defizit ist wie ein Hemmschuh für die Wirtschaft, eine Belastung für den Haushalt, die die Furcht schürt vor Steuererhöhungen, und eine Belastung für den Dollar. Der Dollar wird an Wert verlieren im Zuge der Krisenbewältigung, und das schadet der Produktivität in diesem Land und es hemmt die Investitionsbereitschaft."

    Noch ist auf den Dollar Verlass, durch die Schuldenkrise in Europa gewinnt er sogar an Stärke gegenüber dem Euro. Doch auch in den USA könnte sich die Lage zuspitzen. Die amerikanische Staatsverschuldung summiert sich mittlerweile auf 13 Billionen Dollar, macht somit schon heute 90 Prozent der amerikanischen Wirtschaftsleistung aus, zum Vergleich: In Griechenland sind es 115 Prozent.

    Und in den USA wird die Staatsverschuldung voraussichtlich weiter steigen, jährlich um eine Billion Dollar. Die Prognose für 2019: 18,4 Billionen Dollar. In einigen US-Bundesstaaten, allen voran Kalifornien, aber auch Illinois oder New York ist die Haushaltslage mehr als angespannt.

    Nouriel Roubini, der in Istanbul geborene New Yorker Ökonom, der als einer der Ersten das Platzen der Immobilienblase vorhersagte und seitdem den Ruf des Untergangspropheten genießt, sieht bereits die zweite Welle der Finanzkrise, die nun nicht mehr von privaten, sondern von öffentlichen Schulden ausgelöst wurde. Er warnt vor einem sogenannten "Double-Dip", einem erneuten Rückfall in die Rezession, in Europa aber auch in den USA, wenn die Regierungen ihre Defizite auf lange Sicht nicht in den Griff bekommen:

    "Kurzfristig brauchen wir noch immer eine expansive Fiskalpolitik, weil sich die private Nachfrage noch immer nur zögerlich erholt. Aber wenn Sie mit Obamas Wirtschaftsexperten reden, Larry Summers oder Tim Geithner, oder auch mit FED-Chef Ben Bernanke, dann glaubt niemand in Amerika, dass wir ein Billionen Defizit vor uns herschieben können in den nächsten zehn Jahren, ohne dass irgendetwas passiert. Die Anleihewächter werden aufwachen – auch in den USA wie bereits in der Eurozone."

    Noch richtet sich das Augenmerk der Ratingagenturen auf die Sorgenkinder der Eurozone, noch flüchten sich Investoren in den Dollar, der gerade in Krisenzeiten vom Ruf einer harten Reservewährung profitiert. Doch das könnte sich ändern: Wenn die US-Regierung auch mittel- bis langfristig vor harten Einschnitten zurückschreckt, Sparmaßnahmen weiterhin auf die lange Bank schiebt, und das Wirtschaftswachstum nicht ausreicht, um den enormen Schuldenberg abzutragen:

    "Wenn alle Welt beobachtet, wie sich die US-Regierung immer weiter verschuldet, ohne Einnahmen zu haben, um die Schulden zu begleichen, dann wird man davon ausgehen, dass irgendwann die amerikanische Notenbank einspringt – mit einer laxen Geldpolitik und Inflationsraten, die einen Teil des Schuldenbergs schmelzen lassen. Dies würde die Inflationserwartungen steigen lassen, und auch die Zinsen und letztlich das Wachstum ausbremsen."

    Raghuram Rajan hat lange vor dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers vor den Exzessen auf den Finanzmärkten gewarnt, 2005 als Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds bei einem Empfang zu Ehren von Alan Greenspan, dem früheren FED-Chef.

    Heute ist der gebürtige Inder als Professor an der University of Chicago einer der renommiertesten Finanzexperten und noch immer beschäftigt ihn die Rolle der amerikanischen Zentralbank in der Krisenbewältigung. Seit Ende 2008 setzt die FED auf expansive Geldpolitik und hält die Zinsen nahe Null und vorerst macht sie auch keine Anstalten, die überschüssige Liquidität wieder einzusammeln:

    "Wenn man die Zinsen ewig ganz unten hält, möchte jeder natürlich zusätzlich Gewinne abschöpfen, und das befördert die Risikobereitschaft der Marktteilnehmer und die Bildung neuer Blasen. Und das wird wieder in Tränen enden. Ich mache mir Sorgen, dass die Geldpolitik zu lange zu lax bleibt."

    Mindestens bis Ende des Jahres, so die Erwartung der Finanzmärkte, wird die US-Notenbank die Zinszügel weiter schleifen lassen, zu blutarm ist der Aufschwung, zu angespannt der Arbeitsmarkt. Hinzu kommt: Auch die arbeitende amerikanische Bevölkerung hat aus der Schuldenkrise gelernt und das Sparen entdeckt. Vor der Krise lag die Sparquote der US-Bürger bei einem Prozent. Der "American way of life" basierte hauptsächlich auf Pump. Heute ist Vernunft eingekehrt. Die Sparquote ist gestiegen – allerdings: zulasten des inländischen Konsums.

    Nicht zuletzt deshalb konzentriert sich die Regierung in Washington nun verstärkt auf Absatzmärkte im Ausland, hat eine aggressive Exportstrategie entwickelt: Innerhalb der kommenden fünf Jahre sollen sich die Ausfuhren verdoppeln, so die Devise aus dem Weißen Haus, zwei Millionen Jobs sollen dadurch entstehen – weniger Importe, mehr Exporte – so soll auch das hohe Leistungsbilanzdefizit der USA endlich abgebaut– die globalen Ungleichgewichte reduziert werden. Durchaus nachvollziehbar für Professorin Martha Starr:

    "Der amerikanische Verbraucher war in den letzten Jahrzehnten der Wachstumsmotor für die Weltwirtschaft. Und das hat zu einer Anhäufung von privaten Schulden geführt und die Sparquoten schrumpfen lassen. Und wir müssen hier eine Umkehr sehen, das Konsumverhalten der Verbraucher muss sich ändern, vorsichtiger werden. Und außerdem haben wir die Babyboomer-Generation, die auch langsam an ihre Altersvorsorge denken sollte."

    Abnehmer aus dem Ausland, vorzugsweise aus großen Ländern mit Exportüberschüssen, im Klartext China, Japan aber auch Deutschland, sollen nun also nach der Vorstellung der Amerikaner für den nötigen Ausgleich sorgen, wenn der US-Bürger in Zukunft den Gürtel enger schnallt.

    Der politische Druck auf China zeigt erste Wirkung, Pekings Signale vom Wochenende deuten in Richtung einer Aufwertung des Yuan. Damit ließen sich amerikanische Handelsinteressen im Wachstumsmarkt China besser durchsetzen, globale Ungleichgewichte abbauen - eine lang gehegte Forderung Washingtons. Aber auch die Europäer sind im Blickfeld der US-Handelsstrategen: Ein Viertel der amerikanischen Exporte geht schon jetzt nach Europa. Da erweist sich die Schuldenkrise in der Eurozone als ungünstig – und vor allem der rigide Sparkurs, der daraus folgt.

    Und so wirft Präsident Obama sein ganzes Gewicht in die Waagschale vor dem Treffen der G20 Ende der Woche in Toronto. In einem Brief redet er den Staats- und Regierungschefs ins Gewissen, warnt vor Übertreibungen beim Abbau der Schulden in Europa. Es gelte, die Konsumenten bei Laune zu halten, so sein eindringlicher Appell! Obama geht damit auf Konfrontationskurs zur Bundesregierung und erntet Kopfschütteln in Berlin. Die Binnennachfrage ankurbeln, wo die Schuldenberge die Europäische Gemeinschaft ohnehin schon vor eine Zerreißprobe stellen? Ein Erklärungsversuch von US-Ökonom Roubini:

    "Es ist eine Quadratur des Kreises, aber man kann sie hinbekommen, indem man die kurzfristigen Erfordernisse mit den mittelfristigen kombiniert. Wir Amerikaner schlagen vor, dass wenn viele Länder sparen müssen - Spanien, Portugal, Griechenland, Italien, Irland -, dann sind die Länder, die größeren Spielraum haben, wie China oder auch Deutschland, aufgefordert, mit ihrer Binnennachfrage zum globalen Wachstum beizutragen."

    Die Forderung ist nicht ganz neu, bereits in Zeiten des akuten Krisenmanagements wurde der deutschen Regierung vorgeworfen, ein zu kleines Konjunkturpaket geschnürt zu haben. Bei der verzweifelten Suche der Amerikaner nach Wachstumsimpulsen wird dieser Vorwurf nun wieder laut.

    Das zeigt die Unterschiedlichkeit der Rezepte. Die Europäer setzen mehrheitlich auf Abbau ihrer Schuldenberge, die USA glauben, aus ihren Schulden gleichsam herauswachsen zu können, nach dem Motto: Höheres Wachstum lässt die Steuereinnahmen wieder sprudeln. Ihre Philosophie: Die Wirtschaft muss brummen, alles andere wird sich später schon fügen.

    Für die Amerikaner stehe die Problemlösung im Vordergrund, gleich, ob sie nun den Regeln des Kapitalismus entspreche oder denen des Sozialismus, erklärt Handelstheoretiker Jagdish Baghwati. Amerikaner seien eben keine Schachspieler, die stets versuchten ihre Strategie zu optimieren.
    Arbeitssuchende stehen in einer Schlange vor dem Eingang zu einer Jobmesse in New York.
    Arbeitssuchende in New York (AP)