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Schuldfrage im Fall Sami A.
"Politik und Behörden werden unter Generalverdacht gestellt"

Dass Politik und Behörden im Fall Sami A. die Justiz getäuscht hätten, sei eine Pauschalisierung, sagte CDU-Politiker Wolfgang Bosbach im Dlf. "Ich schlage vor, wir konzentrieren uns auf den Fall, der hier streitgegenständlich ist." Er hoffe, dass NRW's Integrationsminister Joachim Stamp die Vorwürfe ausräumen werde.

Wolfgang Bosbach im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach beim politischen Aschermittwoch
    CDU-Politiker Wolfgang Bosbach forderte im Dlf, "sich nüchtern die Sach- und Rechtslage zu betrachten und von pauschalen Vorwürfen Abstand zu nehmen" (dpa / picture alliance / Marijan Murat)
    Martin Zagatta: Seine Abschiebung war unrechtmäßig, und Sami A., der mutmaßliche Leibwächter von Osama bin Laden muss zurückgeholt werden aus Tunesien. So hat es gestern das Oberverwaltungsgericht in Münster entschieden, und Nordrhein-Westfalens oberste Richterin verbindet das jetzt mit heftigen Vorwürfen. Sinngemäß - die Politik habe versucht, die Justiz zu täuschen, und sie sei bis an den Rand des Rechtsstaats dabei gegangen.
    Die Justiz sieht den Rechtsstaat in Gefahr, der Innenminister verweist auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung, das man auch nicht aus dem Auge verlieren dürfe, und der zuständige Integrationsminister lässt jetzt mitteilen, er sei ratlos nach dieser Gerichtsentscheidung. Zu den Politikern, die selten ratlos sind, gehört Wolfgang Bosbach. Er war lange Jahre für die CDU im Bundestag und hat sich vor allem als Innenpolitiker einen Namen gemacht. Guten Tag, Herr Bosbach!
    Wolfgang Bosbach: Guten Tag, Herr Zagatta.
    Politik und Behörden würden unter Generalverdacht gestellt
    Zagatta: Herr Bosbach, Sami A. muss zurückgeholt werden, und Nordrhein-Westfalens oberste Richterin erhebt jetzt schwere Vorwürfe gegen die Politik und rät ihren Kollegen sogar, sich nicht mehr auf Zusagen der Behörden zu verlassen. Haben Sie so etwas schon einmal erlebt, oder sind Sie da auch ratlos?
    Bosbach: Nein, das habe ich in dieser Schärfe und vor allen Dingen in dieser Pauschalität noch nicht erlebt. Wer denn ist in Anführungszeichen die Politik? Wer sind in Anführungszeichen die Behörden? Hier wird die gesamte Politik in Deutschland, hier werden alle Behörden unter den Generalverdacht gestellt, dass sie bereit und in der Lage seien, Gerichte zu täuschen, damit gerichtliche Entscheidungen leer laufen. Es handelt sich um eine Auseinandersetzung mit der Stadt Bochum, mit dem Integrationsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, und ich hoffe, dass es Herrn Stamp gelingt, die auch jetzt seitens des Gerichts erhobenen Vorwürfe auszuräumen. Es wird ja immer so getan, als sei die Rückführung von Sami A. erfolgt in Kenntnis der ablehnenden Entscheidung des Gerichts. Das wäre in der Tat kritikwürdig. Aber die Abschiebung ist wohl erfolgt, jedenfalls der Flug war schon in der Luft, als die gerichtliche Entscheidung erst bekannt gegeben wurde.
    "Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sich freuen, dass Sami A. nach Deutschland zurückkommt"
    Zagatta: Aber da fühlt sich ja jetzt offenbar die Justiz getäuscht. Wenn das stimmt, was das Oberverwaltungsgericht Münster behauptet, es soll eine Anweisung aus dem Ministerium gegeben haben, den Abschiebetermin nicht zu nennen. Wenn das stimmt, dann ist das doch ein Riesenskandal?
    Bosbach: Na ja, gut, also ich gehöre nicht zu denjenigen, die sich freuen, dass Sami A. jetzt wieder nach Deutschland zurückkommt. Ich wäre auch mit Skandal vorsichtig.
    Zagatta: Niemand wohl.
    Bosbach: Ja, gut, dahinter mache ich auch mal ein Fragezeichen. Es ist ja auch egal. Das Ganze erinnert mich noch sehr stark an Manfred Kanther und die sieben Sudanesen. Ich gebe sofort zu, da muss man schon so steinalt sein wie ich, um sich daran noch erinnern zu können. Wer sich dafür interessiert, kann ja mal googeln. Das muss Mitte der 90er-Jahre gewesen sein. Riesenaufregung, überhaupt kein Vorwurf, der dem Bundesinnenminister damals nicht gemacht werden musste, und am Ende haben die Grünen, damalige Opposition, kleinlaut eine aktuelle Stunde abgesagt.
    Ich kann verstehen, dass das Land Nordrhein-Westfalen allergrößtes Interesse daran hatte, Sami A. loszuwerden. Er hat ja kein Aufenthaltsrecht in Deutschland, er ist ja ausreisepflichtig. Die Frage ist, gab es ein Abschiebehindernis, ja oder nein. Drohte/droht ihm bei Rückführung in Tunesien Folter, ja oder nein. Darüber wurde gestritten. Und die Zusicherung Tunesiens, dass keine Folter droht, hat dem Gericht offensichtlich nicht gereicht. Das muss man dann in einem Rechtsstaat akzeptieren, respektieren. Aber mit den Vorwürfen, die jetzt gegenüber Herrn Stamp erhoben werden, hat dieser Aspekt des Rechtsstreits nichts zu tun.
    Zagatta: Ist das dann unverantwortlich, was die oberste Richterin Nordrhein-Westfalens, das ist ja nicht irgendwer, da geäußert hat?
    Bosbach: Die Pauschalität stört mich. Wir sagen doch sonst und aus guten Gründen "Bitte keinen Generalverdacht". Jetzt wird ein Generalverdacht ausgesprochen über die Politik, über die Behörden, die alle bereit und in der Lage seien, Gerichte zu täuschen mit dem Ziel, dass gerichtliche Entscheidungen leer laufen, ausgehebelt werden. Ich schlage vor, wir konzentrieren uns auf den Fall, der hier streitgegenständlich ist und verzichten auf pauschale Urteile. Das gilt übrigens für Politik, für Behörden und für die Justiz gleichermaßen.
    Zagatta: Aber ist das nicht eine ganz bedenkliche Entwicklung, wenn die Justiz in Deutschland oder in Nordrhein-Westfalen, wenn die Justiz und die Politik sich solche Scharmützel liefern?
    Bosbach: Ja, selbstverständlich. Deswegen plädiere ich ja auch dafür, mal einen Gang zurückzuschalten, sich nüchtern die Sach- und Rechtslage zu betrachten und von pauschalen Vorwürfen Abstand zu nehmen. Die Behörden täuschen – dann kann man doch sagen, wir fühlen uns getäuscht von der Behörde in dem Fall. Das ist doch etwas ganz anderes, als wenn man einen Generalverdacht über die öffentliche Verwaltung und die Politik äußert.
    "Die Juristerei ist nicht unbedingt Mathematik"
    Zagatta: Auf der anderen Seite äußert der Innenminister Reul, Ihr Parteifreund, gewissermaßen Unverständnis. Er sagt, die Richter müssten bei so einer Entscheidung immer auch das Rechtsempfinden der Bevölkerung im Blick haben. Ist das denn so? Kann das Rechtsempfinden bei Gerichtsentscheidungen eine Rolle spielen?
    Bosbach: Das kann eine Rolle spielen. Man wird sicherlich auch überlegen, welche Auswirkungen eine gerichtliche Entscheidung hat. Allerdings haben sich die Gerichte zu orientieren an Recht und Gesetz, insbesondere an der Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen. Aber allein die Tatsache, dass es ja immer mehrere Instanzen gibt – in der Verwaltungsgerichtsbarkeit gibt es ja drei Instanzen –, dass es die Möglichkeit der Berufung und der Revision gibt, allein diese Möglichkeiten zeigen ja, dass die Juristerei nicht unbedingt Mathematik ist, dass es nie nur eine richtige Lösung geben kann, sondern dass auch Gerichte in gleichen oder gleich gelagerten Fällen durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können. Ansonsten wird natürlich und aus guten Gründen jedes Gericht sagen, wir haben uns nicht am Rechtsempfinden der Bevölkerung zu orientieren, sondern nur an Recht und Gesetz und der einschlägigen Rechtsprechung in diesen Fällen.
    Zagatta: In diesem Fall sind aber die Gerichte einhellig zu der Entscheidung gekommen, dass das rechtens war, wie geurteilt wurde. Sollte dann ein Innenminister so etwas nicht respektieren? Ist das dann in Ordnung, wenn man das wieder in Frage stellt, indem man sagt, na ja, gut, mit dem Rechtsempfinden stimmt das nicht überein.
    Bosbach: Wenn der Innenminister Herbert Reul darauf hinweist, dass der weit überwiegende Teil der Bevölkerung kein Verständnis hat, dann hat er einfach recht. Das ist eine schlichte Tatsachenfeststellung. Glauben Sie mir, ich bin von morgens bis abends unterwegs, ich habe bis zur Stunde noch keinen getroffen hat, der gesagt hat, da bin ich aber heilfroh, dass das OVG Münster so entschieden hat.
    Zagatta: Aber daran können sich ja die Gerichte nicht ausrichten.
    Bosbach: Hab ich ja gerade gesagt.
    Aufenthaltsrecht und Durchsetzung der Ausreisepflicht auseinanderhalten
    Zagatta: Was ist denn, wenn das Rechtsempfinden so weit auseinanderklafft mit einem Gerichtsurteil, da wird ja jetzt auch drauf verwiesen, Straftäter können bleiben, auf diese Vergewaltigung jetzt in Hamburg, oder Piraten, die ein deutsches Schiff überfallen mit Waffengewalt, die können dann auch anschließend in Deutschland bleiben und werden vom Staat auch noch unterstützt. Was ist denn, wenn das so weit auseinanderklafft? Müssen da Gesetze geändert werden, oder welche Möglichkeiten haben wir dann?
    Bosbach: Wir müssen vor allen Dingen zwei Sachverhalte auseinanderhalten: Das Aufenthaltsrecht und die Durchsetzung der Ausreisepflicht. Die Personen haben ja alle in der Regel kein Recht zum Aufenthalt in Deutschland. Da stellt sich nur die Frage, ob die Ausreisepflicht durchgesetzt werden kann oder ob es Hindernisse gibt, die der Gesetzgeber nicht beseitigen kann. Erster Fall: Es droht im Heimatland Folter oder Todesstrafe. Dann schieben wir nicht ab wegen menschenrechtswidriger Behandlung. Ich kann mich noch gut an einen Fall erinnern, rechtskräftig zum Tode verurteilt. Ich glaube, es war ein ägyptischer Gefährder, der anschließend nach England weitergereist ist. Er konnte nicht abgeschoben werden, obwohl er als Gefährder galt, obwohl er rechtskräftig verurteilt war, weil ihm bei Rückführung die Todesstrafe droht. Interessant ist ja auch, dass in diesen Stunden viele sagen, es ist doch völlig klar, dass unabhängige Gerichte das letzte Wort haben müssen und dass die Entscheidungen der Gerichte respektiert werden müssen. Aber das gilt in Deutschland wohl nur für die Fälle, die zugunsten abgelehnter Asylbewerber entschieden werden. Wenn das Gericht die behördliche Entscheidung der Abschiebung hält, dann haben wir ganz andere Fallkonstellationen. Dann gibt es sogenannte Aktivisten, die die Abschiebung verhindern wollen. Dann gibt es Piloten, die sich weigern, die Ausreisepflichtigen in ihr Heimatland zurückzubringen. Dann gibt es das Kirchenasyl, wo die Kirchen sagen, kann sein, dass die Gerichte so entschieden haben, wir sehen den Fall anders. Dann haben wir eine ganz andere Debatte als in den Fällen, wo zugunsten des Ausreisepflichtigen entschieden wird.
    "Die Dinge klar beim Namen zu nennen"
    Zagatta: Herr Bosbach, zeigt diese Diskussion, die wir jetzt führen, vielleicht nicht doch, dass die Union da ein Problem mit dem Rechtsstaat hat? Jetzt ist von Rechtsempfinden die Rede, Innenminister Seehofer hat von der Herrschaft des Unrechts gesprochen. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts sieht sich sogar veranlasst, die CSU zu warnen, nicht mit roher Sprache zu übertreiben, also Stichworte Asyltourismus, Anti-Abschiebeindustrie – liegt da nicht was im Argen?
    Bosbach: Wissen Sie, ich plädiere, solange ich politisch aktiv bin, und das ist seit 46 Jahren, plädiere ich für Klarheit in der Sache, Klarheit in der Sprache, aber immer ruhig und sachlich. Und es ist schon schwierig, die politische Debatte so zu führen, dass es keine Kritik gibt. Es kommt in Deutschland sehr darauf an, wer etwas sagt. Jetzt wird Sören Link, der Oberbürgermeister von Duisburg kritisiert. Angeblich hat er sich rassistisch geäußert. Keiner behauptet, dass er etwas sachlich Falsches gesagt hat, aber er wird in diese Ecke gestellt. Das ist nicht mein Parteifreund, und ich habe überhaupt keinen Grund, den zu verteidigen. Aber es muss doch noch möglich sein, die Dinge klar beim Namen zu nennen. Und wenn dann der Präsident des Bundesverfassungsgerichts sagt, Achtung, dieser oder jener Ausdruck, der gefällt mir aber gar nicht, dann hat das nichts mit Rechtsprechung oder der Würdigung der Rechtslage zu tun, sondern dann ist das seine persönliche Einschätzung. Ich persönlich verwende diese Vokabeln aus guten Gründen auch nicht. Aber wir dürfen auch nicht so weit kommen, dass die Dinge nicht mehr klar ausgesprochen werden, weil jeder Angst hat, dass er in die rassistische oder rechte Ecke gestellt wird.
    "Wir haben im Zusammenhang mit Migration erhebliche Probleme"
    Zagatta: Dinge klar anzusprechen oder auszusprechen, das beansprucht ja vor allem im Moment die AfD für sich. Die sagt jetzt beispielsweise, wenn Osama bin Laden noch leben würde, dann würden wir den auch in Deutschland aufnehmen und nicht abschieben. Kommt diese ganze Diskussion, die wir jetzt erleben, diese Debatte, kommt die nicht gerade der AfD unglaublich zugute?
    Bosbach: Wissen Sie, was der AfD zugute kommt? Probleme nicht lösen, Probleme nicht ansprechen, Probleme ignorieren in der Erwartung, wenn wir nicht drüber reden, fällt es den Leuten gar nicht auf, dass wir die Probleme haben. Ignorieren und tabuisieren, das hilft den Parteien am linken und rechten politischen Rand. Je eher man offenkundige Probleme löst – und Herr Zagatta, wir haben im Zusammenhang mit Migration erhebliche Probleme, auch Sicherheitsprobleme. Und wenn die Menschen das Gefühl bekommen, die etablierten Parteien verschließen vor den Problemen die Augen oder sie sehen es zwar, sie tun aber nichts dagegen, dann bekommen die Extremisten von links und rechts Zulauf.
    Rechtsempfinden der Bevölkerung weiche von Rechtssprechung ab
    Zagatta: Wird das nicht gerade mit dem Begriff "Rechtsempfinden", ist das nicht damit genau gemeint, das Problem?
    Bosbach: Mit Rechtsempfinden ist Folgendes gemeint: Die Urteile werden gesprochen im Namen des Volkes. Und wenn ein großer Teil der Bevölkerung – ich kann jetzt nicht sagen, ob 87 oder 86 Prozent, aber ein großer Teil der Bevölkerung sagt oder denkt, bitte nicht in meinem Namen, ich sehe das völlig anders, und der Innenminister sagt, das ist doch mal interessant zu beobachten, inwieweit die Rechtsprechung in diesem Fall Sami A. und das Rechtsempfinden der Bevölkerung auseinanderklaffen, dann käme ich nie auf den Gedanken, Herbert Reul daraus einen Vorwurf zu machen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.